Was unterscheidet die Rechtsordnung eines Staats eigentlich von den Regeln einer Räuberbande? Mit diesem Gedankenspiel werden Studierende in den Einführungsvorlesungen des Fachs Rechtswissenschaft konfrontiert. Es scheint da nämlich eine Ähnlichkeit zu geben: Eine Räuberbande schreibt denjenigen, denen sie begegnet, ein bestimmtes Verhalten vor. Weicht jemand von dem vorgeschriebenen Verhalten ab, wird die Abweichung sanktioniert, notfalls mit Gewalt. Die Vorlesungsfrage lautet dann, ob sich der Staat nicht ganz genauso verhält, wenn er von seiner Bevölkerung ein Verhalten einfordert und die Befolgung, nötigenfalls gewaltsam, erzwingt. Dieses Gedankenspiel hat eine lange Tradition. Bereits der Kirchenvater Augustinus (345-430) ergründete, worin sich das römische Reich von marodierenden Räubern unterscheide. Ganz ernst gemeint ist die Frage aber eigentlich nie, denn das Gedankenspiel findet unter Menschen statt, die bereits die Auffassung teilen, dass eine Räuberbande und ein Staat zwei vollkommen verschiedene Dinge sind. Die intellektuelle Übung besteht darin, Gründe zu finden, warum die bereits geteilte Auffassung auch richtig ist.
Wer eine Weile über diese Fragestellung nachgedacht hat, dürfte erstaunt sein, wie schlicht die juristische Antwort auf sie lautet. Der Unterschied liegt darin, heißt es im Standardlehrbuch „Rechtstheorie“ von Bernd Rüthers, dass der Staat staatliches Recht setzt, also nach festgeschriebenen Verfahren Anweisungen festlegt, an die alle gebunden sind.1 Diese Antwort, die sich auf den ersten Blick als Tautologie erweist, hat neben dem ideologischen Gehalt der Selbstrechtfertigung auch einen historischen Wahrheitskern, denn in ihr bildet sich der Kompromiss des modernen Verfassungsstaates ab.
Gewaltmonopol und Rechtsstaat
Der historische Vorgang, der dieser Auffassung zugrunde liegt, ist der Aushandlungsprozess zwischen dem sich konsolidierenden Nationalstaat und dem aufstrebenden Bürgertum im 19. Jahrhundert. Die Formel lautet, vereinfacht gesagt: „effektive Staatsgewalt“ gegen „rechtsstaatliche Kontrolle“. Die Monopolisierung der Gewalt im Staat2 war für das Bürgertum akzeptabel, solange eine Herrschaft „nach Lage der Dinge“ ausgeschlossen wurde, die Ausübung der Gewalt nach Regeln erfolgte und die Regeln für die Gewaltausübung in allgemeinen Verfahren festgelegt wurden. Mit anderen Worten war das Gewaltmonopol solange akzeptabel, als es eine rechtsstaatliche Form annahm. Als Sicherung von Rechten, nicht als Ausübung von Willkür, ist die staatliche Gewalt für die ökonomisch aufstrebende bürgerliche Klasse sogar von Nutzen: Die Herrschaft der Gesetze verspricht Rationalität und Berechenbarkeit; mit den bürgerlichen Rechten waren auch die dazugehörigen Vermögenspositionen geschützt und die Niederhaltung von Aufständen, Arbeitskämpfen und politischer Opposition übernahm der staatliche Gewaltapparat.3
Seither ist der Zusammenhang von Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit für den bürgerlichen Verfassungsstaat konstituierend. Als 1948 in den Frankfurter Dokumenten die Autorisierung zur Ausfertigung einer westdeutschen Verfassung von den westlichen Besatzungsmächten an die westdeutschen Länder erteilt wurde, enthielt diese Ermächtigung insbesondere zwei Vorgaben: Die Errichtung eines funktionierenden Zentralstaats und die „Garantie der individuellen Rechte und Freiheiten“.4 Das Bundesverfassungsgericht hat später betont, dass jeder hoheitliche Eingriff in die individuellen Freiheiten und Rechte einer gesetzlichen Grundlage bedarf – und sei es der Eingriff in die Freiheit, im Walde zu reiten (BVerfGE 80, 137). Damit eine gesetzliche Grundlage einen Eingriff in die individuellen Rechte und Freiheiten rechtfertigen kann, muss sie selbst formell und materiell rechtmäßig sein, das heißt, sie muss in Einklang mit den verfahrensmäßigen und inhaltlichen Vorgaben der Verfassung stehen. Vor diesem Hintergrund kann eine bloße Aufgabenzuweisung an einen Hoheitsträger oder eine Meinungskundgabe eines Staatsorgans nicht als Rechtsgrundlage für die Begrenzung von individuellen Rechten und Freiheiten herangezogen werden.5 Eingriffe in individuelle Rechte stehen prinzipiell unter Gesetzesvorbehalt.
Ist die Tür für außerrechtliche Zwecksetzungen, für politische und weltanschauliche Gesinnungskontrolle oder eine Bekenntnispflicht zur gegenwärtigen Ausübung der Staatsgeschäfte damit zugeschlagen? Das Bundesverfassungsgericht wäre nicht es selbst, wenn es einen Grundsatz prinzipiell stehen lassen könnte, ohne ihn zugunsten der Hoheitsträger einzuschränken. So hat es in einem seiner dunklen Momente für zulässig gehalten, dass Bewerber*innen im öffentlichen Dienst einer Gesinnungskontrolle unterzogen werden, in der sie nicht nur auf ihre Gesetzestreue geprüft werden dürfen, sondern auch darauf, ob sie diesen Staat in seiner aktuellen Form zumindest nicht grundsätzlich ablehnen. Das könne anhand einer „Persönlichkeitsbeurteilung“ erfolgen und Sanktionen könnten dabei auch an die rechtlich zulässige Betätigung für eine rechtlich zulässige Partei anschließen (BVerfGE 39, 334, 352). Auch an anderer Stelle hat das Gericht angedeutet, dass es bereit ist, das Recht Recht sein zu lassen, wenn ein höherer Höchstwert loyale Gefolgschaft erfordert.6
Staatsräson – ein fremder „Gräuel“?
Auftritt Staatsräson. Das Konzept wird auf den italienischen Philosophen Niccolò Machiavelli (1469-1527) zurückgeführt. Es steht inhaltlich dafür, dass ein Staat eigene Interessen hat und diese Interessen auch dann verfolgen darf, wenn sie in Konflikt mit Moral, Recht und Religion geraten. Ein Beispiel, das im Umfeld von Machiavelli diskutiert wurde, war die Ermordung von Kriegsgefangenen: Da es sich um Italiener und Christen handelte, sei das zwar „unchristlich“, entspreche aber der „Staatsräson“. Das Innovative dieser Theorie bestand darin, ein fundamentales Interesse des Staates jenseits von Moral, Recht und Religion zu postulieren und die Durchsetzung dieses Interesses über die weltliche und religiöse Ordnung zu stellen. In dieser Unbegrenztheit begründet sich aber zugleich der Schrecken, den die Theorie ausgelöst hat. Im Deutschen wurde von Staatsräson über Jahrhunderte nur unter dem lateinischen Begriff der ratio status gesprochen und bis heute ist das Wort erkennbar aus romanischen Sprachen entlehnt. Ein Autor des 17. Jahrhunderts erklärte das selbstlobend damit, dass „ein aufrichtiges Volk“ einem solchen „Gräuel“ keinen eigenen Namen „gegönnt habe“.7
Machiavellis Innovation wurden teils begeistert aufgenommen, in ihrer Eindeutigkeit aber ebenso oft empört zurückgewiesen. Es entstand eine ganze Literaturgattung, die sich mit der Frage auseinandersetzte, wie man die Verfolgung von obersten Interessen verteidigen könne, ohne den Schrecken einzukaufen, dass die Interessenverfolgung vollkommen schrankenlos ist. Solche Versuche liefen stets darauf hinaus, das Regierungshandeln an „Regeln der Klugheit“ zu binden und damit zwar nicht das Interesse selbst, aber die Interessensdurchsetzung moralisch, ethisch oder sittlich einzufangen. An die Adresse der Mächtigen wurde dann im Namen der „Klugheit“ appelliert, dass auch ein interessengeleiteter Akteur am weitesten komme, wenn er sich selbst gewissen Beschränkungen unterwerfe. Diese Rettungsversuche gingen jedoch am Kern der Sache vorbei. Denn die Frage lautet: Welches Prinzip setzt sich in letzter Instanz durch? Die Einhaltung des Rechts oder die Durchsetzung staatlicher Interessen? Das Konzept Staatsräson hat nur einen Sinn, wenn es für Interessen steht, die eine Missachtung von Recht und Gesetz legitimieren. Andernfalls könnte sich der Staat nämlich einfach an Recht und Gesetz halten.
Staatsräson stammt wie Souveränität aus einer feudalen Gedankenwelt. Das Bürgertum lehnte das Konzept bei seinem Kampf um den Rechtsstaat im 19. Jahrhundert strikt ab. „Von der Staatsräson fürchtete man den Bruch von Verträgen, Enteignungen und Konfiskationen, Auferlegung neuer Steuern, Vertreibung von Minderheiten, Bedrängnisse in Religionsfragen oder gar Krieg“.8 Staatsräson ist ein zutiefst belasteter Begriff. Noch vor kurzer Zeit stand er für Vertragsbruch, Willkür, Diskriminierung und Krieg. Seine unkritische Wiederkehr muss – gerade nach der Rechts- und Moralverachtung des Dritten Reichs – als erstaunliches Comeback betrachtet werden.
Die Wiedergeburt der Staatsräson im moralischen Gewand
Obwohl der Begriff Staatsräson im deutschsprachigen Raum verpönt war, stellten sich die in anderen europäischen Ländern mit ihm verbundenen Fragen auch in Deutschland. Eine dieser Fragen lautet, wofür oder zu welchem Zweck der Staat da ist. Diese Frage wurde für Demokratien generell dahingehend beantwortet, dass ihr Zweck die Verstetigung demokratischer Verfahren zum Machtwechsel sei, woraus folge, dass alle weiteren Zwecke den demokratischen Verfahren unterliegen müssen.9 Für das Grundgesetz kann der Zweck in der „Garantie von individuellen Rechten und Freiheiten“ verortet werden. Für den liberalen Verfassungsstaat gilt generell, dass er die Ausübung hoheitlicher Macht begrenzen und individuelle Rechte sicherstellen soll. Das bedeutet, dass die Zwecksetzung Verfahren unterliegt und Eingriffe in individuelle Rechte nur auf der Grundlage von Gesetzen erfolgen dürfen.
Was aber durch die Tür hinausgeworfen wurde, kehrte bald durchs Fenster zurück. Fensteröffner dafür war die „Lehre von den Verfassungsvoraussetzungen“. Diese Lehre gesteht zunächst ein, dass die Zwecksetzung im demokratischen Verfassungsstaat nur auf gesetzliche Weise geschehen könne. Sie sagt aber zugleich, dass die Verfassung und mit ihr die „individuellen Rechte und Freiheiten“ sowie die demokratischen Verfahren nur sicher seien, solange ihnen ein schützender Staat zur Seite steht. Verfassungsschutz ist nach dieser Ideologie Staatsschutz, denn: „Der Staat ist vor der Verfassung“ (Josef Isensee). Mit dieser Theorie kann man alle möglichen Tatsachen in den Rang von Verfassungsgütern erheben, indem man sie zu „Voraussetzungen“ der Verfassung erklärt. Setzt die Entschädigung in Art. 14 Abs. 3 GG nicht ein funktionierendes Geldsystem voraus? Ist die freie Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur in einer Marktwirtschaft möglich? Und stellten sich die Väter des Grundgesetzes unter „Familie“ in Art. 6 Abs. 1 GG nicht einen Vater, eine Mutter und eine unbestimmte Anzahl von Kindern vor? Setzt das Grundgesetz damit nicht ein traditionelles Familienbild voraus? All das ist von konservativer Seite tatsächlich behauptet worden, um vermeintliche „Verfassungsvoraussetzungen“ vor die demokratische Klammer zu ziehen. Besonderer Inhalt der Staatsräson ist traditionellerweise das Recht des Staats ein stehendes Heer zu bilden – auch ohne Zustimmung der Stände oder des Parlaments. Dieses Spiel hat das Bundesverfassungsgericht bei der Einführung der Bundeswehr jedoch nicht mitgespielt. Streitkräfte waren im Grundgesetz ausdrücklich nicht vorgesehen und sie konnten auch nicht, ohne Grundlage im Grundgesetz, als „Verfassungsvoraussetzung“ eingerichtet werden.
Die „Lehre von den Verfassungsvoraussetzungen“ dient dazu, beliebige Fakten in Verfassungsrang zu erheben.10 Im Rahmen des Grundgesetzes macht sie zur „Voraussetzung“, wovor das Grundgesetz die Individuen zuallererst schützen wollte – den Staat. Die Erfahrung des NS lautet nämlich, dass eine wirklich zerstörende und vernichtende Kraft nur von einem Staat ausgehen kann und die Antwort des Grundgesetzes lautete: Zentralgewalt nur gegen strikte Rechtsstaatlichkeit.
Regierungswünsche per Resolution
Im euphemistisch „Jüdisches Leben schützen“ genannten Resolutionsentwurf der Bundestagsfraktionen von SPD, CDU, Grünen und FDP, in dem es kaum um jüdisches Leben in Deutschland, dafür aber umso mehr um einen pauschalen Antisemitismusverdacht gegenüber kritischen Bezugnahmen auf Israel geht, darf der Begriff „Staatsräson“ natürlich nicht fehlen. Rhetorisch geschickt, aber historisch frei erfunden, wird die deutsche „Staatsräson“ mit dem Schutz „jüdischen Lebens“ verknüpft, als wäre die Bundesrepublik gegründet worden, um jüdisches Leben zu schützen. Die Verbindung soll beide Seiten aufwerten: Der Begriff der Staatsräson erhält sein Gewand als moralischer Höchstwert; die unter dem Begriff „Schutz jüdischen Lebens“ versteckte Regierungsprogrammatik steht als „Staatsräson“ plötzlich über der Verfassung. Mit dieser Methode werden Regierungswünsche in über der Verfassung stehende Gebote umgeformt. Mit dem Resolutionsentwurf wollen die genannten Fraktionen Einfluss auf Auswahlkriterien für die Vergabe öffentlicher Mittel in den besonders geschützten Bereichen von Wissenschaft und Kunst nehmen. Diese Einflussnahme ist nicht nur vor dem Hintergrund des Skandals im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung bedenklich. Sie zeigt eine Verschiebung innerhalb des Rechtsstaats und stärkt die Willkür der Exekutive gegenüber der Bestimmtheit des Rechts.
Wie weit die Rechtsmissachtung bereits in die bundesdeutsche Bürokratie eingedrungen ist, zeigte sich vor wenigen Wochen. Nachdem Wissenschaftsministerin Stark-Watzinger über ihren Social Media-Account die persönliche Diffamierung der Bild gegenüber Wissenschaftler*innen geteilt hatte, die sich an einen offenen Brief beteiligt hatten, kam heraus, dass ihr Ministerium intern prüfen ließ, inwiefern unliebsame politische Äußerungen bei der Vergabe von Forschungsmitteln berücksichtigt werden können. Die Ministerialbeamt*innen teilten der Ministerin zwar mit, dass diese Art von politischer Einflussnahme auf Förderentscheidungen verfassungswidrig sei. Der neue Staatssekretär Philippi begrüßte aber in einer internen Kommunikation, dass allein der Verdacht der politischen Einflussnahme eine vorsorgliche Selbstzensur der Wissenschaftler*innen bewirken könne.
Hoheitliches Handeln ohne Kontrollmöglichkeit
Die Geringschätzung des Rechts bei den Vertretern der Staatsräson wird auch daran deutlich, wie in dem Resolutionsentwurf Bezug auf eine frühere Resolution des Bundestages zur BDS-Bewegung genommen wird (BT-Drucksache 19/10191 vom 10.05.2019). Diese Resolution forderte öffentliche Träger auf, jede Mittelzuweisung und Raumvergabe an Personen zu vermeiden, die „der BDS-Bewegung“ nahestehen. Die Resolution ist mehrfach juristisch angegriffen worden. Trotz ihrer erheblichen rechtsstaatlichen Mängel ist sie aber nie aus der Welt geschafft worden. Der erstaunliche Grund dafür liegt darin, dass es sich um einen „schlichten Parlamentsbeschluss“ ohne „Rechtswirkung“ handelt.11 Einschränkungen von Rechten unterliegen einem Gesetzesvorbehalt, weshalb gerichtlich stets andere Rechtsgrundlagen angegriffen wurden – und das mit durchschlagendem Erfolg. So wurde der Staatsratsbeschluss der Stadt München vom 17.12.2017, mit dem die Raumvergabe für Veranstaltungen zum Thema BDS vom Nutzungszweck öffentlicher Räume ausgeschlossen wurde, sowohl vom Oberverwaltungsgericht Bayern wie vom Bundesverwaltungsgericht für verfassungswidrig erklärt.12 Nicht aber die „unverbindliche“ Resolution des Bundestages, die die Kommunen zu genau diesem Vorgehen aufruft, denn diese Resolution habe keine Rechtswirkung.13
Die fehlende „Rechtswirkung“ wird so paradoxerweise zu einem Vorteil, weil sie bedeutet, dass die Erklärungen nicht individualrechtlich überprüft werden können. Mangels Eingriffs in die „individuellen Rechte und Freiheiten“ fehlt das Rechtsschutzbedürfnis. Damit ist es der Regierung möglich, ganz im Sinne der „Staatsräson“ Absichten zu verfolgen, die sie auf rechtlichem Wege nicht verfolgen könnte, wie die gerichtliche Aufhebung des Stadtratsbeschlusses in München zeigt. Indem dieselben Fraktionen nun erneut auf das in der Verfassung gar nicht vorgesehene Instrument der „Resolution“ zurückgreifen, nutzen sie dessen Zwitterstellung aus: Sie wollen das tatsächliche Auswahlverfahren für die Vergabe von Mitteln im sensiblen Kunst- und Wissenschaftsbereich beeinflussen, aber mit einem Instrument, das selbst nicht der gerichtlichen Prüfung unterliegt. Denn erneut werden sich die Gerichte darauf berufen, dass die Resolution keine Rechtswirkung entfaltet und entsprechend nicht von Grundrechtsträger*innen angegriffen werden kann. Zuletzt erklärte sich das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bei der Überprüfung der BDS-Resolution für unzuständig, indem es die Angelegenheit zu einer „verfassungsrechtlichen Streitigkeit“ erklärte, für die allein das Verfassungsgericht zuständig sei.14 Dabei liegt auf der Hand, dass die Voraussetzungen für eine Verfassungsbeschwerde – unmittelbare, gegenwärtige Betroffenheit – gar nicht vorliegen können, im Ergebnis also kein Rechtsschutz gegeben ist. Dieses Vorgehen spricht Bände über die Rechtsverachtung im Namen des Guten. Es steht exemplarisch für das Regieren der Staatsräson gegen das Recht.
Im Zwielicht der Moral
Wie beim Skandal im Wissenschaftsministerium geht es auch in den Resolutionen nicht darum, einen Sachverhalt rechtlich zu regulieren. Weil der Zweck auf rechtliche Weise nicht durchgesetzt werden kann, wird er auf nicht-rechtliche Weise verfolgt. Die Fraktionen aller großen Parteien erklären ihren Willen und vertrauen auf die rechtsgrundlose Befolgung durch Hoheitsträger und den vorauseilenden Gehorsam der Betroffenen. Letztere mögen zwar von der Resolution nicht normativ adressiert werden, gewarnt sind sie allemal. Resolutionen sind nicht überprüfbar. Entsprechend niedrig ist ihre rechtliche und sprachliche Qualität. Beide Resolutionen wären als Normtexte unbrauchbar, weil sie die Mindestanforderungen an die Bestimmtheit nicht erfüllen: Was soll es heißen, dass jemand einer „Bewegung“ „nahesteht“? Wann sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, unter denen eine Sanktionswirkung erfolgen soll? Und wie soll es mit der Meinungsfreiheit in Einklang stehen, Themen oder Sympathiebekundungen generell aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen? Unsubstantiierte Wirklichkeitswahrnehmungen, Analysen ohne Bewertungsmaßstab und die Ausrufung von Handlungsbedarfen geben sich in den Resolutionen die Klinke in die Hand. Im neuen Resolutionsentwurf meinen die Fraktionen nicht nur Bundestag und Hoheitsträger verpflichten zu können, sondern weisen der gesamten „Gesellschaft“ „Aufgaben“ zu. Wie in dem Gedicht „Die Lösung“ von Bertolt Brecht wird die Bevölkerung zu einem Willensanhängsel der Regierung. Und weil der Staat (natürlich) etwas Gutes bezweckt, ist es unzulässig, dagegen zu sein.
Wohin mit der Staatsräson?
Der US-Amerikanische Menschenrechtsanwalt Kenneth Roth hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 07. August 2024 den Missbrauch des Staatsräson-Arguments durch die Bundesrepublik angeprangert. Trotz seiner scharfen Kritik an der Bundesregierung impliziert er damit zugleich, dass es auch eine zulässige Verwendungsweise dieses Arguments gäbe, dass Staatsräson in modernen Verfassungsstaaten also einen Platz haben könnte. Aber das ist falsch. Es gilt entweder die Verfassung eines Landes als höchste Rechtsquelle. Oder es gelten die unerschöpflichen Quellen des Willens der Regierenden – Rechtsstaat oder Staatsräson.
Das bringt mich zurück zur Erstsemestervorlesung. Wenn sich ein Staat durch sein eigenes Recht bestimmt und eine Räuberbande durch außerrechtliche Ziele und Zwecke, wohin entwickelt sich dann ein Land, in dem die Regierung Ziele ausrufen und den Staatsapparat zu ihrer rechtlichen oder tatsächlichen Durchsetzung einsetzen kann? Vor einer Räuberbande muss man beweisen, dass man auf dem „Boden“ der von ihr gesetzten Ordnung steht. Was bedeutet es, wenn die Regierung eine Prüfung vorsieht, ob ihre Bürger*innen „auf dem Boden des Grundgesetzes“ stehen? In einem Rechtsstaat, das hat der FDP-Politiker Gerhart Baum bei der Vorstellung des aktuellen Grundrechte-Reports noch einmal betont, hat man der Regierung nichts zu beweisen. Ob das auch für die Bundesrepublik gilt, wird von Tag zu Tag zweifelhafter.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Andreas Engelmann, Professor an der University of Labour, Frankfurt am Main, und Bundessekretär der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ)
1 Rüthers, Rechtstheorie, München 2022, S. 37 (die Tautologie liegt darin, dass der Staat durch das Recht und das Recht durch den Staat definiert wird).
2 Weder von einer effektiven Staatsgewalt noch von einem ausgebildeten Rechtsstaat kann vor Mitte des 19. Jahrhunderts die Rede sein. Zum Gewaltmonopol findet sich dieselbe Diskussion wie zur Abgrenzung Staat/Räuberbande. Ein tatsächliches „Monopol“ auf Gewalt hat selbstverständlich auch der moderne, kapitalistische Staat mit seinem militarisierten Gewaltapparat nicht. Deswegen wird der Begriff teilweise eingeschränkt auf ein „Monopol“ zur Ausübung von „legitimer“ Gewalt. Mit dieser Einschränkung wird der Begriff aber ebenfalls tautologisch, denn wenn nur der Staat legitime Gewalt ausüben kann, hat er darauf zugleich immer „ein Monopol“, wie auch immer es um seine tatsächliche „Macht“ bestellt ist (dazu Möllers, Staat als Argument, S. 275). Sinnvoller erscheint es mir, dieses Gewaltmonopol als Annäherung zu verstehen: Der Staat verfügt über eine effektive Herrschaft ohne maßgebliche Konkurrenz.
3 Die konstitutive Rolle, die staatliche Gewalt bei der Entstehung des Kapitalismus einnimmt, ist aus verschiedenen Perspektiven beschrieben worden, etwa in Marx‘ Kapitel zur „Ursprünglichen Akkumulation“ im ersten Band des Kapitals oder in Foucaults „Überwachen und Strafen“.
4 Weitere Vorgaben betrafen die Offenhaltung einer zukünftigen Wiedervereinigung und die Staatsorganisation, also den Aufbau des neuen Staates und hier insbesondere die Forderungen, einen föderalen Staat mit geschützten Rechten der Länder zu gründen (siehe die Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948).
5 Sondervotum Böckenförde/Mahrenholz, BVerfGE 69, 63 f.
6 Dazu der phantastische Aufsatz Frankenberg, Angst im Rechtsstaat, Kritische Justiz 1977, S. 362 ff.
7 Zitiert nach Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1990, S. 37; das Interesse des Staats ist nicht verwandt mit Rousseaus volonté generale und spiegelt in keiner Weise ein kollektives Bevölkerungsinteresse wider. Ganz im Gegenteil.
8 Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1990, S. 84.
9 Möllers, Staat als Argument, München 2000, S. 192 ff.; Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1990, S. 81.
10 Möllers, Staat als Argument, München 2000, S. 273.
11 Zu diesem Ergebnis kommt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in seinem Gutachten WD 3 – 3000 – 288/20 vom 21.12.2020
12 BVerwG 20.01.2022 – 8 C 35.20; Vorinstanz: VGH München 17.11.2020 – 4 B 19.1358.
13 Dieses Ergebnis ist selbst aus Sicht des Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes ambivalent, weil es darin heißt, dass die Resolution bei Ermessensentscheidungen sehr wohl berücksichtigt werden dürfe.
14 OVG Berlin-Brandenburg 16.06.2023 – 3 B 44/21.
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Sehr guter Artikel! Ich verbreite den Artikel weiter!