Zwischen Besatzung und Bürokratie: Palästinensische Schutzsuchende in Deutschland

Während die Welt den anhaltenden Genozid in Gaza beklagt, begegnet Deutschland palästinensischen Schutzsuchenden mit juristischer Unentschlossenheit und administrativer Kälte. Obwohl der Internationale Gerichtshof die israelische Besatzung als völkerrechtswidrig eingestuft hat, vermeidet es die Bundesregierung, daraus Konsequenzen für das Asylrecht zu ziehen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) legt Verfahren auf Eis, ignoriert die Rechtslage und zwingt Betroffene, ihren Anspruch auf Schutz vor Gericht zu erstreiten.

Der Text der Asylrechtsanwältin Rana Issazadeh zeichnet nach, wie historische Verantwortung, internationale Rechtsprechung und nationale Verwaltungspraxis in einem Spannungsverhältnis stehen und was das für Palästinenser:innen in Deutschland bedeutet.

In Deutschland lebt die größte palästinensische Community Europas. Die erste größere Gruppe der Palästinenser:innen ist in den 1960ern im Wege der Bildungs- und Arbeitsmigration in die Bundesrepublik eingereist. Die zweite größere Gruppe palästinensischer Einwanderung umfasst Menschen mit palästinensischen Wurzeln, die im Zuge des libanesischen Bürgerkrieges in den 1980er Jahren in die Bundesrepublik eingereist sind; im Gegensatz zu der Migration der 1960er handelt es sich bei dieser Gruppe vorwiegend um Fluchtmigration.

Was beide Gruppen verbindet ist: Es sind Menschen, die mehrfache Vertreibungs- und Fluchterfahrungen in ihrer Familienbiografie haben. Im Vergleich zu der Fluchtmigration der 1980er sind in den vergangenen zwei Jahren des israelischen Militäreinsatzes, der von der überwiegenden Mehrheit der juristischen Fachwelt als Genozid im juristischen Sinne eingestuft wird, relativ wenige Menschen aus Gaza ausgereist.
Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion die Linken vom 21.03.2025 gab die Bundesregierung an, dass seit Beginn des Jahres 2024 bis einschließlich Februar 2025 etwas mehr als 700 Palästinenser:innen aus Gaza und aus den palästinensischen Gebieten Asylanträge gestellt haben.

Der rechtliche Status des Gazastreifens

Für Asylanträge ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuständig. Das BAMF ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums. Interessant ist, dass das BAMF im Rahmen seiner Asylentscheidungen den völkerrechtlichen Status des Gazastreifens nicht einordnet. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) stellte in seinem Rechtsgutachten vom 19.07.2024 fest, dass
auch der Gazastreifen als besetzt im völkerrechtlichen Sinne gelte und dass die Besatzung palästinensischer Gebiete insgesamt illegal sei. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, Israel verstoße mit der Besatzung nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht, sondern auch gegen das Gewaltverbot und gegen Art. 3 der Rassen-
diskriminierungskonvention. Eine eindeutige Positionierung der Bundesregierung hierzu ist bis heute nicht erfolgt, obgleich diese Frage auch im Rahmen des internationalen Flüchtlingsrechts eine wichtige Rolle spielt.

Entstehungsgeschichte der UNRWA

Die Vereinten Nationen geben an, dass von den 2,4 Millionen Menschen, die im Oktober 2023 im Gazastreifen lebten, 1,7 Millionen Menschen als Flüchtlinge bei UNRWA registriert gewesen seien. Doch was ist UNRWA überhaupt und wie ist diese UN-Organisation entstanden?
Im Zuge der israelischen Staatsgründung begannen die paramilitärischen Gruppen Haganah und Irgun bereits im Jahr 1947, die indigene palästinensische Bevölkerung des Mandatsgebiets Palästina zu vertreiben. Mehr als 500 palästinensische Dörfer und 11 palästinensische Städte wurden zerstört und dem Erdboden gleichgemacht.
Mindestens die Hälfte der Bevölkerung – 750.000 Menschen – wurde während der Nakba 1947 und 1948 systematisch vertrieben. 250.000 der vertriebenen Palästinenser:innen flohen in den Gazastreifen.

Im Gazastreifen mussten 1948 acht Flüchtlingslager eingerichtet werden. Aufgrund der humanitären Krise gründeten die Vereinten Nationen am 1. Dezember 1948 eine Sonderorganisation ein, die „United Nations Relief for Palestine Refugees“, aus der später die UNRWA hervorging.
Am 11. Dezember 1948 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Resolution 194, die ein Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge „in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum“ garantiert. Als ein Jahr später die UNRWA durch eine Resolution der UN-Generalversammlung gegründet wurde, das praktische Hilfsprogramme
für palästinensische Flüchtlinge vorsah, gehörte Israel zu den führenden Staaten, die diese Resolution unterstützten. Die Gründung der UNRWA war für Israel positiv: Die palästinensischen Geflüchteten erhielten Unterstützung, auch wirtschaftlicher Natur, wodurch Israel sowohl moralisch als auch finanziell entlastet wurde.

Die Rechtslage und die Entscheidungspraxis des BAMF sowie der
Verwaltungsgerichte

Zwischen dem 09.01.2024 bis Juli 2025, also für einen Zeitraum von 18 Monaten, wurden Asylverfahren von Menschen aus dem Gazastreifen auf Eis gelegt. Das BAMF berief sich dabei auf § 24 Absatz 5 Asylgesetz. Demnach besteht die Möglichkeit, Entscheidungen auszusetzen, wenn eine „vorübergehend ungewisse Lage“
besteht.
Verwaltungsgerichte hatten allerdings bereits in der Vergangenheit klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Möglichkeit nicht missbraucht werden dürfe und unter Umständen rechtswidrig sein könnte: „Die Möglichkeit der Aussetzung der Entscheidung wegen vorübergehend ungewisser Lage im Herkunftsstaat dient nicht dazu, die Realisierung absehbar bestehender Anerkennungsansprüche zu verhindern.“, urteilte das Verwaltungsgericht Hannover.
Mehr als 200 Untätigkeitsklagen wurden gegen diese rechtswidrige Entscheidungspraxis des BAMF eingereicht; die Verwaltungsgerichte verpflichteten das BAMF in der Mehrzahl der Fälle, über die Asylanträge zu entscheiden. Es zeichnet sich bereits ab, dass in vielen Fällen der subsidiäre Schutz zuerkannt wird. Der subsidiäre Schutz wird zuerkannt, wenn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft zwar nicht vorliegen, für den Fall der Rückkehr in das Herkunftsland jedoch ein ernsthafter Schaden droht. Unter Zugrundelegung europa- und völkerrechtlicher Vorgaben muss allerdings folgendes beachtet werden:
Für Schutzsuchende mit UNRWA-Registrierung – also 1,7 Millionen Menschen von den insgesamt 2,4 Millionen Menschen aus Gaza – ist § 3 Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 Asylgesetz zu beachten. Demnach sind sie aufgrund des Status als UNRWA Flüchtlinge sowohl von der Flüchtlingseigenschaft als auch vom subsidiären Schutz ausgeschlossen.

Allerdings gibt es von diesem Ausschluss eine sehr wichtige Ausnahme:
Wenn es für die UN-Organisation UNRWA nicht mehr möglich ist, menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, wenn also der Schutz durch die Organisation faktisch nicht mehr besteht, ist Schutzsuchenden die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Absatz 3 Satz 2 Asylgesetz zuzuerkennen. Das BAMF müsste hierbei prüfen, ob bzgl. der antragstellenden Person eine UNRWA Registrierung vorliegt und ob der Schutz durch UNRWA weiterhin besteht oder nicht.
Aber auch bei Schutzsuchenden, die nicht bei UNRWA registriert sind, müsste geprüft werden, ob die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann. Im Juli diesen urteilte der französische Asylgerichtshof, dass die vom israelischen Militär angewandten kriegerischen Handlungen wegen ihrer Art schwerwiegend genug seien,
um eine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL darzustellen.
Diese Qualifikationsrichtlinie legt Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention fest. Abgestellt wurde auf die Zerstörung ziviler Infrastruktur, mehrfach erfolgte Vertreibungen sowie die Blockade von Hilfslieferungen.

Perspektiven

Die bisherige Entscheidungspraxis sowohl des BAMF als auch der deutschen Verwaltungsgerichte zeigt, dass Aufstockungsklagen erforderlich sind, um den erforderlichen Schutzstatus zu erlangen.

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