Zur Westsahara nichts Neues

Facing the Berm, by Michele Benericetti, Flickr, licensed under CC BY-ND 2.0.

Hat Deutschland wirklich eine Wende in der Marokko-Politik vollzogen, wie in der jüngsten Zeit behauptet wurde?

Die dunklen Wolken, die monatelang die Beziehungen zwischen Deutschland und Marokko verfinsterten, haben sich verzogen. Insbesondere marokkanische Medien feierten zu Jahresbeginn einen „Kurswechsel“ in der deutschen Politik. Angeblich sei Berlin unter der neuen Bundesregierung und der „grünen“ Außenministerin Annalena Baerbock umgeschwenkt und unterstütze nun den von Rabat propagierten Plan einer Autonomie der Westsahara. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) reiche Marokko die Hände, war zum Beispiel auf der Internetseite Yabiladi lesen. In einem Neujahrsgruß habe er König Mohammed VI. zum Staatsbesuch an die Spree eingeladen. Dazu habe er verlauten lassen, dass Deutschland den Autonomieplan als einen „ernsten und glaubwürdigen Ansatz Marokkos ansehe und als eine gute Grundlage für eine Lösung“ des Westsahara-Konflikts. Die marokkanische Botschafterin Zohour Alaoui werde wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Auch der neue deutsche Gesandte für Rabat habe seine Akkreditierung erhalten, hieß es zuletzt.

In Deutschland stimmte die Frankfurter Rundschau in den marokkanischen Jubel ein und meldete am 7. Januar: „Baerbock gelingt diplomatischer Coup – nahezu unbemerkt“. Dem entgegnete auf Twitter die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen: Der „Coup“ sei „nichts als Trump light“ und nütze nur „den Profiten der Konzerne (…). Ein solches Hofieren Marokkos provoziert den Ausverkauf völkerrechtlicher Prinzipien und der Rechte der Sahrauis auf Selbstbestimmung“. Ralf Streck schrieb im ND und auf Telepolis, Deutschland sei vor der „Erpressung“ aus Marokko „eingeknickt“, hatte doch das Königreich alle Kontakte auf Eis gelegt. Ähnlich sprach der Verein „Freiheit für die Westsahara“ am 15. Januar in einer Presseerklärung von einem deutschen „Kniefall“ vor Marokko. Dabei hätten die Grünen noch im April 2021 im Bundestag „gefordert, die völkerrechtswidrige Verwaltung der Westsahara durch Marokko nicht durch eine Annäherung an Marokko anzuerkennen“.

Diplomatischer Doppelsprech

So wichtig es ist, das deutsche Außenministerium wegen der Westsahara unter Druck zu setzen: Um welche „Annäherung“ handelt es sich? Kategorisch hatte Marokkos Außenminister Nasser Bourita Anfang Dezember von der neuen Bundesregierung „Klarheit“ und „gegenseitigen Respekt“ verlangt. Am 13. Dezember war darauf auf der Internetseite des Berliner Außenministeriums eine überarbeitete Erklärung zum Thema „Deutschland und Marokko: Bilaterale Beziehungen“ erschienen (nicht am 13. Januar, wie es auf Telepolis und im ND heißt). Darin wird das Königreich zunächst einmal als „wichtiger Partner“ und „Stabilitätsfaktor“ gelobt. Dann wird betont, dass die Haltung der Bundesregierung zur Westsahara-Frage „seit Jahrzehnten unverändert“ sei. Man stelle sich hinter die entsprechenden UN-Resolutionen und unterstütze den UN-Sondergesandten Staffan De Mistura, der im November sein Amt angetreten hatte, „bei seinem Streben nach einem gerechten, dauerhaften und für alle Seiten akzeptablen politischen Ergebnis auf Grundlage der Resolution des VN-Sicherheitsrats 2602 (2021).“ Dann folgt der Satz, der den Wirbel auslöste: „Marokko hat im Jahr 2007 mit einem Autonomie-Plan einen wichtigen Beitrag für eine solche Einigung eingebracht.“ Wörtlich genommen, ist hier keine Rede von einer Anerkennung oder Befürwortung des Autonomieplans. Das wurde hineininterpretiert, was auch immer der Bundespräsident, der keine Richtlinienkompetenz hat, später geschrieben haben soll.

Der Zusammenhang legte eine solche Ausdeutung jedoch nahe. Denn wenige Wochen zuvor war mit einem Protokoll des US State Departments Ähnliches geschehen. Auch seinen Inhalt hatten marokkanische Medien nicht korrekt wiedergegeben. Das Dokument hatte zwar festgehalten, dass Außenminister Antony Blinken und sein marokkanischer Amtskollege Nasser Bourita bei einem Treffen in Washington den berüchtigten „Trump-Deal“ von Dezember 2020 gewürdigt hätten. Aber darauf hieß es einschränkend, Blinken habe angemerkt, dass die USA den Autonomieplan als „ernsthaft, glaubwürdig und realistisch und als einen möglichen Ansatz ansehen, die Erwartungen der Bevölkerung der Westsahara zu erfüllen“. Einen „möglichen“, damit nicht den einzigen. Zum Beispiel auf der Internetseite Yabiladi aber wurde die Einschränkung übergangen und behauptet, die neue Regierung in Washington habe den Handel „Anerkennung der Westsahara-Besatzung“ gegen „Normalisierung mit Israel“ bestätigt.

Ob es beabsichtigt war und damit als „Annäherung“ zu werten wäre oder nicht: Der diplomatische Doppelsprech bot Marokko die Möglichkeit, sich an der Heimatfront als Sieger über Deutschland darzustellen. Das war bitter nötig, denn es mangelte im vergangenen Jahr an guten Nachrichten. Im März hatte der marokkanische Außenminister Nasser Bourita deutsche Einrichtungen und Vertretungen im Königreich gewissermaßen unter Kontaktsperre gestellt. Im Mai war Botschafterin Alaoui nach Rabat zurückgerufen worden. Als Begründung wurden Berlin „feindselige Akte“ vorgeworfen. Zu einer Libyen-Konferenz Anfang 2020 sei Marokko nicht eingeladen worden. Ende jenes Jahres hatte dann der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, Christoph Heusgen, eine Sitzung des Sicherheitsrats einberufen, nachdem Marokko im November den Waffenstillstand in der Westsahara gebrochen, die Befreiungsfront Polisario den bewaffneten Kampf wiederaufgenommen und US-Präsident Donald Trump einseitig Partei für Marokko ergriffen hatte. Demgegenüber betonte Heusgen die Notwendigkeit, den Westsahara-Konflikt gemäß UN-Beschlüssen und internationalem Recht zu lösen.

Überbordende Propaganda

Der marokkanische Journalist Ali Lmrabet wies auf der Seite Middle East Eye auch auf den Fall Mohammed Hajeb hin. Der Deutschmarokkaner war im „Krieg gegen den Terror“ an das Königreich ausgeliefert worden, um dort gefoltert zu werden. Als er freikam, kehrte Hajeb nach Deutschland zurück, wo er auf Schadenersatz klagt. In einem Videoblog geht er scharf mit der marokkanischen Monarchie ins Gericht und ruft zu ihrem Sturz auf. Marokko wollte erreichen, dass er zum Schweigen gebracht wird, aber ohne Erfolg. Im Sommer griff Mohammed VI. persönlich die Vorwürfe an Deutschland auf. Ohne Berlin beim Namen zu nennen, sprach er am Jahrestag der „Revolution von König und Volk“ von einer „Aggression“ alter Verbündeter, die Marokko schwächen wollten und seine territoriale Integrität missachteten, weil sie um Einfluss und Ressourcen fürchteten.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) nannte die marokkanischen Vorwürfe „nicht nachvollziehbar“, wie es in der FR heißt. Als Beleg für einen Plan Deutschlands, Marokko neu zu kolonisieren, diente ein Aufsatz des deutschen Regierungs-Thinktanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der im Herbst 2020 erschienen war. Darin hatte die Schweizer Autorin und Algerien-Liebhaberin (so angeblich sie selbst auf Twitter) Isabelle Werenfels behauptet, Marokko sei gegenwärtig das nordafrikanische Land mit der größten wirtschaftlichen Dynamik. Deutschland solle sich nicht allein auf das Königreich konzentrieren, sondern mit den Nachbarn gleichermaßen kooperieren, damit die Region nicht aus dem Gleichgewicht gerate. Die fragwürdige Analyse, dass Marokko gegenwärtig das ökonomische Zugpferd im Maghreb sei, wurde gern aufgegriffen. Allerdings wurde die Forderung nach Ausgewogenheit in den imperialistischen Vorsatz umgedeutet, das Königreich zu zerstückeln, um an Rohstoffe für den Bau von Elektroautos zu kommen. Besonderes Objekt der Begierde sei der Unterwasserberg Mount Tropic – der sich allerdings in internationalen Gewässern befindet, wenn er auch bereits von Spanien beansprucht wird.

Nicht nur von diplomatischem Boykott und Propaganda getroffen wurde Spanien, das Anfang 2021 Polisario-Generalsekretär Brahim Ghali eine Covidbehandlung gewährt hatte: In der Enklave Ceuta wurde ein veritables Geflüchtetendrama inszeniert, bei dem mehrere marokkanische Jugendliche ums Leben kamen. Rabat bewirkte die Entlassung von Außenministerin Arancha Sanchez. Auch hier titelten am Ende marokkanische Medien, dass Spanien Marokko plötzlich wieder „die Hand“ reiche – was man angesichts der desolaten Lage des Königreichs auch als rettenden Akt deuten könnte.

Haben also Spanien und Deutschland ihre Marokko-Politik wirklich geändert? Aus marokkanischer Sicht ja, war doch Deutschland als heimtückische Kolonialmacht dargestellt worden und Spanien sozusagen als Ausführungsgehilfe der imperialen Ambitionen von der Spree. Doch man sollte sich nicht von der Propaganda blenden lassen: Nach wie vor delegieren Berlin und Madrid die Lösung des Westsahara-Konflikts an die UNO, wo sie insbesondere von Frankreich blockiert wird, während sie zum Beispiel mit Blick auf die mehrfach vom Europäischen Gerichtshof gekippten Handels- und Fischereiverträge zwischen Brüssel und Rabat mehr oder weniger offen mit Marokko zusammenarbeiten und die Besatzung zementieren, die ohne dies längst zusammengebrochen wäre. Die Baerbock-Erklärung bestätigt nur mit neuer Verve diese eindeutig-uneindeutige Haltung. Der Skandal ist nicht, dass Deutschland – und das gilt auch für Spanien und die USA – eine neue Marokko-Politik verfolgt, sondern dass es die alte fortführt.

Quellen und weiterführende Links

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/marokko-node/bilaterale-beziehungen/224064
https://www.aa.com.tr/fr/afrique/maroc-notre-relation-avec-lallemagne-doit-se-baser-sur-la-clart%C3%A9-et-la-r%C3%A9ciprocit%C3%A9-/2438775
https://www.dw.com/de/deutschland-bewegt-sich-diplomatisch-auf-marokko-zu/a-60133416?utm_source=headtopics&utm_medium=news&utm_campaign=2021-12-16
https://headtopics.com/de/deutschland-bewegt-sich-diplomatisch-auf-marokko-zu-dw-15-12-2021-22882452
https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2020A83_maghreb_subsahara-afrika.pdf
https://www.dw.com/de/marokko-wissenschafts-kritik-als-druckmittel/a-59037432
https://www.nau.ch/politik/international/entspannung-in-diplomatischer-krise-zwischen-marokko-und-deutschland-66072723
https://www.yabiladi.com/articles/details/123534/maroc-allemagne-l-ambassadrice-retour-berlin-message.html
https://www.yabiladi.com/articles/details/122953/allemagne-dans-message-mohammed-president.html?demo=2147483647
https://www.rtbf.be/article/diplomatie-le-roi-du-maroc-invite-en-allemagne-pour-sceller-un-nouveau-partenariat-10909481
https://www.fr.de/politik/annalena-baerbock-aussenministerin-gruene-marokko-deutschland-diplomatie-beziehung-news-91219846.html#Echobox=1641470657
https://www.facebook.com/FreieWestsahara/
https://www.leconomiste.com/flash-infos/revolution-du-roi-et-du-peuple-l-integralite-du-discours-du-roi-mohammed-vi
https://www.state.gov/secretary-blinkens-meeting-with-moroccan-foreign-minister-bourita/

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Zahlungsmethode auswählen
Persönliche Informationen

Spendensumme: 3,00€

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel

Die Zukunft muss der Demokratie gehören.

Mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat sich der globale Rechtstrend bestätigt. Nun stehen wir in Deutschland vor einer ähnlichen Herausforderung. Die Neuwahlen begünstigten die Konservativen und Rechten in diesem Land, ihre derzeitigen Mobilisierungen drohen sich in Wählerstimmen zu übersetzen. Dann aber hätten wir ein von Friedrich Merz regiertes Land, dessen spalterische Hetze und Blackrock-Politik die ganzen sozialen, ökologischen und militärischen Miseren deutlich verschlimmern würden.