Deutschlands Kampf gegen Dissens

Wer sich in Deutschland für Palästina einsetzt, weiß: Die Polizei ist niemals weit. By Montecruz Foto, CC BY-SA 3.0.

Seit dem 7. Oktober 2023 erlebt Deutschland eine ungekannte Welle staatlicher Repression gegen die Palästina-solidarische Bewegung. Demonstrationsverbote, Polizeigewalt und Gesinnungsprüfungen haben ein Klima der Angst geschaffen mit dem Ziel, die israelische Politik vor jeglicher Kritik zu immunisieren. Wieland Hoban, Vorsitzender der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, zeichnet nach, wie der deutsche Staat unter dem Deckmantel der „Antisemitismusbekämpfung“ Grundrechte und Freiheiten aushöhlt – und warum die Palästina-Solidarität als Testfeld für Repression auf anderen Feldern dient.

Zwei Tatsachen scheinen sich zu widersprechen: Was in Gaza geschieht, fing nicht am 7. Oktober 2023 an, aber jener Tag hat doch alles verändert. Die genozidale Steigerung der Unterdrückung und Gewalt gegen die Palästinenser:innen hat zwar alles übertroffen, was bisher geschehen war; es war aber gleichzeitig eine Fortführung der Bestrebungen, die 1948 zur Nakba geführt haben. Es war und ist der Versuch, die ethnische Säuberung Palästinas ein für alle Mal abzuschließen.

Eine ähnliche Kontinuität ist bei der Repression, die die Palästina-Bewegung seitdem in Deutschland erlebt, zu beobachten. Es gab auch vor Oktober 2023 Demonstrationsverbote, etwa im Mai 2022 und 2023 in Berlin anlässlich des Nakba-Gedenktags. Es gab Polizeiverfügungen, in denen „emotionalisierte“ Menschen arabischer Herkunft als Gefahr für die öffentliche Ordnung bezeichnet wurden. Und es gab Ansätze, bestimmte Parolen zu verbieten.

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Doch nach dem 7. Oktober hat sich all das in einem ungeahnten Ausmaß gesteigert. Inzwischen kann es jederzeit Demonstrationsverbote, Parolenverbote, Redeverbote oder Polizeigewalt geben. Die Auflagen, die früher als reine Formsache vor der Demo vorgelesen wurden, spielen heute eine zentrale Rolle für das Verhalten der Demonstrierenden, da auch legale Parolen von den jeweiligen Auflagen der Versammlungsbehörden ausgeschlossen werden können, wenn die Stadt das so will. Ein Auflagenverstoß kann schnell zur Auflösung der Versammlung führen, was zusätzlich ein Anlass für Polizeigewalt sein kann (besonders in Berlin).

Es könnten hier unzählige Fälle von juristischen Schikanen, absurden Strafanzeigen, Ausladungen oder Kündigungen aufgelistet werden. Ich möchte mich aber auf wenige Fälle und Aspekte beschränken, weil sie die Strukturen des staatlichen Vorgehens verdeutlichen.

Angst als Herrschaftsinstrument

Verunsicherung ist eine zentrale Waffe bei politischer Repression. Ob man in einer aktivistischen Situation direkte Konsequenzen erlebt oder nicht, ist Verunsicherung eine lähmende, demotivierende Kraft. Was darf ich sagen? Was für Schilder darf ich halten? Welches T-Shirt tragen? Je öfter und stärker man sich solche Fragen stellen muss, desto weniger handlungsfähig ist man. Ich erinnere mich noch sehr genau an das Gefühl in den ersten Tagen und Wochen nach dem 7. Oktober, dass man nun auf jedes Wort und jede Handlung achten musste. Manche Redner:innen auf Kundgebungen hatten Angst davor, ihre Beiträge ohne eine Verurteilung der Hamas zu beginnen. Als unser Vorstandsmitglied Iris Hefets am 15. Oktober zum ersten Mal wegen ihres Schilds mit der Aufschrift „Als Jüdin und Israelin: Stoppt den Genozid in Gaza“ am Hermannplatz in Berlin festgenommen wurde, wurde ihr anschließend dann doch erlaubt, ihren Protest als Einzelperson fortzuführen, solange daraus keine Versammlung wurde. Als ich zu ihr hinging, um mit ihr zu sprechen, wurde ich davor gewarnt, da es sich ab zwei Personen um eine Versammlung handeln und die Polizei alles auflösen würde. Ich hielt also Abstand. Kurz danach sah ich einen jungen Mann, der eine große Palästinaflagge hielt. Eine Gruppe von Polizisten ging auf ihn zu und forderte ihn auf, die Flagge wegzutun. Er weigerte sich, woraufhin sie sich auf ihn stürzten, ihn zu Boden schmissen, ihm die Fahne entrissen und ihn in Handschellen abführten. Er hatte gegen kein Gesetz verstoßen.

In jenen Tagen änderten sich die Verbote fast täglich. In Hamburg gab es ein wochenlanges Pauschalverbot für Demonstrationen mit Palästina-Bezug, das immer wieder verlängert wurde. In Berlin galten mal Fahnen als verboten, mal sogar die Kufiya; ein Schuljunge wurde für das Tragen nach Hause geschickt, und als am nächsten Tag einige Eltern vor der Schule protestierten, wurde sie von der Polizei brutal angegangen. Demos wurden angemeldet und kurzfristig verboten; manchmal erschienen die Demonstrierenden trotzdem, und dann ist die Polizei eingeschritten. Die Videos ihrer Gewalttaten häuften sich allmählich, und es wurde klar, dass jeder Mensch auf einer solchen Versammlung zum Ziel werden konnte.

Die Eskalation der Polizeigewalt war zwar neu, das Phänomen der Polizeigewalt natürlich nicht. Was neu und besorgniserregend war, war der Umgang mit dem Gesetz und überhaupt mit dem Prinzip des Gesetzes. Da die wechselnden Vorgaben der Behörden kaum von realen Gesetzen untermauert waren, wussten Polizist:innen oft selber nicht, inwiefern ihr Handeln gesetzlich gedeckt war; sie befolgten einfach die Anweisungen, die sie an einem gegebenen Tag bekommen hatten. Insofern waren Diskussionen mit ihnen meistens fruchtlos, da juristische Argumentation mit dem Machtwort beendet wurde, dass etwas einfach verboten sei und ein bestimmtes Verhalten zur Festnahme führen würde.

Je mehr sich diese Fälle in ganz Deutschland häuften, desto stärker wurde das Gefühl, dass das Konzept des Gesetzes als allgemein verbindliches Regelwerk außer Kraft gesetzt worden war und von den Behörden nach Belieben umdefiniert werden konnte. Der Genozid war voll im Gange und das Geschehen in der Solidaritätsbewegung war auf einem ungeahnten Niveau; es wurden in ganz Deutschland ständig neue Gruppen gegründet, ob an Universitäten oder aus palästinensischen Communities heraus. Um das harte Durchgreifen des Staats zu legitimieren, haben weite Teile der Presse und Politik Hetze betrieben, um die Repression zu rechtfertigen – und sogar noch mehr zu fordern. Begriffe wie „Israelhasser“ oder „Hamas-Fan“ waren nicht nur in der Gossenpresse zu lesen, sondern auch im bürgerlichen Mainstream. Selbst die vermeintlich linke taz, besonders ihr antideutscher Schreiberling Nicholas Potter, beteiligte sich an der Diffamierung der Bewegung und der Legitimierung des Genozids als „Selbstverteidigung“ gegen „Terror“. Auch vernünftige Artikel von Autor:innen wie Daniel Bax oder Pauline Jäckels konnten nichts daran ändern, dass sich die taz für Genozidpropaganda hergegeben hatte.

Zur neuen Normalität

Nachdem sich das Prinzip der Aufweichung gesetzlicher Klarheit etabliert hatte, kamen auch Forderungen dazu, tatsächliche Gesetze zu verschärfen und nicht nur bestimmte Handlungen punktuell zu verbieten, sondern auch Organisationen. So wurden die Hamas und Samidoun (ein Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene mit Sitz in Kanada) im November 2023 verboten. Die Stimmung gegen Samidoun hatte sich hochgeschaukelt, nachdem Mitglieder in der Berliner Sonnenallee anlässlich des Angriffs vom 7. Oktober Süßigkeiten verteilt hatten; insofern war dies eher eine populistische Maßnahme als eine politisch begründete.

Da die Hamas nur in Palästina wirklich als Organisation tätig ist, schien auch dieses Verbot skurril. Bald stellte sich aber heraus, welche Funktion ein solches Verbot haben kann: Alles, was als Kennzeichen einer verbotenen Organisation gilt, ist somit auch verboten. Während die bekannte, oft skandalisierte Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ zunächst mit Verweis auf Artikel §130 des StGB als Volksverhetzung verfolgt wurde, hatte das Umschwenken auf die Strategie, sie als Kennzeichen der Hamas – obwohl es den Slogan lange vor der Gründung der Hamas gab und er von allen palästinensischen Fraktionen verwendet wurde – zu behandeln und nach §86a (Verbot der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) zu verbieten, etwas mehr Erfolg. Es ist aber immer noch der Fall, dass bei den ganzen unbegründeten Anzeigen aufgrund von Parolen, Posts in den sozialen Medien und dergleichen ein geringer Anteil überhaupt vor Gericht landet, da sie sehr oft von der Staatsanwaltschaft für nichtig befunden werden. Allerdings blieben die bisherigen Versuche, das Verbot des Vereins Palästina-Solidarität Duisburg vom Mai 2024 zu kippen, leider erfolglos. Und im Januar 2025 gab es in Frankfurt Razzien bei ehemaligen Mitgliedern des bereits aufgelösten Palästina-Vereins sowie die kafkaeske Ankündigung, ein nachträgliches Vereinsverbot anzustreben.

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Die Propaganda, die sowohl für den Vernichtungsfeldzug in Gaza als auch für die Dämonisierung der Palästina-Bewegung eingesetzt wurde, gipfelte im Vorfeld des Palästina-Kongresses, der in Berlin im April 2024 stattfand – zumindest kurz, bevor er von der Polizei gewaltsam abgebrochen und verboten wurde. Ich habe anderswo beschrieben, was für schrille Töne vorher in der Politik und in den Medien angeschlagen wurden, und wie wenig das unverschämte und offensichtlich illegale Verhalten der Polizei kritisiert wurde. Dass der britisch-palästinensische Arzt Ghassan Abu Sittah mit einem Einreise- und Betätigungsverbot belegt wurde, wurde im Nachhinein für rechtswidrig befunden. Aber wen hat es noch interessiert? Ein weiterer Fall für die Liste. Eine nachträgliche Genugtuung, aber ein schwacher Trost, schließlich konnten die damaligen Handlungen der vermeintlichen Gesetzeshüter nicht verhindert werden.

„Kampf gegen Antisemitismus“ als politische Waffe

Ich könnte noch Hunderte von Beispielen für juristische und polizeiliche Schikanen gegen Aktivist:innen anführen, möchte aber jetzt auf eine staatliche Strategie eingehen, die den Weg für ein noch höheres Maß an Repression ebnet. Das Thema der „Antisemitismusbekämpfung“ wird seit vielen Jahren instrumentalisiert, um Meinungen zu unterdrücken und zu bestrafen, die von der offiziellen staatlichen Israelpolitik – der „deutschen Staatsräson“ – abweichen. Es gibt seit 2018 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus und inzwischen ähnliche Positionen in allen Bundesländern sowie an zahlreichen Universitäten, in Teilen des Polizeiapparats und in weiteren institutionellen Kontexten. Obwohl es Ausnahmen gibt, verfolgen diese Personen eine klare proisraelische Linie und waren zum Teil schon in der Israel-Lobby aktiv, etwa der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG). Eines der eklatantesten Beispiele dafür ist der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker, der sogar Präsident der DIG war und seit Jahren versucht, jede größere Palästina-Veranstaltung – sei es eine Demo oder ein Kulturfest – verbieten zu lassen. Erstaunlicherweise beugt sich die Stadt Frankfurt am Main oft seinen Forderungen, was nach Anfechtung durch Aktivist:innen immer wieder zu Niederlagen vor dem Verwaltungsgericht führt, welches die Stadt für ihr antidemokratisches Verhalten inzwischen mehrmals gerügt hat. Der bekannteste Fall ereignete sich bei der Großdemonstration United4Gaza im August 2025, die aufgrund der Größe (25.000 Menschen) und bundesweiten Mobilisierung mehr Aufmerksamkeit bekam als die üblichen Frankfurter Geschehnisse.

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Über solche Possen hinaus gibt es aber bedrohliche Anzeichen, dass der Staat das Thema Antisemitismus noch heftiger als zuvor nutzen will, um bürgerliche Freiheiten einzuschränken. Die im November 2024 beschlossene Bundestagsresolution „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ kündigte dieses Ziel offen an. Der 7. Oktober 2023 wird bereits auf der ersten Seite prominent erwähnt, nach einigen Zeilen über den Holocaust, als sei er die zentrale Quelle des Antisemitismus: „Seit dem grausamen Terror-Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sehen wir in Deutschland Judenhass und israelbezogenen Antisemitismus auf einem seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Niveau.“ Die Täter werden gleich benannt: „In den vergangenen Monaten ist nicht zuletzt das erschreckende Ausmaß eines Antisemitismus deutlich geworden, der auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens basiert, in denen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit, auch aufgrund islamistischer und antiisraelischer staatlicher Indoktrination, verbreitet sind.“ Da es sich also vor allem um ein Problem in migrantischen Milieus handeln soll, gilt die Notwendigkeit,  „Gesetzeslücken zu schließen und repressive Möglichkeiten konsequent auszuschöpfen“ besonders „im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht“. Mit anderen Worten: Wer nach Deutschland einwandern will, darf nicht die falsche Meinung zu Israel haben – auch nicht Menschen aus Gaza, deren Familien von ebendiesem Staat ausgelöscht wurden. Die möglichen Folgen für die staatliche Abschiebepolitik haben offenes Entzücken bei der AfD hervorgerufen. Bemerkenswert ist auch die positiv besetzte Verwendung des Wortes „repressiv“.

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Andere Maßnahmen werden aber egalitär umgesetzt: „Der Staat wird haushälterische Regelungen erarbeiten, die sicherstellen sollen, dass keine Projekte und Vorhaben insbesondere mit antisemitischen Zielen und Inhalten gefördert werden.“ Es ist nicht überraschend, dass hier auch auf die BDS-Resolution von 2019 bezuggenommen wird, die den Entzug jeglicher staatlichen Förderung für Einrichtungen oder Veranstaltungen mit BDS-Bezug – im weitesten Sinne – sowie das Verwehren von Räumlichkeiten forderte. Die Erfahrungen seitdem haben gezeigt, dass auch bloße Resolutionen, „Meinungsäußerungen des Bundestags“ ohne jegliche Gesetzeskraft, zu de-facto-Gesetzen werden, wenn sie im Geiste deutschen Gehorsams in der Praxis umgesetzt werden. Auch hier gibt es zu viele Fälle, um sie an dieser Stelle aufzulisten; in einem Land, wo die Kulturszene von staatlicher Finanzierung abhängig ist, kann die Angst vor dem Entzug von Fördermitteln oder vor beruflichen Konsequenzen sehr viel bewirken. Das umfasst nicht nur konkrete Entscheidungen, sondern führt auch zu einem Klima der Selbstzensur und Unsicherheit. Die Fälle von Ausladungen, Absagen, Kündigungen usw. sind seit dem 7. Oktober exponentiell gestiegen, und der überproportional hohe Anteil jüdischer Betroffener verdeutlicht, wie wenig es hier um eine Bekämpfung von Antisemitismus geht. Im Gegenteil: Die Gleichsetzung von Identität und Wohl jüdischer Menschen und den Interessen Israels (und somit auch Deutschlands) ist an sich schon antisemitisch.

Eine weitere, im Februar 2025 beschlossene Antisemitismusresolution, in der es speziell um Schulen und Hochschulen geht („Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern“), enthält auch zutiefst beunruhigende Stellen. Obwohl der allgemeine Tonfall etwas sachlicher, bürokratischer und unaufgeregter ist als bei der vorigen Resolution, werden scharfe Maßnahmen gefordert, etwa „die konsequente Anwendung des Hausrechts, der temporäre Ausschluss vom Unterricht oder Studium bis hin zur ggf. Exmatrikulation in besonders schweren Fällen.“ Es soll aber keine interne Angelegenheit bleiben: „Der [sic] Austausch zwischen Hochschulen und Sicherheitsbehörden gilt es in Intensität und Regelmäßigkeit auszubauen.“ Später kommt erneut die Forderung, „bei Bedrohungslage einen engen Austausch mit den Sicherheitsbehörden zu etablieren“. Mit anderen Worten: In letzter Konsequenz sollen Lehrkräfte zu Spitzeln werden, die ihre Schüler:innen und Studierenden bei der Polizei oder beim Verfassungsschutz denunzieren, falls sie sich „antisemitisch“ äußern. Trotz der Lippenbekenntnisse zur Wissenschaftsfreiheit würde eine Umsetzung dieser Resolution zu massiver Zensur und Einschränkung führen.

Da eine Resolution kein Gesetz ist, muss sie nicht verfassungskonform sein und kann nicht gekippt werden; es kann nur gegen einzelne Maßnahmen geklagt werden. Gerade darin liegt ihre perfide Wirksamkeit. Es gibt auch andere politische Maßnahmen, die ohne konkrete Verbote zu starker Repression führen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz veröffentlicht einen jährlichen Bericht, in dem Organisationen aus verschiedenen Bereichen aufgelistet werden, die als Bedrohung für die sogenannte freiheitlich-demokratische Grundordnung gelten. Nach dem „Verdachtsfall“ und dem „Prüffall“ kommt die Einstufung als „gesichert extremistisch“. Seit Juni 2025, als der Bericht für 2024 erschien, gelten die Jüdische Stimme, Palästina Spricht und BDS als gesichert extremistisch.

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Das gibt den Sicherheitsbehörden zusätzliche Beobachtungsbefugnisse bis hin zum Einsatz von Informant:innen und Kommunikationsüberwachung. Der Witz an der Sache: Die ganzen Praktiken, die mit so einer Einstufung offiziell abgesegnet werden, werden ohnehin seit langem eingesetzt – und bei weitem nicht nur im Falle einer solchen Einstufung. Es gab schon Polizeirazzien um 6 Uhr morgens wegen Instagram-Posts oder Flyern, und auf Informant:innen musste schon immer geachtet werden. Die Einstufung stellt zwar kein Verbot politischer Betätigung dar, aber neben möglichen beruflichen Konsequenzen für Beamt:innen und Nachteile bei Einbürgerungsanträgen – sofern die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation nachgewiesen werden kann – stellt sie eine klare Stigmatisierung dar. Auch wenn Raumabsagen für Palästina-Veranstaltungen sehr verbreitet sind und es ohnehin Druck und Beschwerden auf Einrichtungen gibt, wo sie stattfinden sollen, haben solche Anfeindungen größere Erfolgsaussichten, wenn Vertreter:innen einer als extremistisch eingestuften Organisation beteiligt sind. Wo vorher zunächst andere überzeugt werden mussten, dass ein bestimmter Gast ausgeladen werden sollte, kann jetzt schlicht darauf verwiesen werden, dass die Person Teil einer offiziell extremistischen Organisation ist. Während private Veranstalter:innen sich vergleichsweise frei entscheiden können, werden staatliche Institutionen wie Universitäten die Finger davon lassen.

Dass Deutschland seit zwei Jahren Mittäter im Gaza-Genozid ist, ist der größte Skandal – und die Tatsache, dass rund 80 Prozent der Bevölkerung dagegen ist, stellt unsere Demokratie grundsätzlich in Frage. Aber auch das zunehmend autoritäre Verhalten des Staates, um diese verbrecherische Politik durchzusetzen, sollte uns alle besorgen – und zwar weit über die Palästina-Bewegung hinaus. Wenn solche Maßnahmen, wie ich sie hier beschrieben habe, auf einem Gebiet erfolgen können, werden sie auch anderswo eingesetzt; der Umgang mit den radikaleren Teilen der Klimabewegung hat dies schon gezeigt. Und in einer Zeit, in der die rechtsextreme AfD in manchen Umfragen die immer rechtere CDU bereits überholt, muss es allen klar sein, dass diese Repressionsinstrumente irgendwann in die Hände von Faschisten geraten könnten. Es ist zu spät, den Anfängen zu wehren – aber wehren müssen wir uns.

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