Der folgende Artikel ist die übersetzte Transkription des Video-Interviews mit Professor Ilan Pappe, welches am 12. Juni 2025 von etos.media veröffentlicht wurde. Das Originalvideo finden Sie auf dem etos.media YouTube-Kanal und hier:
Etos.media: Hallo zusammen! Und danke, dass Sie wieder bei etos.media eingeschaltet haben. Wir freuen uns, heute Professor Ilan Pappe bei uns zu begrüßen. Herzlich willkommen, Herr Professor.
Prof. Ilan Pappe: Ich danke Ihnen. Es ist sehr schön, hier zu sein.
Etos.media: Ilan Pappe ist ein renommierter, in Israel geborener Historiker und eine der bekanntesten Stimmen unter den sogenannten Neuen Historikern in Israel. Derzeit ist er Professor für Geschichte an der Universität von Exeter im Großbritannien, wo er auch das Europäische Zentrum für Palästinastudien leitet. Professor Pappe ist weithin bekannt für sein 2006 erschienenes Buch The Ethnic Cleansing of Palestine (auf deutsch: Die ethnische Säuberung Palästinas, 2007), das die vorherrschenden Erzählungen über den palästinensischen Exodus von 1947-49 in Frage stellt.
Sein 2011 erschienenes Werk Die vergessenen Palästinenser wurde kürzlich auch auf Deutsch bei Westend veröffentlicht. Bevor wir uns mit den jüngsten Entwicklungen in Gaza und der allgemeinen Frage des Zionismus befassen, möchten wir zunächst dieses Buch vorstellen. In Die vergessenen Palästinenser schreiben Sie über die so genannten ‘48 Palästinenser. Das sind die Menschen, die nach der Nakba im heutigen Israel geblieben sind. Und lange Zeit wurde diese Bevölkerung von etwa 2 Millionen Menschen weitgehend ignoriert, mehr oder weniger. In Ihrer Arbeit weisen Sie ihnen jedoch eine besondere Rolle zu, insbesondere in Bezug auf die Vision eines binationalen Staates. Könnten Sie bitte zunächst das Alltagsleben und die soziale Stellung dieser Palästinenser innerhalb der israelischen Gesellschaft beschreiben?
Ilan Pappe: Ja. Heute haben wir, wie Sie sagten, etwa 2 Millionen Palästinenser, die tatsächlich Bürger Israels sind. Sie können also an den Wahlen teilnehmen, sie können ins Parlament gewählt werden und auf dem Papier sind sie vollwertige Bürger. In der Praxis sind sie es nicht. Sie leiden unter Diskriminierung auf bestimmten Ebenen. Zunächst einmal werden sie heute durch bestimmte Gesetze eingeschränkt, die von der israelischen Knesset, dem israelischen Parlament, verabschiedet wurden und die ihnen insbesondere das Recht verweigern, sich als nationales palästinensisches Kollektiv zu bezeichnen. Es ist ihnen auch nicht erlaubt, das Jahr 1948, das sie die Nakba, die Katastrophe, nennen, angemessen zu gedenken. Es gibt bestimmte Orte in Israel, an denen sie nicht leben dürfen. Denn diese Orte sind als rein jüdische Orte ausgewiesen. Und es gibt eine Art israelischen Trick im Rechtssystem. Bestimmte Rechte werden einem nicht gewährt, wenn man nicht in der israelischen Armee gedient hat. Nun, sie dienen nicht in der israelischen Armee aufgrund einer Vereinbarung. Israel will nicht, dass sie in der israelischen Armee dienen. Und dann wird die Tatsache, dass sie nicht dienen, ausgenutzt, um zu sagen, dass sie nicht alle ihre Verpflichtungen erfüllen und deshalb nicht alle Rechte haben.
Auf der weniger juristischen, sondern eher praktischen Seite leiden sie unter der Diskriminierung im Budget, sie können kaum neues Land kaufen, daher gibt es kaum neue Erweiterungen palästinensischer Dörfer und Städte und sie sind ständig der Gefahr ausgesetzt, misshandelt zu werden. Sowohl durch die Polizei als auch durch das Justizsystem. Ich nehme an, dass sie sich in dieser Hinsicht nicht von nicht-weißen Menschen in Deutschland unterscheiden, was die Art und Weise betrifft, wie sie von der Polizei und dem Strafsystem behandelt werden. Aber diese Menschen – die Migranten sollten auch nicht so behandelt werden – aber diese Menschen sind nicht einmal Migranten. Ich meine, sie sind die indigene Bevölkerung.
Sowohl praktisch als auch rechtlich gesehen handelt es sich also um eine Gemeinschaft, die man am besten als Bürger zweiter Klasse bezeichnen kann. Und natürlich sollte man auch den letzten Punkt erwähnen: Ein Großteil der offiziellen israelischen Unternehmen, der Regierungsgeschäfte und so weiter ist mit der Armee verbunden, so dass ein Teil der Industrie und der Dienstleistungen den Palästinensern nicht offen steht. Wenn Sie auf dem Flughafen von Tel Aviv landen, werden Sie deshalb bei der Einreise niemals einen palästinensisch-israelischen Staatsbürger sehen. Da dies als nationale Angelegenheit betrachtet wird, werden sie niemals zum Dienst zugelassen werden. Diese Leute, die entscheiden, wer einreisen darf, wer nicht und so weiter.
Etos.media: Würden Sie, wie es einige Wissenschaftler und Experten tun, den Begriff der Apartheid auch auf das Israel der 48 Territorien anwenden? Sozusagen als Zusammenfassung dessen, was Sie gerade beschrieben haben, oder lehnen Sie dies ab?
Ilan Pappe: Nein, ich bin nicht dagegen. Ich denke, wir müssen zwischen einem Modell der Apartheid unterscheiden, das jeder kennt, nämlich der südafrikanischen Apartheid. Es gibt Ähnlichkeiten, aber es gibt auch viele Unähnlichkeiten. Die Apartheid in Südafrika war viel mehr, wie ein Freund von mir es zu nennen pflegte, eine „kleinkarierte“ Apartheid. Nämlich unterschiedliche Bänke, unterschiedliche Toiletten, unterschiedliche Busse. Dies geschieht eher im Westjordanland als innerhalb Israels. Aber es ist eine andere Art von Apartheid. Und Apartheid gab es nicht nur in Südafrika. Auch im Süden der Vereinigten Staaten herrschte viele Jahre lang Apartheid. Es ist also eine Art von Apartheid. Und die meisten Wissenschaftler, die viel über Apartheid wissen, die untersucht haben, was die annerkannte rechtliche und theoretische und akademische Definition von Apartheid ist, glauben, dass die gegenwärtige Situation der Palästinenser in Israel definitiv als Apartheid interpretiert werden kann.
Etos.media: Ich glaube, auch Amnesty hat in ihrem letzten Bericht Israel selbst in ihr Konzept aufgenommen.
Ilan Pappe: Ganz genau. Und auch Human Rights Watch und auch B’Tselem, die israelische Menschenrechtsorganisation.
Etos.media: Welche Strategien oder Formen des Widerstands haben sich innerhalb dieser Gemeinschaft herausgebildet und wie tragen diese Bemühungen zum breiteren palästinensischen Kampf um Rechte und Anerkennung bei?
Ilan Pappe: Ich denke, dass die politischen und intellektuellen Führer dieser Gemeinschaft schon sehr früh eine strategische Entscheidung getroffen haben, dass sie nicht in der Lage sein würden, sich am Befreiungskampf für Palästina in der gleichen Weise zu beteiligen, wie es zum Beispiel die Menschen in den Flüchtlingslagern oder sogar im Westjordanland und im Gazastreifen getan haben. Ich denke, sie haben eine Entscheidung getroffen, die anfangs von den anderen Palästinensern nicht leicht akzeptiert wurde, nämlich dass sie nach den Spielregeln spielen werden. Ihre Strategie war also immer die Demokratie, die Nutzung des Rechtssystems, des demokratischen Systems, natürlich Demonstrationen, Petitionen und so weiter, um die Realität zu verändern. Es ist ihr Verdienst, dass sie die PLO Anfang der 1970er Jahre davon überzeugt haben, dass ihre Art des Kampfes genauso wichtig ist wie der bewaffnete Kampf, den die Fatah und die anderen Fraktionen Anfang der 1960er Jahre aufgenommen haben. Oder die Art des Kampfes, die sehr speziell für den Gazastreifen oder das Westjordanland ist.
Das war also die Hauptstrategie. Das bedeutet aber nicht, dass es sich um eine einheitliche politische Gemeinschaft handelt. Wie in den anderen politischen Gemeinschaften Palästinas gibt es auch hier drei große Strömungen. Die Linke ist sehr stark, insbesondere die Kommunistische Partei. Dann gibt es etwas, das man als nationale ideologische Strömung bezeichnen kann, Leute, die die palästinensische nationale Identität gegenüber der sozialistischen oder kommunistischen universellen Identität betonen wollen. Und vor kurzem, und das ist schon eine ganze Weile her, wurde der politische Islam, wie auch in anderen palästinensischen politischen Situationen, zu einem sehr beachtlichen und wichtigen Teil der palästinensischen politischen Szene in Israel.
Etos.media: Ja, und das wiederum wird gerne als Ausrede für die israelischen Befürworter genommen, wenn sie sehen, dass Araber in der Regierung oder zumindest im Parlament sitzen. Sie können Richter sein, wie kann es dann Apartheid geben? Das wird immer als eine Art Alibi genommen, denke ich.
Ilan Pappe: Ja.
Etos.media: Eine kleine persönliche Anmerkung: In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihre sozialen Beziehungen und Ihre ideologischen Verbindungen zu den 48 Palästinensern. Ich möchte Sie zitieren:
„Ich gehöre zu den wenigen israelischen Juden, die sich der palästinensischen Minderheit in Israel eng verbunden fühlen.“
Was hat in Ihrer Geschichte dieses Gefühl der Verbundenheit geprägt und warum ist es so selten?
Ilan Pappe: Zunächst einmal war es in meinem Fall meine eigene Reise aus dem Zionismus heraus. Und die Erkenntnis, dass ich, weil ich in dem Land geboren wurde, zwischen dem Land und dem Staat unterscheiden muss. Im Laufe der Jahre konnte ich mich kaum noch mit dem Staat identifizieren, aber ich liebe das Land immer noch. Weil ich dort geboren wurde, war es meine Heimat. Und ich hatte das Gefühl, dass die Art und Weise, warum ich den Staat nicht mag und warum ich mich immer noch sehr stark mit dem Heimatland verbunden fühle, der Art und Weise sehr ähnlich ist, wie die palästinensische Gemeinschaft fühlt. Wir hatten also eine sehr gemeinsame Basis für den Umgang mit der Realität, in der wir lebten. Und wir haben es nie auf einer persönlichen Ebene getan. Ich meine, es ging nicht darum, alle jüdischen Bürger in Israel zu verallgemeinern, es ging mehr um das Regime als um das Volk selbst. Für mich passte es also sehr gut zu meiner eigenen Reise in der Geschichte und so weiter.
Ich muss auch sagen, dass ich, als ich anfing, meine historische Erzählung und meine Ideen zu veröffentlichen, in der jüdischen Gesellschaft ziemlich isoliert war, und ich hatte das Glück, von der palästinensischen Gesellschaft akzeptiert zu werden. So wurde sie in dieser Hinsicht zu meiner Bezugsgruppe. Das erklärt auch meine sehr starke Affinität.
Die zweite Frage: Warum ist sie so selten? Nun, das liegt in der DNA des gesamten zionistischen Projekts. Es ist ein siedlerkolonialistisches Projekt, das wie viele andere siedlerkolonialistische Projekte glaubt, dass die indigene Bevölkerung ein Problem ist, das gelöst werden muss. Normalerweise durch ihre Vertreibung oder Eliminierung. Und das ist etwas, das das Bildungssystem, das politische System und das kulturelle System prägt. So werden die Israelis schon sehr früh in ihrem Leben indoktriniert, die Araber als minderwertige Menschen zu betrachten. Und vor allem als ein demographisches Problem, als ein Hindernis für ein gutes Leben. Das lässt nicht viel Spielraum für echte Beziehungen zu den Palästinensern.
Es ist schon bemerkenswert, dass der Zionismus seit 120 Jahren in Palästina herrscht und 99 % der israelischen Juden kein Arabisch können. Nachdem sie 120 Jahre lang in einer arabischen Welt, einem arabischen Land gelebt haben. Und das ist ein Hinweis darauf, wie distanziert sie von der palästinensischen Gesellschaft, Gemeinschaft und dem Erbe sind.
Etos.media: Nur als kurze Erinnerung für alle Zuschauer: Können Sie kurz erklären, was genau Sie mit Zionismus meinen? Nur um das Konzept zu klären.
Ilan Pappe: Ja. Für mich begann der Zionismus als eine noble Idee. Er war eine Reaktion auf die Zunahme des Antisemitismus einerseits und den Wunsch besonders modernisierter säkularer Juden, das Judentum als nationale Identität neu zu definieren.
Der Zionismus wurde zum Kolonialismus, als die Europäer, die nicht-europäischen Juden und eine Minderheit von Juden in Europa beschlossen, dass die Juden in Europa keine Zukunft haben, aber dennoch Europäer bleiben müssen. Der Zionismus bestand also darin, einen europäischen Staat im Herzen der arabischen Welt zu errichten, weil Europa seine jüdische Bevölkerung nicht akzeptieren konnte. Und der Holocaust hat diesen Unwillen, die Juden zu akzeptieren, mehr als alles andere bewiesen, natürlich auf die brutalste und schrecklichste Weise. So wurde der Zionismus zu der Idee, dass der Zukunft der Juden mit einem jüdischen Staat im Herzen der arabischen Welt und auf Kosten der Palästinenser besser gedient ist. Etwas, das man nur mit Gewalt erreichen und mit Gewalt aufrechterhalten kann. Und es wurde zu einer Staatsideologie. Wie wir bereits besprochen haben, halte ich das für eine Apartheid-Ideologie. Denn wenn man nicht jüdisch ist, verdient man nach der zionistischen Ideologie nicht die vollen Rechte, die die Juden haben, zumindest im Minimum. Schlimmstenfalls hat man jedoch kein Recht, in einem jüdischen Staat zu bleiben, der sich zu einem solchen entwickelt.
Etos.media: Der Schwerpunkt Ihres Buches liegt auf diesen Palästinensern, 48 Palästinensern. Und Sie erwähnten deren Beziehung bzw. deren Rolle in der Vision eines binationalen Staates. Könnten Sie das näher erläutern? Welche Rolle spielen sie bei der Verwirklichung dieses Ziels?
Ilan Pappe: Nun, sie sind große Befürworter der Demokratie. Und der einzige Gegenpol zu einem rassistischen ethnischen Apartheidstaat ist ein demokratischer Staat. Und sie unterstützen diese Idee voll und ganz. Sie wollen der jüdischen Bevölkerung nicht das antun, was die jüdische Bevölkerung ihnen antut. Sie träumen nicht davon, die Juden zu vertreiben oder sie zu eliminieren. Sie träumen von einem gleichberechtigten Leben mit den Juden im gesamten historischen Palästina. Und das macht sie wahrscheinlich zu einer der demokratischsten Gemeinschaften in der arabischen Welt. Und deshalb, sind sie gleichwohl sehr pragmatisch und wollen die palästinensische Führung nicht in Frage stellen. Solange die PLO also die Zweistaatenlösung unterstützt, werden sie sich nicht gegen die PLO stellen.
Aber ich glaube, die meisten von ihnen hätten gerne, dass alle Palästinenser in Palästina gleichberechtigt mit den Juden leben. Und ich glaube, sie sind wahrscheinlich die einzige palästinensische Gemeinschaft, die die israelischen Juden nicht nur als Siedler und Soldaten kennt. Wenn es also irgendeine Hoffnung auf eine echte Koexistenz gibt, dann liegt das daran, dass sie immer noch glauben, dass nicht alle israelischen Juden so brutal sind wie die Armee oder die Siedler. Natürlich machen es die Ereignisse der letzten 16, 17 Monate selbst für sie schwieriger zu glauben, dass dies möglich ist.
Etos.media: Okay, Sie sprechen von Koexistenz. Und das bringt uns zu neueren Entwicklungen, wo die Koexistenz in Frage gestellt wird. Um es gelinde auszudrücken.
Ilan Pappe: Absolut, absolut.
Etos.media: Seit 19 Monaten sind wir Zeugen dessen, was man einen Livestream-Genozid nennt. Ich teile diese Auffassung.
Ilan Pappe: Ich stimme zu.
Etos.media: Hungersnöte werden als Waffe eingesetzt, Vergewaltigungen werden als Waffe eingesetzt. Wir alle kennen diese schrecklichen Videos, die rund um die Uhr in den sozialen Medien zu sehen sind. Aber in den letzten Wochen, vielleicht sogar erst seit ein, zwei Wochen, haben die westlichen Mainstream-Medien und einige Regierungen begonnen, ihren Ton in Bezug auf den Gaza-Krieg zu ändern, indem sie zunehmend von einer humanitären Krise sprechen. Einige verwenden sogar das Wort Völkermord. Und einige westliche Regierungen, die traditionell starke Verbündete Israels sind, wie Großbritannien, Kanada und Frankreich, haben sogar damit begonnen, mögliche Änderungen in der Politik und sogar Sanktionen anzukündigen. Wie interpretieren Sie diesen Wandel in der Berichterstattung über den Völkermord im Gazastreifen gerade in diesem besonderen Moment?
Ilan Pappe: Nun, es ist ein bisschen spät. Die Tatsache, dass wir 19 Monate des Völkermordes brauchten, um einige durchsetzungsfähigere Positionen von EU-Mitgliedern einschließlich Großbritanniens zu hören, also auch von europäischen Staaten, die nicht vollwertige Mitglieder der EU sind, halte ich natürlich nicht für ausreichend. Und der Test ist nicht, was die Leute sagen, sondern was sie tun. Und bis jetzt haben wir noch keine Taten gesehen. Es ist auch der Verdienst der Solidaritätsbewegung in Europa, dass sie die Regierungen unter Druck gesetzt hat, etwas zu tun. Ich denke also, es liegt an beidem: an den Geschehnissen vor Ort, aber auch an dem Druck von unten. Ich hoffe, dass dies der Beginn einer grundlegenderen Änderung der Position ist. Aber ich denke, was hier noch wichtiger ist, ist, dass es zeigt, wie isoliert Israel heute in der Welt und bei vielen Menschen ist. Und viele von ihnen waren in der Vergangenheit vielleicht Unterstützer Israels. Israel verliert nun in den Augen der großen Mehrheit der Menschen in der Welt jegliche moralische Gültigkeit.
Was aber noch wichtiger ist, und ich glaube, das ist eine echte Herausforderung für die europäischen Regierungen, ist und dass sie wissen, dass es eine Herausforderung ist, aber ich glaube nicht, dass sie eine Idee haben, wie sie damit umgehen sollen. Ich glaube, sie werden immer aufmerksamer, weil sie erkennen, dass sich die israelische Politik in Zukunft wahrscheinlich nicht ändern wird. Das heißt, selbst wenn Netanjahu verschwindet, die Wahl verliert, ins Gefängnis geht, spielt das keine Rolle. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich die israelische Politik in der Palästina-Frage dramatisch ändern wird. Sie werden den Völkermord vielleicht nicht fortsetzen, weil in Gaza ohnehin nicht viel übrig ist. Aber wer auch immer Netanjahu ersetzt, würde die ethnische Säuberung des Westjordanlands fortsetzen, würde die Apartheid gegen die Palästinenser in Israel fortsetzen. Der palästinensische Widerstand würde nicht verschwinden und demjenigen, der an der israelischen Regierung sitzt, einen Vorwand liefern, das zu wiederholen, was Israel in den letzten 19 Monaten getan hat. Und wir haben eine israelische Militärelite, die sich nicht ändern wird, die glaubt, dass Israel die militärische Macht hat, Teile des Libanon und Teile Syriens einzunehmen. Und um gegen den Iran in den Krieg zu ziehen und den Iran zu besiegen.
All dies wird sich mit dem Regierungswechsel nicht ändern. So ist Israel jetzt und wird es noch viele, viele Jahre sein. Deshalb denke ich, dass es wichtig ist, den Völkermord zu stoppen, so wie er ist, und das können wir mit einem Wechsel erreichen. Aber das ist nur vorübergehend, und wir müssen die anderen schrecklichen Kapitel verhindern, die passieren können, wenn wir, wenn die europäischen Regierungen, keine entschlossene und harte Haltung gegenüber Israel einnehmen. Nicht nur für das, was es in Gaza tut, sondern für seine gesamte Politik und Haltung gegenüber den Palästinensern und den arabischen Nachbarn.
Etos.media: Sie haben erwähnt, dass es irgendwann das Ende von Netayahus Herrschaft geben könnte. Schauen Sie in Ihre Kristallkugel. Was sagen Sie voraus? Wann wird das sein? Wie könnte dieses Ende herbeigeführt werden?
Ilan Pappe: Ich weiß nicht, wann das sein wird. Er könnte die Wahlen im Jahr 2026 verlieren. Das ist das einzige Szenario, bei dem ich mir vorstellen kann, dass er verliert. Er kann die Wahlen aber auch gewinnen. Aber nehmen wir an, er verliert die Wahlen. Die Koalition, die ihn ersetzen könnte, würde von jemandem namens Naftali Bennett angeführt werden. Ein rassistischer, rechtsgerichteter, israelisch-jüdischer Führer. Wie sehr würde sich dann die Politik ändern? Ich meine, um auf mein Buch zurückzukommen, wenn die israelische zionistische Linke bereit wäre, ein richtiges Bündnis mit den Palästinensern in Israel einzugehen, die 20 % der Wählerschaft ausmachen, dann hätte es eine andere israelische Regierung geben können. Aber die zionistische Linke würde nie ein richtiges Bündnis mit den Palästinensern in Israel eingehen. Sie wird also nie ein wichtiger Akteur in der israelischen Politik sein. Was man also hat, ist entweder eine sehr extreme Rechte oder eine rechte Mitte. Das bedeutet nichts für die Palästinenser. Es ist die gleiche Politik
Etos.media: Abgesehen von den sehr weit links stehenden Parteien, wie den Kommunisten, gibt es also keine wesentlichen Unterschiede zwischen den israelischen Parteien gegenüber den Palästinensern?
Ilan Pappe: Nein. Ich meine, es gibt welche. Die neue Demokratische Partei kann wahrscheinlich 10 Mitglieder im Parlament bekommen, von 120. 10 Mitglieder, die immer noch an eine Zweistaatenlösung glauben. Ich denke, sie glauben daran. Aber der Staat, den sie den Palästinensern anzubieten bereit sind, ist der Verbannten-Staat, den wir heute haben. Und wir sollten jetzt, 50 Jahre später, wissen, dass es sowieso nicht funktioniert.
Etos.media: Okay, dann reden wir jetzt über Netanyahu. Er steht wegen drei Korruptionsfällen vor Gericht, die jetzt während des Krieges mehr oder weniger auf Eis liegen. Aber ich glaube, vor ein paar Wochen wurden die Anhörungen fortgesetzt, nicht wahr…?
Ilan Pappe: Ja, es geht weiter… Es geht weiter und dann taucht er nicht auf… Ich denke, man sollte sich nicht zu sehr auf diesen Prozess verlassen.
Es gibt zwei Szenarien. Entweder wird er vollständig freigesprochen, was immer noch möglich ist. Wir müssen bedenken, dass er vor Gericht steht, aber nicht verurteilt wurde. Entweder wird er also freigesprochen, oder der Präsident, den er zu diesem Zweck ernannt hat, Jitzchak Herzog, wird ihm nach dem Urteil eine Amnestie gewähren, egal wie es ausfallen wird. So oder so sehe ich Netanjahu nicht im Gefängnis. Ich sehe nicht, dass seine politische Karriere durch ein Gerichtsverfahren beendet wird. Ich kann mir eine Menge politischer Veränderungen vorstellen, die ihn zu Fall bringen könnten. Aber nicht auf juristischem Wege. Ich zumindest würde kein Vertrauen mehr in das juristische Verfahren in Israel setzen.
Etos.media: Ich möchte noch einmal auf das sich verändernde Narrativ zurückkommen, über die wir vorhin gesprochen haben. Sie haben in Ihrer Arbeit, in Ihren Büchern über Jahrzehnte hinweg viel darüber geschrieben. Sie haben viel über die Auslöschung der Palästinenser und der palästinensischen Geschichte und die herausragende Mitschuld des Westens an der Aufrechterhaltung dieser Situation geschrieben. Israel ist ein Siedlerkolonialstaat. Wie sehen Sie nun den jüngsten Wandel im politischen Diskurs? Handelt es sich dabei um einen echten Bruch mit der jahrzehntelangen Unterstützung oder ist es nur ein Weg, die Wahrnehmung zu steuern, während man im Grunde die Kernpolitik weiterführt?
Ilan Pappe: Nun, das hängt davon ab, über wen wir sprechen. Aber ich denke, es gibt eine dramatische Verschiebung. Es gibt bestimmte Bereiche in der europäischen und westlichen akademischen Welt, im globalen Süden definitiv, wo die Leute nicht mehr die alte Sprache benutzen und an Universitäten lehren und forschen, dass Israel ein Apartheidstaat ist, dass Zionismus Kolonialismus ist, dass 1948 eine ethnische Säuberung war. Und das wächst. Das wächst. Ich sage nicht, dass dies überall der Fall ist. Und der akademische Mainstream sträubt sich noch immer gegen diese Veränderung der Wahrnehmung und der Konzepte, aber es geschieht. Die Zivilgesellschaften in vielen Ländern, nicht überall, die Gewerkschaften zum Beispiel, sind jetzt völlig solidarisch mit dem palästinensischen Kampf, was vor 30 Jahren nicht der Fall war.
Weite Teile der Zivilgesellschaft befinden sich heute in einer ganz anderen Lage als noch vor 30 Jahren. Palästina hat also eine globale Allianz, welche es unterstützt, aus großen Teilen der Zivilgesellschaft. Was wir noch nicht sehen, was aber passieren könnte, ist, dass die politischen Medien, die intellektuellen und kulturellen Eliten insbesondere der westlichen Gesellschaften angemessen auf das reagieren, was nach Meinung vieler Menschen in ihrer eigenen Gesellschaft die Haltung gegenüber Palästina und Israel sein sollte. Ist das Letzte, was wir hören, die richtige Richtung? Ja. Sind sie ein Hinweis darauf, dass es einen grundlegenden Wandel gibt? Wir müssen abwarten und sehen. Es ist zu früh, um das zu sagen. Aber ich muss Ihnen sagen – denn ich bin seit 40 Jahren in der Solidaritätsbewegung tätig – ich kann ihnen sagen dass die Herausforderungen, mit denen wir vor 30 Jahren konfrontiert waren, weitaus ernster waren als die, mit denen wir heute konfrontiert sind,. Wenn ich also vor 30 Jahren gewusst hätte, wie groß die Solidaritätsbewegung ist, wie erfolgreich sie in vielerlei Hinsicht ist, hätte ich Ihnen nicht geglaubt, weil wir das Gefühl hatten, dass das Wort Palästina selbst als Terrorismus angesehen wurde.
Es gibt also dramatische Veränderungen. Wir wissen, dass sie nicht ausreichen, weil sie die Realität vor Ort nicht beeinflusst haben. Aber es gibt definitiv eine Veränderung in der Wahrnehmung Palästinas und Israels. Als Aktivisten suchen wir nach Wegen, um damit etwas zu bewirken. Das ist bisher nicht geschehen.
Etos.media: Okay, wenn Sie also die Jahrzehnte überblicken, sehen Sie einen Wandel zum Besseren in der Palästina-Solidaritätsbewegung, in Israel?
Ilan Pappe: Ja.
Etos.media: Aber wenn wir den Blick noch einmal verengen, denn vor einem halben Jahr haben wir eine Person von new profile interviewt, von dieser Anti-Kriegs-NGO in Israel, und sie sagte, in den letzten ein, zwei Jahren, nachdem der Krieg begonnen hat, wurde es für linke, radikale linke Aktivisten, für Friedensaktivisten in Israel zur Hölle, die Repression geht durch die Decke. Können Sie darüber ein wenig sprechen?
Ilan Pappe: Ja. Aber um ehrlich zu sein, sind sie nicht so wichtig wie das Gesamtbild. Denn wir müssen akzeptieren, dass es innerhalb Israels keine Veränderung geben wird. Wir müssen es akzeptieren. Israel wird sich nicht ändern. Was sich ändern wird und ändert, ist Israels Position in der Region, ist Israels Position in der Welt. Israels Fähigkeit, sich wirtschaftlich und sozial zu erhalten, und all das verändert sich. Ich meine – es tut mir leid, dass ich einer dieser antizionistischen Israelis bin, aber ich glaube nicht, dass wir die Macht haben, etwas zu ändern. Wir sollten weiter arbeiten. Das ist sehr wichtig. Es ist übrigens nicht nur wichtig, weil wir die Macht haben, etwas zu ändern. Es ist auch wichtig für die Zeit nach der Befreiung. Die Palästinenser würden sich daran erinnern, dass nicht alle israelischen Juden Teil des völkermörderischen Apartheidregimes waren. Das ist sehr wichtig für die Entkolonialisierung. Für eine ordentliche Dekolonisierung. Und deshalb ist dies nicht das Anliegen. Das Anliegen ist, sich jetzt auf die Palästinenser zu konzentrieren. Nicht nur die wenigen antizionistischen Israelis. Der Fokus liegt auf den Palästinensern, weil sie jetzt vor dem schlimmsten Kapitel in ihrem Leben stehen. Aber das schlimmste Kapitel, weil es das Ende dieses Kapitels ist. Nicht, weil es der Beginn eines neuen Kapitels ist.
Und dieses Kapitel wird zu Ende sein. Ich habe keine Kristallkugel. Ich werde nicht unverantwortlich sein und den Menschen in Gaza sagen, dass ich genau weiß, wann die israelischen Aktionen aufhören werden. Ich wünschte, ich könnte es. Aber es handelt sich um einen langfristigen Prozess des Zerfalls Israels. Es wird geschwächt. Ist es ein totaler Zusammenbruch, wie ich glaube, dass es am Ende sein wird? Ich weiß es nicht. Es ist noch zu weit in der Zukunft, aber ich glaube definitiv, dass es dorthin führt. Ich kann mir vorstellen, wie ein Zusammenbruch aussehen würde und so weiter, aber für mich ist es wichtiger, ob die palästinensische Nationalbewegung bereit ist, die Macht zu übernehmen. Denn sie wurden so viele Jahre lang daran gewöhnt, dass sie nicht gehört werden, dass ihre Position keine Rolle spielt. Und jetzt muss die Welt akzeptieren, dass sie uns sagen sollten, wie sie die Zukunft sehen. Nicht Ilan Pappe sollte Ihnen sagen, was die Zukunft ist. Sie sollten uns sagen, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Nicht in Bezug auf die Beendigung des Völkermordes. Ich spreche von der Zukunft eines Post-Israel und Palästina. Was wäre der Platz für die 8 Millionen Juden, die heute dort leben. Sie würden über das Verhältnis zwischen Säkularismus und einem sehr großen Respekt für Religion und Tradition, die Verbindung zur Welt entscheiden. Wie gehen wir mit der Umsetzung der Übergangsjustiz um, ob es ein Rückkehrrecht gibt? Was machen wir mit den Siedlungen? Wie entschädigen wir? Bestrafen wir die Menschen? Ich meine, all das sind sehr wichtige Fragen. Die meisten Palästinenser werden Ihnen jetzt sagen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, um darüber zu sprechen. Und wenn Sie in Gaza sind, haben Sie absolut Recht. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt. Aber wenn Sie nicht in Gaza sind, wenn Sie ein deutscher Palästinenser sind, dann ist es an der Zeit, darüber zu sprechen. Und es muss darüber gesprochen werden. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass der Zusammenbruch eine sehr langsame Bewegung ist und sich dann plötzlich beschleunigt.
Sehen Sie sich Südvietnam an, sehen Sie sich den Fall Jugoslawiens an. Ich meine, das sind alles unterschiedliche historische Fälle, und ich sage nicht, dass es dasselbe sein wird. Aber eines haben sie gemeinsam, einschließlich der Apartheid in Südafrika und der diktatorischen Regime in Osteuropa und der diktatorischen Regime in Lateinamerika: Der Fall ist sehr langsam, aber das Ende des Falls ist sehr schnell. Und wenn man keine Idee hat, wie man es ausfüllen kann, wird es zum Chaos. Schauen Sie sich Syrien an, das wird zum Chaos. Ich denke also, es ist gut, aus palästinensischer Sicht optimistisch zu sein. Und ich denke, für die meisten Israelis, selbst für Antizionisten, ist die Aussicht, kein Israel und stattdessen einen demokratischen Staat vom Fluss bis zum Meer zu haben, vielleicht ein erschreckendes Szenario. Für mich ist es ein positives Szenario. Ich bin sicher, dass es nicht einfach ist, und ich weiß nicht, ob es funktionieren wird oder nicht, aber ich denke, es ist eine bessere Vision als die anhaltende Realität, die wir haben. Und ich glaube nicht, dass eine Zweistaatenlösung ein Ersatz dafür ist, sondern nur ein einzelner demokratischer Staat. Aber ich kann verstehen, dass dies für israelische Juden beängstigend ist. So wie es für die Weißen im Apartheid-Südafrika war.
Etos.media: Ich möchte nur kurz auf einen Satz zurückkommen, den Sie vorhin gesagt haben, und der, glaube ich, für europäische Linke sehr ernüchternd ist. Denn unter Europäern gibt es oft die Vorstellung, dass wir die antizionistischen Kräfte in Israel unterstützen müssen und dann, Sie wissen schon, werden wir in einigen Jahren eine Utopie haben. Das ist oft der Gedanke. Ich selbst habe in Israel gelebt, kenne das Land also zumindest ein bisschen, aus eigener Erfahrung. Können Sie es also klar sagen? Wie ist die Situation der israelischen Linken heute?
Ilan Pappe: Von der israelischen Linken ist nur noch sehr wenig übrig. Die zionistische Linke funktioniert kaum noch. Aber sie war immer ein Anathema. Man kann nicht ein linker Kolonisator sein. Das funktioniert nicht. Die antizionistische Linke ist sehr wichtig, sehr mutig. Das sind die einzigen Menschen, die gegen den Krieg demonstrieren, weil er ein Völkermord ist. Die Zahl wächst, muss man sagen, aber es ist immer noch ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie ich schon sagte, sind sie wichtig für die Zukunft. Ich glaube nicht, dass sie die Macht haben, etwas zu ändern. Aber sie müssen, und ich denke, das ist wichtig, mit der Solidaritätsbewegung in der Welt und in der Region zusammenarbeiten. Denn die Palästinenser haben nicht die militärischen, politischen oder wirtschaftlichen Möglichkeiten, die israelische Absicht, sie zu eliminieren, aufzuhalten. Sie können es verlangsamen. Sie werden nicht aufgeben. Das wissen wir. Und sie werden nicht verschwinden. Aber um sie zu stoppen. Die Palästinenser brauchen ein Bündnis. Und jedes Mitglied der Allianz ist wichtig. Und antizionistische Juden in Israel und antizionistische Juden in Deutschland, religiöse und säkulare Christen, der globale Süden.Man braucht eine sehr große und starke Allianz, um ein solches Projekt zu verändern. Und noch mehr, wenn man will, dass es durch etwas Positives ersetzt wird, das Hoffnung gibt, und nicht durch etwas – wissen Sie, so viel Entkolonialisierung endete mit postkolonialen Regimen, mit denen wir nicht sehr glücklich sind. Wir können alle Frantz Fanon darüber lesen – und deshalb denke ich, dass sie sehr wichtig sind, die antizionistischen Juden, und sie wachsen, was ein gutes Zeichen ist, aber ich würde nicht sagen, dass sie der Faktor sind, der die Realität verändern würde.
Ich würde den Leuten sagen, dass sie sie natürlich weiterhin unterstützen sollen. Unterstützen Sie sie weiterhin. Und es hilft ihnen zu wissen, dass sie, wenn sie nach Deutschland kommen, nicht eine Minderheit sind. Das ist wichtig für Menschen, die völlig isoliert sind und von ihrer eigenen Gesellschaft als Verräter angesehen werden. Sie kommen und die Leute sagen: ‚Nein, nein, ihr steht auf der richtigen Seite der Geschichte‘, ‚Wir bewundern euch‘, ‚Wir, ich weiß nicht, wir respektieren euch‘, und so weiter. Das ist sehr wichtig. Und das gibt ihnen einen Rettungsleine, um ihre Arbeit fortzusetzen. Und wie ich schon sagte, sie würden ihren eigenen Beitrag leisten. Aber es ist wichtig, eine Perspektive für die Rolle zu haben. Und wo liegt sie in dem allgemeinen Versuch, die Realität zu verändern?
Etos.media: Die Realität verändern. Das ist ein gutes Wort. Gestern habe ich gerade wieder Ihren Essay The Collapse of Zionism gelesen, der im Juni 2024 in der New Left Review veröffentlicht wurde. Darin schreiben Sie, Zitat: „Wir sind Zeugen eines historischen Prozesses, der wahrscheinlich im Untergang des Zionismus gipfeln wird, oder an einer anderen Stelle, noch deutlicher, sogar in der Zerstörung des zionistischen Projekts in Palästina.“ In diesem Aufsatz stützen Sie Ihre Vorhersage auf sechs Indikatoren. Da ich glaube, dass es sich um einen sehr wichtigen und lesenswerten Aufsatz handelt, möchte ich ihn ein wenig näher beleuchten.
Lassen Sie uns also zunächst kurz diese sechs Indikatoren durchgehen und wie diese mit Ihrer These vom Zusammenbruch des Zionismus zusammenhängen. Ich nehme an, Sie haben sie nicht im Kopf, also habe ich sie aufgeschrieben…
Ilan Pappe: Das ist richtig.
Etos.media: Ich nenne Ihnen einfach die sechs Indikatoren und Sie sagen kurz, was Sie in Ihrem Essay im Sinn hatten. Also, der erste ist „Zersplitterung der israelisch-jüdischen Gesellschaft“.
Ilan Pappe: Ja, zunächst einmal spreche ich über den Anfang vom Ende. Es ist wichtig, dass das Ende noch nicht gekommen ist. Aber es ist ein Anfang. Es kann ein langer historischer Prozess sein. Die israelische jüdische Gesellschaft implodiert von innen heraus. Es herrscht eine Art Bürgerkrieg, die säkularen, liberalen Juden haben mit den traditionelleren, religiösen und messianischen Juden, die ich in diesem Artikel als Staat Judäa bezeichne, nichts mehr gemein. Die Art der israelisch-jüdischen Gesellschaft, die im besetzten Westjordanland entstanden ist und die von vielen der sozial und wirtschaftlich schwächeren Teilen der israelischen Gesellschaft unterstützt wird. Und das bedeutet, dass die andere Seite, die wohlhabende Seite, die Seite, die das Geld hat, die Seite, die meistens auch die doppelte Staatsbürgerschaft hat, sie bereits verlassen hat. Es geht also nicht nur darum, dass es an sozialem Zusammenhalt mangelt. Der Mangel an sozialem Zusammenhalt führt zur Flucht der Elite aus Israel, die bereits begonnen hat. Ein Staat ohne wirtschaftliche und kulturelle Elite wird es sehr schwer haben, richtig zu funktionieren. Das ist also das eine Indiz.
Etos.media: Okay. Zweiter Indikator: „Israels Wirtschaftskrise“.
Ilan Pappe: Ja. Das ist noch schlimmer, als ich dachte, als ich den Artikel schrieb. Israel hat jetzt ein Defizit von 20 Milliarden Dollar, nur wegen der Ausgaben für den Gazastreifen und die anderen. Wie Sie wissen, hat ein Staat mehr Ausgaben…
Etos.media: Sie meinen also ein jährliches Defizit von 20 Milliarden?
Ilan Pappe: Ja und Amerika unter Trump wird nicht mehr als 20 Milliarden geben. Selbst die 20 Milliarden sind zu viel für Trump. Er weiß nicht, wie. Und er ist nicht derjenige, der die 20 Milliarden gegeben hat. Es war Biden.
Amerika wird die Rechnung also wahrscheinlich nicht bezahlen. Europa wird die Rechnung wahrscheinlich nicht bezahlen. Was machen also die israelischen Ökonomen jetzt? Sie nehmen das Geld der nationalen Sicherheit. Das gesamte Rentengeld der meisten Israelis wird jetzt von der Regierung genommen. Natürlich haben sie gesagt, ‚wir werden es zurückgeben‘. Aber sie werden es nicht zurückgeben, meiner Meinung nach. Und damit werden Siedlungen im Westjordanland finanziert, jüdische traditionelle Ideen, wie sie es nennen, und ein Krieg, ein sehr langer Krieg. All dies führt auf mikroökonomischer Ebene zu enormen Auswirkungen auf die Bürger selbst.
Wir sollten also nicht nur auf das BIP schauen. Und Zahlen sind da auch nicht sehr wichtig. Und die Zahlen der Makroökonomie sind wichtig, weil sie beeinflussen, wie viel Israel an Krediten und Zinsen bekommen kann. Sie wissen schon, diese ganze Vorstellung von der Höhe der Kredite. Aber noch wichtiger ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass die sozialen und wirtschaftlichen Dienstleistungen in Israel schon jetzt nicht richtig funktionieren. Und das wird sich noch verschlimmern, denn das ist es, was eine wirtschaftliche, eine chronische Wirtschaftskrise schafft. Sie vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich, und sie erlaubt es dem Staat nicht, die elementaren Dienstleistungen zu erbringen.
Das haben wir bei dem letzten großen Brand in Jerusalem gesehen. Plötzlich wird den Menschen klar, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Fehlen eines Budgets für die Feuerwehr und der Tatsache, dass man einen Brand nicht kontrollieren kann. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Ich denke also, dass diese Krise weitergehen und sich sogar noch verschlimmern wirde. Und denken Sie daran, dass ich in dem Artikel sagte, dass nicht einer dieser Faktoren für sich allein zum Zerfall führt. Sie alle zusammen tragen dazu bei.
Etos.media: Der dritte Indikator ist „Israels wachsende internationale Isolation“.
Ilan Pappe: Was meiner Meinung nach ziemlich offensichtlich ist. Wir können es sehen. Wir haben darüber gesprochen. Die Isolation durch Millionen von Menschen, die Israel nicht akzeptieren und bereit sind, gegen Israel aktiv zu werden.
Ja. Die Isolation hat nicht dazu geführt, dass viele Staaten Sanktionen verhängt haben, aber wir haben darüber gesprochen. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich dies ändern wird. Und ich glaube, das wird sich irgendwann ändern.
Etos.media: Ich habe gerade heute Morgen gelesen, dass der indonesische Präsident bereit ist, Israel anzuerkennen, wenn sie im Gegenzug Palästina anerkennen. Und, wissen Sie, Indonesien ist das größte muslimische Land der Welt.
Ilan Pappe: Aber in Indonesien gibt es das gleiche Problem wie in Deutschland. Die politische Elite repräsentiert nicht das, was sich die meisten Menschen in Indonesien gewünscht hätten. Diese Regierungen sind also nicht für immer. Und die Menschen sind für immer.
Etos.media: Also, ein vierter Indikator : „ein Umbruch unter jungen Juden weltweit“.
Ilan Pappe: Ja. Und besonders in den Vereinigten Staaten. Generationen junger Juden verbinden ihre jüdische Identität nicht mehr mit dem Zionismus, und viele von ihnen denken, dass eine Möglichkeit, dies zu zeigen, darin besteht, sich an der Solidaritätsbewegung mit den Palästinensern zu beteiligen. Ohne echte jüdische Unterstützung bliebe Israel nur die Unterstützung der christlichen Zionisten und der Militärindustrie. Ich denke, das ist nicht genug, um ein Bündnis auf Dauer zu erhalten.
Etos.media: Indikator fünf ist dann eher überraschend, denke ich: „Schwäche der israelischen Armee“. Was meinen Sie damit?
Ilan Pappe: Oh, eine Armee, die zwei Jahre braucht, um eine Gorillabewegung zu besiegen, die keine Luftwaffe, keine Panzer, keine Artillerie hat, kann keine sehr überzeugende Armee sein. Und wenn Israel 1000 Soldaten und 100 gepanzerte Fahrzeuge braucht, um 12 Gorillakämpfer in Janine gefangen zu nehmen, was sagt Ihnen das? Dass diese Armee nicht in der Lage ist, einen richtigen Krieg zu führen. Nun, ich glaube nicht, dass es einen richtigen Krieg mit Jordanien oder Ägypten und so weiter geben wird. Aber es ist möglich, dass diese Länder ihre Haltung ändern werden. Und dann müssten sich die Israelis fragen. Kann man einen konventionellen Krieg führen?
Es ist etwas anderes. Es ist eine Sache, den Iran aus der Luft zu bombardieren. Es ist eine andere Sache, richtige Armeen an den eigenen Grenzen zu bekämpfen. Und die Art und Weise, wie Israel die Hisbollah und die Hamas bekämpft hat, verheißt nichts Gutes für die Fähigkeit Israels, das zu tun, was sie zum Beispiel 1967 erfolgreich getan haben.
Etos.media: Und der sechste und letzte Indikator ist die „Erneuerung der Energie unter der jüngeren Generation der Palästinenser“.
Ilan Pappe: Ich denke, Israel hat lange Zeit von der Zersplitterung und Uneinigkeit des palästinensischen politischen Systems profitiert. Fatah und Hamas, und ich brauche nicht zu erklären, wie schwierig die gegenwärtige politische Situation ist. Ich denke jedoch, dass die jüngere palästinensische Generation eine viel einheitlichere Vision hat und eine viel klarere Haltung gegenüber Israel und dem Zionismus einnimmt. Ein sehr guter Blick, sehr gut verankert in der Welt, wo auch immer sie sind. Sie brauchen immer noch eine Organisation, denke ich. Aber abgesehen davon denke ich, dass die Welt in Zukunft eine ganz andere palästinensische Position vorfinden wird. Diese würde nicht auf der Zwei-Staaten-Lösung basieren und würde nicht diese Einheit widerspiegeln, sondern vielmehr Einheit. Und das wäre wiederum ein sehr wichtiger Faktor, um die Realität zu verändern.
Etos.media: Ich denke, dass Sie mit Ihren sechs Indikatoren ein sehr starkes Argument für Ihre These vom beginnenden Zusammenbruch des Zionismus geliefert haben. Ich möchte Ihnen ein Gegenargument geben und sehen, ob Sie es für ein legitimes Argument halten.
Ilan Pappe: Okay.
Etos.media: Denn wenn wir uns die harten Fakten vor Ort ansehen, erscheint der Zionismus in diesen Tagen als historisch stark und durchsetzungsfähig. Der größte Teil des Gazastreifens ist besetzt, Syrien ist weit über die Golanhöhen hinaus besetzt.
Ilan Pappe: Ja.
Etos.media: Wie nie zuvor, vielleicht, wahrscheinlich, ist die Siedlungsexpansion in der West Bank dieser Tage einfach auf Steroiden. Das sind alles starke Argumente dafür, dass der Zionismus ziemlich stark ist. Wie bringen Sie also Ihre These mit den aktuellen Realitäten vor Ort in Einklang?
Ilan Pappe: Im Gegenteil, sie beweisen meinen Standpunkt. Es beweist, dass der Zionismus jetzt zu einem regelrechten faschistischen, einem nationalistischen messianischen Regime verkommt. Ohne internationale Unterstützung kann er nicht überleben. Das ist eine große Frage für die Welt. Ist dies die Art von Staat, die Unterstützung erhalten wird oder nicht? Und ich denke, wenn diese Art von Verhalten fortgesetzt wird, wäre es viel schwieriger, ihn zu unterstützen, und in dem Moment, in dem er die internationale Unterstützung von oben verlieren würde, würden alle diese Aktionen nicht mehr zählen. Ein Staat besteht nicht aus einer Luftwaffe und Atomwaffen. Ein Staat ist eine organische Gesellschaft. Und diese organische Gesellschaft funktioniert nicht. Was also zählt, ist nicht nur die tödliche und zerstörerische Kraft Israels im Moment. Natürlich haben sie es mit einem sehr schwachen Gegner zu tun. Einer unbewaffneten Zivilbevölkerung, und so ist es nicht überraschend, dass sie so gut abschneiden. Wie ich schon sagte, würden sie nicht so gut abschneiden, wenn die arabische Welt gegen sie in den Krieg ziehen würde. Das ist also kein Zeichen von Stärke, das ist ein Zeichen von Wahnsinn. Wahnsinn hält nie lange an. Er ist sehr gefährlich. Viele Menschen leiden darunter, aber irgendwann wird es zum Zusammenbruch führen.
Etos.media: Okay, letzte Frage. Denn wir sind in Deutschland. Sie sind für zwei, drei Tage in Berlin, für ein paar Veranstaltungen denke ich.
Ilan Pappe: Ja.
Etos.media: Ich habe darüber nachgedacht, als ich einen anderen Beitrag von Ihnen vom Oktober 2023 gelesen habe, drei Tage nach Kriegsbeginn, also nach dem Angriff auf Israel. In Ihrem in der Palestine Chronicle veröffentlichten Beitrag mit dem Titel „Meine israelischen Freunde, deshalb unterstütze ich die Palästinenser“ skizzierten Sie Ihre Vision für die Region wie folgt, Zitat: „Ein entzionisiertes, befreites und demokratisches Palästina vom Fluss bis zum Meer“ – und ja, an den deutschen Verfassungsschutz: das war ein Zitat eines israelischen Historikers, das war nicht ich – in Deutschland würden Ihnen Medien und Politiker aller Couleur vorwerfen, dass Sie mit solchen Sätzen für die totale Vernichtung Ihrer jüdischen Mitbürger und sogar für einen zweiten Holocaust eintreten. Wie würden Sie darauf reagieren?
Ilan Pappe: Nun, es ist sehr beschämend und enttäuschend, dass dies das Niveau der Analyse der deutschen Politiker und derjenigen ist, die sie in diesen Dingen beraten. Ob das nun Akademiker, Journalisten oder Experten sind. Zu sagen, dass der demokratische Staat, in dem Juden und Nicht-Juden gleichberechtigt zusammenleben, eine Idee der Nazis sei, ist ein Missbrauch der Erinnerung an die Nazis und den Holocaust. Hier zeigt Deutschland wirklich einen Mangel an historischem Verständnis, Deutschland läuft Gefahr, zweimal auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Und das ist etwas, von dem ich nicht erwarte, dass Politiker es verstehen, weil sie nur daran interessiert sind, in diesem Land wiedergewählt zu werden. Von den Akademikern und Intellektuellen hätte ich allerdings erwartet, dass sie nicht so schwachsinnig reden und das tun, was sie sehr gut können. Wenn sie die Situation in der Ukraine analysieren oder sich mit der Geschichte des Kolonialismus, sogar in Namibia, befassen, leisten sie sehr gute Arbeit. Warum benutzen sie nicht die gleichen Werkzeuge für die kolonialistische Realität in Palästina? Und anstatt sich auf eine richtige Diskussion einzulassen, bringen sie uns mit dem Vorwurf des Antisemitismus und der Holocaust-Leugnung zum Schweigen. Das ist oberflächlich. Das ist nicht ernst gemeint. Und die Geschichte wird auf sie zurückblicken als sehr gefährlich, weil sie, wie ich sagte, zweimal auf der falschen Seite der Geschichte standen.
Etos.media: Ich denke, das ist eine sehr gute Schlussbemerkung. Ich danke Ihnen vielmals. Es war ein tolles Interview.
Ilan Pappe: Ich danke Ihnen.




