Überlegenheit und Siegfähigkeit – Die „Multi-Domain“-Doktrin hinter den neuen US-Raketen

The first long-range hypersonic weapon system of the U.S. Army (photo by: Spc. Chandler Coats / U.S. Department of Defense)

Die geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland stellt weit mehr dar als nur die Einführung neuer Waffensysteme mit größerer Reichweite. Sie ist Teil einer umfassenden strategischen Neuausrichtung der US-Armee, die darauf abzielt, durch modernste Technologien Positions- und Fähigkeitsvorteile zu gewinnen, um in der Frühphase eines Krieges schnell die Oberhand zu gewinnen. Denn: „Jetzt und in Zukunft sind die ersten Schlachten entscheidend für den Ausgang von militärischen Feldzügen.“ (Army Multi-Domain Transformation, Ready to Win in Competition and Conflict, Chief of Staff Paper #1 unclassified).

Konkret umgesetzt werden soll diese Strategie mit dem Aufbau neuer Spezialeinheiten der US Army, den so genannten Multi Domain Task Forces (MDTF). Von ihnen sollen weltweit fünf Einheiten geschaffen werden: zwei im Indo-Pazifik, eine in der Arktis, eine (global einsetzbare) in den USA und eine in in Deutschland – für den europäischen Raum. Was genau bedeutet das alles?

Neuausrichtung auf die Großmächterivalität

Das Denken in multiplen und integrierten „Domänen“ hat sich im Zuge der Neuausrichtung der US-Militärstrategie herausgebildet. Anstatt sich weiterhin – wie nach 9/11 – auf den „Kampf gegen den Terror“ und gegen „Schurkenstaaten“ zu konzentrieren, liegt der Fokus nun auf dem strategischen Wettbewerb und potenziellen Konflikten mit Russland und China. Beide Länder werden als aufstrebende Großmächte betrachtet, die zwar noch nicht mit der Supermacht USA gleichziehen können, aber dennoch bestrebt sind, deren globale Vormachtstellung zu untergraben. Dies tun sie nicht nur durch militärische Aufrüstung, sondern vor allem durch den Einsatz „hybrider“ Instrumente und Maßnahmen, die bereits jetzt die globale „militärische Machtprojektion“ der USA spürbar behindern. Laut US-Militär wird diese Herausforderung weiter zunehmen: „Bis 2040 werden China und Russland alle Instrumente der nationalen Macht militarisiert haben, um den kollektiven Willen der Vereinigten Staaten, ihrer Verbündeten und Partner zu untergraben.“

Das Konzept der „Multi-Domain-Operationen“ soll auf diese potenziellen Bedrohungen eine umfassende und koordinierte Antwort formulieren. Es ist darauf gerichtet, in allen wichtigen Bereichen die eigene Stärke zu optimieren, gleichzeitig aber auch die Aktivitäten über alle Bereiche hinweg zu integrieren. Mit koordinierten Aktivitäten in einer Domäne soll gleichzeitig die Effektivität in anderen Domänen gestärkt werden. Das Ziel ist die Dominanz in allen drei Phasen des Machtkampfes: dem steten strategischen Wettbewerb unterhalb der Kriegsschwelle; dem Management von Krisen an der Grenze zum offenen militärischen Konflikt sowie im Krieg selbst.

Dabei gibt es nicht nur eine Ebene, auf der das Konzept der Domänen Anwendung sucht. Auf der obersten Ebene staatlicher Politik wird das Militär selbst als eine „Domäne“ betrachtet, die stärker mit den anderen Bereichen staatlicher Machtentfaltung integriert und orchestriert werden soll: insbesondere mit der Diplomatie, den Geheimdiensten sowie der Ökonomie mit ihren vielfältigen Sanktionsmöglichkeiten, aber auch mit den Medien, die in der psychologischen und kognitiven Kriegführung zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Konkrete Umsetzung erfährt das Multi-Domain-Konzept aber vor allem auf der Ebene des Militärs. Zum einen auf der übergreifenden „All-Domain“-Ebene der Vereinigten Streitkräfte (US Armed Forces), zum anderen auf der Ebene der Teilstreitkräfte – und dort insbesondere bei der US-Army, die sich als Vorreiter zu profilieren versucht. Bei ihr ist Multi Domain-Ansatz darauf gerichtet, das klassische Einsatzfeld „Land“ nicht nur stärker um die Domänen „Luft“ und „Wasser“ zu erweitern, sondern auch die Bereiche „Weltraum“ und „Cyber“ zu integrieren. Konkret umgesetzt wird das durch den Aufbau neuer Spezialeinheiten, den so genannten „Multi-Domain-Task Forces“.

Die Multi-Domain Task Forces (MDTF)

Aufgabe der MDTF ist es zum einen, den Gegner über alle Domänen hinweg fortlaufend zu beobachten, seine Aktivitäten und Schwächen zu analysieren und daraus Erkenntnisse für den Aufbau eigener Positionsvorteile zu gewinnen. Zum anderen hat sie die Aufgabe, eine leistungsfähige und sichere Infrastruktur für die Information, Kommunikation und Steuerung von militärischen Einheiten, Operationen und Waffensystemen in Krisen und im Kriegsfall sicherzustellen. Die MDTFs werden deshalb mit einer starken digitalen Komponente ausgestattet, bei der stetig zunehmend auch Systeme der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz kommen sollen, um die Fülle an Informationen aus den unterschiedlichen Domänen mit hoher (maschineller) Geschwindigkeit integrieren, analysieren und zu Entscheidungsvorschlägen für die Kommandoebene aufbereiten zu können. Große Bedeutung besitzt dabei auch die Kontrolle und Nutzung des elektromagnetischen Spektrums, um eigene Systeme zu schützen und die Technik des Gegners auf allen Ebene zu stören.

Die eigentliche Kernkomponente der MDTFs ist aber ihre „Feuer“-Einheit. Diese ist nicht nur darauf ausgerichtet, den Gegner durch angedrohte Gegenschläge abzuschrecken. Sie soll vielmehr dafür sorgen, dass im Kriegsfall die gemäß US-Doktrin besonders wichtigen ersten Schlachten gewonnen und breite „Korridore“ geschaffen werden, in denen andere Truppenteile schnell und relativ sicher nachrücken können. Konkret besteht ihre Funktion vor allem darin, „Hochwertziele“ wie Raketenbasen, Luftwaffenstützpunkte, Radarstationen und Kommandozentralen tief auf gegnerischem Territorium auszuschalten. Zu diesem Zweck besitzt die MDTF ein Arsenal präziser und teils hyper-schneller Offensivraketen und Marschflugkörper, die das ganze Spektrum kurzer, mittlerer und längerer Reichweiten im Bereich von 400 bis 3.000 km abdecken und damit gerade auch „tiefe Schläge“ ermöglichen: Namentlich sind das „SM-6“-Präzisionsraketen, „Tomahawk“-Marschflugkörper und die noch in Entwicklung befindlichen HyperSonic-Raketen „Dark Eagle“. Ergänzt werden sie durch Abwehrraketen, die das Risiko von Gegenschlägen abdecken sollen.

Der entscheidende Punkt bei alledem: Diese Doktrin hat nur dann Erfolg, wenn die MDTF sehr früh und sehr schnell handelt und dem Gegner zuvorkommt.

Ein Wandel in der Kriegsführung – mit beunruhigenden Folgen

Welchen Wandel in der Kriegsführung das bedeutet, hat der amerikanische Friedens- und Sicherheitsforscher Michael T. Klare beschrieben: „Während gegenwärtig auf jedes militärische Zusammentreffen (ob beabsichtigt oder nicht) eine allmähliche Erhöhung des Gefechtstempos folgt, die Krisengespräche und Deeskalation ermöglicht, werden künftige Begegnungen fast sofort mit intensiven US-Luft- und Raketenangriffen auf wichtige gegnerische Einrichtungen beginnen, die darauf abzielen, Russlands Kampfkraft rasch zu schwächen.“

Eine solche explosive Eskalationsstrategie bereitet nicht nur tiefes Unbehagen. Sie wirft auch die Frage auf, ob mit den neuen US-Raketen eine Strategie des Erstschlages umgesetzt werden soll. Von den Befürwortern der Stationierung wird das vehement bestritten. Aus ihrer Sicht ist die MDTF mit ihren neuen Raketen ausschließlich als Antwort auf einen möglichen russischen Angriff konzipiert. Mit ihrer Fähigkeit, einen Krieg gegebenenfalls zu gewinnen, diene sie weiterhin vor allem der Abschreckung – und stärke damit die Sicherheit in Europa und Deutschland.

Wie überzeugend das ist, soll im nächsten Teil untersucht werden. Der erste Teil findet sich hier.


Arno Gottschalk ist Ökonom und finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft (Landtag). Er befasst sich seit über 40 Jahren – „mal mehr, mal weniger, seit 2020 wieder mehr“ – mit der „Multi Domain“ Krieg & Frieden.

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