Buchrezension: Kein Land in Sicht? – Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg

Johannes Zang hat mit „Kein Land in Sicht? – Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg“ ein wichtiges – und bedrückendes – Buch geschrieben. Erschienen bei Papyrossa im August 2024, wurde „Kein Land in Sicht“ am 240. Kriegstag beendet. Es ist das einzige deutschsprachige Buch von links, das eine objektive Sicht auf Palästina – Israel bietet, seit Oktober 2023.

Kaum zu ertragen war das Schweigen und Wegducken der großen Mehrheit der deutschen Linken in den vergangenen 15 Monaten. Unerträglich war die Veröffentlichung von „Nach dem 7. Oktober – Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen“, von Tania Martini und Klaus Bittermann (Hrsg.), Berlin 2024. Hier rückt die ganze Palette pro-israelischer Rechtfertigungen und anti-palästinensischer Diffamierungen an, die ich auf Die Freiheitsliebe / etosmedia.de vorgestellt habe („Gezwungen, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht“).

In „Nach dem 7. Oktober“ ist auch der Artikel „Wir, die Linken? Nicht mehr!“ von Eva Illouz enthalten. Paradigmatisch hat die französisch-israelische Starsoziologin Ende Oktober 2023 alle Zusammenhänge geleugnet: „Die „Es gibt einen Kontext“-Strategie ist einfach nur bequem, weil sie die Möglichkeit außer Acht lässt, dass Narrative voneinander unabhängig sein könnten.“ Verstehen wird bei ihr zur gegnerischen „Strategie“, und so kommt sie zum gewünschten Ergebnis: „Ich teile diese Auffassung von Kontext also nicht (…) weil ich mich weigere, das Leiden der Palästinenser am Verlust ihres Landes zu kontextualisieren. Wenn ich ihre Tragödie voll erfassen will, muss ich den Kontext ausblenden.“

Dieses verrückte und bösartige Leugnen der Wirklichkeit gibt es bei Johannes Zang nicht.

Johannes Zang, selbst christlich engagiert, spricht arabisch und hebräisch und ist seit Mitte der achtziger Jahre immer wieder in Palästina – Israel. Er kennt dort sehr viele Menschen und war an Hilfsaktionen wie etwa Familienzusammenführungen beteiligt. Sein fundiertes Wissen bietet er in Bildungsreisen, auf Vorträgen, als Journalist und online an.

„In meinen circa 30 Gaza-Besuchen bin ich meist als Tourist oder Begleiter von Menschen in humanitärer Mission eingereist. Meine zwei einzigen Versuche als Journalist waren nicht erfolgreich. 2009 beantragte ich einen Presseausweis beim israelischen Regierungspressebüro und legte ein Empfehlungsschreiben der Aachener Nachrichten bei. Drei Wochen hielt ich mich in in Israel und dem Westjordanland auf – und das Amt mich hin. Während dieser Zeit rief mich eine GPO-Mitarbeiterin an, um Fragen wie diese zu stellen: Erscheinen die Aachener Nachrichten nur in Aachen oder auch in der Region? Welche Auflage hat die Zeitung? Worüber wollen Sie aus Gaza berichten? (Das stand im Anschreiben) Unverrichteter Gaza-Reise kehrte ich nach Deutschland zurück. Jahre später erlebte ich Ähnliches, obwohl ich mehr investiert hatte: Ich war, um die Chancen zu erhöhen, einem deutschen Journalistenverband beigetreten und hatte vor meiner Abreise nach Tel Aviv alle relevanten persönlichen Daten der israelischen Botschaft in Berlin zugesandt. Die versprach, dem GOP in Jerusalem meinen Besuch zu „avisieren“. Doch öffnete weder dies noch das Begleitschreiben der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) , für die ich über die Christen in Gaza hätte berichten sollen, die Tür nach Gaza. Bis zu meiner Rückreise nach Deutschland telefonierte ich fast an jedem der zwölf Tage meines Aufenthalts im Heiligen Land mit Herrn Pearlman oder Frau Aizenman vom Pressebüro. Jedes Mal hieß es, man müsse meinen „Fall noch prüfen“ oder ich solle mich „noch ein paar Tage gedulden“.

In über 100 Artikeln schildert der Autor Geschichte und Gegenwart des Gazastreifens. Alle Beiträge seines Buches sind maximal zwei Seiten lang und ähneln Zeitungsartikeln, allerdings mit Quellenangaben. Gute Lesbarkeit wird ergänzt durch ein ausführliches, kommentiertes Literaturverzeichnis, durch Filmhinweise und eine Zeittafel.

Dabei benennt er im ersten Teil des Buches, in den Kapiteln 1 (Von der frühesten Zeit bis 1967), 2 (Die israelische Militärbesatzung 1967 bis heute) 3 (Die Blockade bzw. die Verschärfung der Blockade) und 5 (Vom widerständigen Alltag in Gaza), die vielen großen politischen Fragen, und auch, was die Besatzung wirklich für die Menschen bedeutet.

Es geht um die UNRWA, die Nakba, die Auswanderung, die sogenannte Administrativhaft, den Landraub durch den Mauerbau, die drei Apartheidsberichte 2021/2022, die Ausfuhr- und Einfuhrbeschränkungen, den durch die Blockade verursachten Verfall der technischen und sozialen Infrastruktur, den „Great march of return“ 2018.

Exemplarisch soll hier aus dem Beitrag zum rechtlichen Status von Gaza zitiert werden: „Israelische Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem, Gisha oder HaMoked haben seither wiederholt betont, dass Israel weiterhin Verantwortung für die Bevölkerung des Gazastreifen trage. Im Januar 2007 publizierte Gisha mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung den 101-seitigen Bericht „Disengaged Occupiers: The Legal Status of Gaza“ (Abgezogene Besatzer: Der juristische Status von Gaza). Darin erläutert die in Tel Aviv ansässige Organisation die sechsfache Kontrolle: Demnach kontrolliert Israel a) Bewegungen von Menschen und Waren über den Landweg aus und nach Gaza, b) gänzlich Gazas Luftraum und Küstengewässer, c) das Reisen innerhalb des Gazastreifens durch regelmäßige Invasionen und No-Go-Zonen, d) das palästinensische Bevölkerungsregister (vergleichbar mit Standes- und Einwohnermeldeamt, J. Z.), e) Gazas Steuersystem und „Fiskalpolitik“, f) die Palästinensische Autonomiebehörde und damit deren Fähigkeit, Einwohnern Gazas Dienstleistungen bereit zu stellen. (…)
Im Sommer 2023 (…) liefert Gisha eine aktuelle Analyse. Darin heißt es: „Viele Israelis glauben, dass Israel mit der Umsetzung des Abzugsplans 2005 die Last Gaza losgeworden ist und fortan keinen Einfluss, geschweige denn Verantwortung für das hat, was im Gazastreifen passiert.“ Gisha führt Beispiele israelischer Kontrolle an, auch dieses: „Israel bestimmt, welche in Gaza hergestellten Waren außerhalb des Gazastreifens verkauft werden dürfen, wie viel davon, wann und wo.“ Gishas Fazit: Das sei „kein Abzug“, sondern „remote control“ – Kontrolle per Fernbedienung.“

Das gesamte Leben der Menschen in Gaza ist abhängig von Aufenthaltsgenehmigungen, von der Beantragung zur Ein- und Ausreise, von Passierscheinen. Die Unterdrückung wird greifbar. „Obwohl die Oslo-Abkommen den Gazastreifen und das Westjordanland als „eine teritorriale Einheit“ definieren, hat Israels Politik die beiden Gebiete fast komplett voneinander getrennt. Von Israel ausgestellte Pasierscheine (arab. tasrih) sind fast so selten wie wie ein Sechser im Lotto. Die Folge: Menschen, die im jeweils anderen Gebiet Verwandte haben, haben Hochzeiten und Beerdigungen verpasst und Neugeborene nur beim Video-Anruf gesehen. Dabei steht fest: Jeder vierte Einwohner Gazas hat Verwandte im Westjordanland, 15 Prozent haben welche in Ostjerusalem oder in Israel.“ (…)

„In Rafah geboren, zog [Ibrahim Musa] 1990 wegen einer Arbeitsstelle an der Universität Bir Zeit nach Ramallah. Ein Jahr später holte er seine Frau aus Gaza nach. Als 2004 seine Mutter verstarb, legte er dem Passierscheinantrag den Totenschein bei. Musa: „Der Antrag wurde ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Deshalb konnte ich nicht zum Begräbnis meiner Mutter reisen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen.“ Die Trennung von Verwandten und Freunden im Gazastreifen macht ihm sehr zu schaffen. „Ich fühle mich wie unter Hausarrest. Das schmerzt mich und macht mich bitter.““

Den zweiten Teil des Buches bildet das 4. Kapitel „Die Hamas“. Um die entscheidende Organisation in Gaza zu verstehen, schildert Zang die Geschichte seit der Gründung 1987 durch die Muslimbruderschaft zu Beginn der ersten Intifada, und er zitiert eine Einschätzung der berüchtigten Charta von 1988. Die Wahlen in Gaza 2006 werden ausführlich analysiert und der sich anschließende kurze Bürgerkrieg 2007 zwischen Fatah und Hamas. Es wird deutlich, dass die Konfrontation zwischen der Hamas und Israel (und dem Westen) seit 2005 nicht unerheblich durch israelische Politik verschuldet ist. Die Finanzierung der Hamas und Elemente einer Gewaltherrschaft werden auch thematisiert.

2008 hat der Autor ein Interview mit dem kritischen Journalisten Daniel Rubinstein geführt: „Den israelischen Palästinakenner Danny Rubinstein (Jg. 1937) konfrontierte ich mit dieser These israelischer Hilfestellung bei der Geburt der Hamas. Als er Ende der 1960er Jahre als Journalist anfing, „waren überall in der Welt marxistische Organisationen der Feind.“ Der Journalist führt die RAF an, „die den Palästinensern geholfen hat, das Flugzeug nach Uganda zu entführen“ (1976). Er nannte den Anschlag der japanischen Roten Armee auf den Flughafen Tel Aviv (1972, 26 Tote), bevor er endlich die Frage aller Fragen beantwortete. „Es gab eine Art Zusammenarbeit zwischen Israel und den Frommen, den islamischen Organisationen. Sie waren vereint im antimarxistischen Block. Vor diesem Hintergrund unterstützte Israel, nein, das ist das falsche Wort, es ebnete der islamischen Bewegung den Weg. Vor dem Dilemma Islam oder Marxismus entschied sich Israel für den Islam.““

Johannes Zangs Anspruch ist es, in diesem Kapitel „einige Verständnisfacetten“ über die Hamas beizusteuern.

Der dritte Teil mit den Kapiteln 6 (Der 7. Oktober 2023) und 7 (Der Krieg seit dem 7. Oktober 2023 und seine Folgen) machen ungefähr ein Drittel des Buches aus. Viele Ereignisse der ersten 8 Monate finden sich hier, und so kann ein erster Überblick über das dichte und vielschichtige Geschehen gewonnen werden. Viele talking points, die in den Diskussionen der deutschen Öffentlichkeit fehlen, können nachgelesen werden. Dazu zählt natürlich auch die zentrale Frage, ob es sich beim Vorgehen der israelischen Armee um einen Genozid handelt oder nicht. Allerdings: am Redaktionsschluss des Buches am 2. Juni 2024 war der 240. Tag des Gazakrieges, jetzt sind über 450 Tag vergangen seit dem 7. Oktober! Da die Auseinandersetzung unvermindert anhält, täglich neue Ereignisse und Prozesse die gesamte Region erschüttern und verändern, kann die Geschichte des Gazakrieges natürlich noch nicht geschrieben werden.

Den Artikel „Was denken Israelis außerhalb der Regierung über den „Tag danach“? möchte ich um wichtige Perspektiven ergänzen. Zang greift drei Vorschläge auf, die alle die Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel haben, basierend auf der „Genfer Initiative“ von 2002. Hier fehlen neuere Zugänge, die seit 20 Jahren zunehmend diskutiert werden und sich um die Ausgestaltung eines gemeinsamen Staates von Israelis und Palästinensern drehen (vgl. Tesfai, Johannes: Zwei in eins?; in: ak 710). Angestoßen vom Historiker Tony Judt, wird die Ein-Staaten-Lösung von der „Holy Land Confederation“ und ganz prominent von Ohmri Boehm mit dem Konzept „Republik Haifa“ vertreten. Auch die think tanks „A land for all“ und das US-amerikanische „j street“ favorisieren die Ein-Staaten-Lösung, um endlich Frieden in Palästina – Israel zu erreichen.

Johannes Zang ist ein vertrauenswürdiger Berichterstatter, der selbst betont: „Dieses Buch kann und will nicht auf jeden Aspekt des Massakers, Krieges oder israelisch-palästinensischen Konflikts eingehen.“

Natürlich werden die Lesenden nicht bei allen 100 + Artikeln zustimmen, und durch die Fülle an Informationen ist das Buch etwas ungeordnet. Für die Beschäftigung mit Gaza -Israel – Palästina ist es unerlässlich.
Denn Palästina – Israel von links zu betrachten heißt, die wirkliche Ungleichheit zu sehen.

Ein Beitrag von Sebastian Schröder, Diplom-Soziologe

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