Doppelmoral der Ampel – Die Bundesregierung und der Gazakrieg

Gaza - Bild Motaz Azaiza

Es war ein überwältigendes Votum: mit 124 Jastimmen nahm die UN-Generalversammlung am 18. September eine Resolution an, in der – in Einklang mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 2024 und in expliziter Forderung der Umsetzung desselben – die Beendigung der israelischen Besatzung gefordert wird. In der ersten Resolution, die Palästina offiziell mit eingebracht hat, nachdem es im September erstmals einen Sitz unter den UN-Mitgliedstaaten einnahm, wird Israel aufgefordert, „seine unrechtmäßige Präsenz im besetzten palästinensischen Gebiet“ innerhalb von 12 Monaten zu beenden.

Außerdem werden die Staaten der Welt aufgefordert, alles zu unterlassen, was eine Anerkennung der Besatzung implizieren würde. Es sollen keine in den völkerrechtswidrigen Siedlungen produzierten Waren mehr importiert sowie Sanktionen gegen Personen verhängt werden, die zur Aufrechterhaltung der Besatzung beitragen. Zudem werden, ebenfalls in Einklang mit dem Gutachten des IGH, nach dessen Auffassung auch der Gazastreifen weiterhin unter Besatzung steht, Reparationen für die Opfer der jahrzehntelangen Besatzung gefordert.

Die Bundesregierung hat sich bei der Abstimmung enthalten. In einer offiziellen Erklärung zum deutschen Abstimmungsverhalten inszeniert sie sich allen Ernstes als Verfechterin des internationalen Rechts, nur um dann zu erklären, warum dieses im konkreten Fall höchstens eingeschränkt zur Anwendung kommen solle. Man selbst halte zwar die israelische Siedlungspolitik für völkerrechtswidrig, man werde das Gutachten des IGH respektieren und seine Umsetzung „in vollem Umfang unterstützen“. Allerdings sei eine „verhandelte Zweistaatenlösung der einzige Weg zu einem nahhaltigen Frieden im Nahen Osten.“ Auch setze die UN-Resolution eine „unrealistische Frist“ und berücksichtige das Selbstverteidigungsrecht Israels nicht ausreichend. Die legitimen Sicherheitsinteressen der Palästinenser, die seit Jahrzehnten Überfällen, Kriegen, illegalen Inhaftierungen, Tötungen und der Zerstörung ihrer Häuser und der Enteignung ihrer Ländereien ausgesetzt sind, scheinen für die „wertebasierte“ Ampel hingegen keine Rolle zu spielen.

Zwei-Staaten-Lösung?

Und die geforderte „verhandelte“ Zweistaatenlösung? Im Juli dieses Jahres sprachen sich in der Knesset, dem israelischen Parlament, 68 von 120 Abgeordneten für einen Beschluss aus, in dem eine palästinensische Staatsgründung und somit auch eine Zweistaatenlösung kategorisch abgelehnt wird. Unter den Jastimmen fand sich neben den rechtsreligiösen Parteien aus der Regierungskoalition von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auch die Mehrheit der Abgeordneten der Oppositionspartei von Benjamin Gantz. Sie alle bezeichnen die Gründung eines palästinensischen Staates „im Herzen des Landes Israel“ – obwohl weder die Westbank noch der Gazastreifen oder Ostjerusalem von der internationalen Gemeinschaft als Teil Israels anerkannt sind – als „existenzielle Gefahr für den Staat Israel und seine Bürger“. Die Gründung eines solchen Staates, wie sie die internationale Gemeinschaft schon seit Jahrzehnten einhellig fordert, sei „eine Belohnung für Terrorismus“. Mit wem also sollten die Palästinenser verhandeln? Völlig zu Recht argumentiert der Vorsitzende der (palästinensisch-)israelischen Partei „Vereinigte Arabische Liste“, Mansour Abbas, es sei gerade ein unabhängiger palästinensischer Staat, der dafür sorgen könnte, „dass es keine bewaffneten Gruppierungen gibt.“ Wer also im Interesse Israels und seiner Sicherheit denkt, müsste den Druck für die Gründung des Staates Palästina gerade jetzt intensivieren. Die Bundesregierung aber hält an ihrer falschen, weil einseitigen und einen nachhaltigen Frieden behindernden, Solidarität fest.

Die Einseitigkeit der Bundesregierung, allgemein in Bezug auf den Nahostkonflikt aber ganz speziell in Hinblick auf den Gazakrieg, ist in ihrem Ausmaß einzigartig. Auch deshalb hat Nicaragua Deutschland vor dem IGH verklagt – weil „Deutschland durch sein Verhalten in Bezug auf die schweren Verstöße gegen zwingende Normen des Völkerrechts, die in den besetzten palästinensischen Gebieten stattfinden, (a) nicht nur seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, den Völkermord zu verhindern, der an der palästinensischen Bevölkerung – einschließlich derjenigen im Gazastreifen – begangen wurde und wird, sondern auch zur Begehung von Völkermord unter Verletzung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes beigetragen hat; (b) seinen Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht, die sich sowohl aus den Genfer Konventionen von 1949 und den dazugehörigen Zusatzprotokollen von 1977 als auch aus den unumstößlichen Grundsätzen des humanitären Völkerrechts ergeben, nicht nachgekommen ist, indem es seinen Verpflichtungen, die Achtung dieser grundlegenden Normen unter allen Umständen zu gewährleisten, nicht nachgekommen ist; und (c) andere zwingende Normen des Völkerrechts nicht beachtet hat, indem es insbesondere Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Situation der fortgesetzten militärischen Besetzung Palästinas, einschließlich der andauernden rechtswidrigen Angriffe in Gaza, geleistet hat, und (f) andere zwingende Normen des Völkerrechts nicht beachtet hat, insbesondere dadurch, dass es Hilfe und Beistand geleistet hat und das illegale Apartheidregime und die Negierung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes nicht verhindert hat.“

Deutschland und der Gazakrieg

Nicaragua wirft Deutschland seine politische, finanzielle und insbesondere militärische Unterstützung (insbesondere durch Waffenlieferungen) sowie die zeitweise Einstellung der Finanzierung des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) vor. Deutschland ist Israels zweitgrößter Waffenlieferant. Über den Zeitraum der vergangenen 20 Jahre betrachtet, kam fast ein Drittel aller israelischen Waffenimporte aus Deutschland. Nachweislich kamen etwa Panzerfäuste vom Typ Matador bei der Zerstörung von Häusern im Gazastreifen zum Einsatz, von denen Deutschland nach dem 7. Oktober 3.000 Stück lieferte. Die von Deutschland an Israel ausgeliehenen Heron TP können bei jedem Einsatz eine Tonne Bomben abwerfen und die Sa´ar 6-Korvetten werden zur Bombardierung ziviler Wohngebiete in Gaza eingesetzt. Hinzukommen weitere Waffen, ohne die der Krieg nicht weitergeführt werden könnte.

Am 26. Oktober 2023, zweieinhalb Wochen nach Beginn des brutalen israelischen Feldzugs gegen die Küstenenklave, unter dessen Opfern zwei Drittel Frauen und Kinder sind, behauptete Bundeskanzler Olaf Scholz: „Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Daran habe ich keinen Zweifel.“ Legt man die Frage, wie demokratisch die palästinensischen Bürger Israels seit Jahrzehnten behandelt werden, und welche Fragen an die israelische Demokratie etwa die von der Regierung Netanjahu vorangetriebene Justizreform aufkommen lässt, einmal beiseite, so bleiben die bis zum Zeitpunkt der Äußerung von Scholz gefallenen Aussagen israelischer Regierungsmitglieder, die Palästinenser als „menschliche Tiere“ bezeichneten und eine „Nakba 2.0“ ankündigten. Offen war die komplette Abriegelung des Gazastreifens, die konkret das Abschneiden von Treibstoff, Lebensmitteln, Medikamenten und Trinkwasser bedeutete, angekündigt und umgesetzt worden. Längst wurden tonnenweise Bomben über dicht besiedelten Wohngebieten abgeworfen. Ohne Zweifel an der israelischen Völkerrechtstreue war zu dem Zeitpunkt außer der deutschen Bundesregierung kaum jemand.

Auch habe Deutschland gegen die Genfer Konventionen verstoßen, so die Klageschrift Nicaraguas. Deren gemeinsamer Artikel 1 verpflichtet die Vertragsparteien dazu, Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch Parteien eines bewaffneten Konflikts nicht zu fördern und solche Verletzungen möglichst zu unterbinden. Zwar hat der IGH den Eilantrag Nicaraguas auf Erlass einstweiliger Maßnahmen gegen Deutschland abgelehnt. Nicaragua hatte das Gericht aufgefordert, Berlin zur sofortigen Einstellung seiner Militärhilfen an Israel zu verpflichten, weil die deutschen Rüstungsexporte an Tel Aviv aber nach einer Verzehnfachung nach dem 7. Oktober wieder zurückgegangen waren, sah das Gericht kein Erfordernis für sofortige Maßnahmen. Der IGH hat aber zugleich Deutschlands Antrag, das Gericht möge sich für nicht zuständig erklären, abgelehnt. Das Hauptverfahren wird daher fortgeführt und dürfte sich über Jahre hinziehen. Dass es bei der Bundesregierung in der Zwischenzeit zu einer Verhaltensänderung kommt, ist höchst unwahrscheinlich. Immerhin hat sie im Januar als Drittpartei auf Seiten Israels im ebenfalls vor dem IGH stattfindenden, von Südafrika angestrengten Prozess gegen Israel interveniert.

Seit Kriegsbeginn im Oktober hat sich die Grundposition der Bundesregierung nicht verändert. Und seither ist jede Kritik an Israel halbherzig und erfolgt erst Wochen und Monate, nachdem ein Großteil der Welt sie bereits formuliert hat. Ende Oktober 2023, als der Bundeskanzler sich „ohne Zweifel“ gab, warnten Vertreter der Vereinten Nationen bereits, Israel verursache mit seiner Komplettabriegelung des Gazastreifens eine Hungerkatastrophe. Zu diesem Zeitpunkt gab es im Gazastreifen schon keinen Strom, kein sauberes Trinkwasser, keine ausreichenden Nahrungsmittel und keine Medikamente mehr. Operationen bis hin zu Amputationen mussten ohne Betäubungsmittel durchgeführt werden. Ein Großteil der Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen war bereits außer Betrieb. Erst im März 2024, als die USA – übrigens völlig ineffektiv und unter Gefahr für die dortige Bevölkerung – bereits Hilfsgüter über dem Gazastreifen abwarfen, forderte die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock einen „sofortigen humanitären Waffenstillstand“. Aber die Kritik wächst: Im April lehnten sich rund 600 Beamte und Mitarbeiter verschiedener Ministerien gegen die Politik der Bundesregierung auf. In einem Brief forderten sie, die „Waffenlieferungen an die israelische Regierung mit sofortiger Wirkung einzustellen“, weil Israel in Gaza „Verbrechen“ begehe, „die in klarem Widerspruch zum Völkerrecht und damit zum Grundgesetz stehen, an das wir als Bundesbeamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes gebunden sind“. Gefordert wird auch, die Zahlungen an die UNRWA wieder aufzunehmen.

Die Unterzeichner, die unter Verweis auf ein „Klima der Angst“ anonym bleiben wollen, verweisen auch darauf, dass die Bundesregierung mit ihrer einseitigen Politik Deutschlands Ruf in der Welt und seinen internationalen Beziehungen nachhaltigen Schaden zufüge. Tatsächlich isoliert sich Deutschland, wie bereits im Ukrainekrieg, durch seine einseitige Politik zunehmend in der Welt. Denn die Mehrheit der Staaten ist nicht bereit, das völlig unverhältnismäßige Gemetzel im Gazastreifen und inzwischen auch im Westjordanland hinzunehmen. Der Bundesregierung ist vorzuwerfen, dass sie auch die von der Regierung Netanjahu angestrebte Ausweitung des seit Oktober tobenden regionalen Krieges mit der Hisbollah, den jemenitischen Ansarollah („Huthis“) und bewaffneten Gruppen im Irak durch ihr fehlendes Veto mitverantwortet. Dies gilt insbesondere für die zunehmende israelische Eskalation gegen den Libanon und die Drohungen Tel Avivs, eine Bodeninvasion im Nachbarland zu starten. Der israelische Generalmajor der Reserve Yitzhak Brik ist eine derjenigen Stimmen aus israelischer Armee und Geheimdiensten, die wiederholt gewarnt hat, in diesem Fall riskiere Israel einen Fünffrontenkrieg – an der israelisch-libanesischen und der israelisch, jordanischen Grenze, auf den besetzten syrischen Golanhöhen, im Westjordanland und mit dem Gazastreifen –, der nicht zu gewinnen sei und in dem Israel seine Existenz gefährde.

Auch die Bevölkerung in Deutschland trägt die Regierungspolitik der bedingungslosen Unterstützung Israels, oder vielmehr der israelischen Regierung, längst nicht mehr mit. Schon im März hielten laut ZDF-Politbarometer 69 Prozent der Befragten Israels Vorgehen im Gazakrieg für nicht gerechtfertigt. 87 Prozent forderten, der Westen solle mehr Druck auf Tel Aviv ausüben. Längst ist klar geworden, dass eine bedingungslose Unterstützung der Regierung Netanjahu, die von Radikalen und Rassisten durchsetzt ist, nicht im Sinne Israels ist. Vielmehr gefährdet diese Regierung die Sicherheit Israels, seiner Bürger und der gesamten Nahostregion. „Unsere eigene Geschichte, unsere aus dem Holocaust erwachsende Verantwortung macht es uns zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen,“ erklärte Bundeskanzler Scholz in einer Regierungserklärung am 12. Oktober 2023 die deutsche „Staatsräson“. Dabei wäre zu fragen, inwiefern die Unterstützung der Bundesregierung für die rechteste Regierung, die Israel je hatte, und die ihre Bürgerinnen und Bürger in akute Gefahr bringt, dieser Staatsräson entspricht. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass seit Monaten Zehntausende Israelis gegen eben jene Regierung demonstrieren. Und – last but not least – bedeutet eine zu Ende gedachte Verantwortung, die zweifellos aus der deutschen Geschichte erwächst, auch eine Verantwortung gegenüber den Palästinensern, die am Holocaust keinerlei Schuld tragen, aber in ihrer allergrößten Mehrheit längst zu Opfern – auch zu Opfern der Politik der Bundesregierung – geworden sind.

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