„Die Fahne der Menschlichkeit hochhalten“ – auf zur Demo am 27.9. in Berlin

Andernorts gehen solidarische Menschen in Massen gegen Israels Genozid in Gaza auf die Straßen – in Deutschland sind die Zahlen eher bescheiden. Am Samstag soll sich das bei der „Zusammen für Gaza“-Demo in Berlin ändern. By Can Pac Swire from Toronto, Canada, licensed under CC BY-SA 2.0.

Özlem Demirel ruft zur Großdemo „Zusammen für Gaza“ auf: Am 27. September soll in Berlin ein unüberhörbares Signal gegen den Genozid in Gaza und die deutsche Komplizenschaft mit der Netanjahu-Regierung gesetzt werden. Im Interview spricht die Europaabgeordnete (The Left) über Heuchelei westlicher Regierungen, den Druck von der Straße – und warum wir alle unsere Stimme für die Palästinenserinnen und Palästinenser erheben müssen.

etos.media: Sie sind Erstinitiatorin der Demo „Zusammen für Gaza“. Was ist das zentrale politische Signal, das am 27. September von Berlin ausgehen soll?

Özlem Demirel: Das Signal lautet: Es reicht! Das, was in Gaza geschieht, darf nicht weitergehen – und es muss Schluss sein mit der deutschen Komplizenschaft mit der Netanjahu-Regierung.

etos.media: Ihre Demo soll an der Siegessäule unweit des Regierungsviertels enden. Wenn die Damen und Herren denn mal zuhören würden – was ist ihre Message an Kanzleramt und Bundestag?

Özlem Demirel: Fakt ist ja, dass die deutsche Bundesregierung seit nunmehr knapp zwei Jahren schon den Genozid an den Menschen in Gaza unterstützt – politisch, militärisch und ökonomisch. Und wir wollen, dass damit Schluss ist! Das bedeutet: keine militärische Kooperation mehr mit Israel, die sofortige Aussetzung des EU-Assoziationsabkommens und vor allem ein Ende des Genozids. Wer sich im Nahen Osten auskennt, weiß: Ohne die massive Rückendeckung des Westens hätte Netanjahu niemals so weit gehen können.

etos.media: Sie sitzen für die Linke im Europaparlament. Traditionelle europäische Verbündete Israels wie Großbritannien oder Frankreich gehen mit der Anerkennung Palästinas nun erste Schritte, sich vom Netanjahu-Regime zu distanzieren. Ist das reiner Opportunismus und Selbstschutz oder ist das aufrichtige Solidarität mit den Palästinensern?

Özlem Demirel: Weder Großbritannien noch Frankreich noch Deutschland oder die USA handeln aus ehrlicher und aufrichtiger Solidarität mit den Palästinenserinnen und Palästinensern. Wenn das der Fall wäre, hätten sie es nie so weit kommen lassen – und jetzt wird auch noch Gaza-Stadt vollständig zerstört. Wir haben es mit einer ultrarechten, zionistischen Regierung in Israel zu tun, die seit Jahren insbesondere von den USA, aber auch von den europäischen Staaten, massiv gestützt wird.

Und zur Wahrheit gehört auch, dass die jetzt verkündete Anerkennung Palästinas durch Länder wie Großbritannien und Frankreich vor allem das Resultat des immensen Drucks aus der Bevölkerung ist. In Großbritannien sind seit fast zwei Jahren immer wieder Hunderttausende auf die Straße gegangen – das kann keine Regierung ignorieren. Mit der Anerkennung wollen diese Staaten nun den Eindruck erwecken, sie stünden an der Seite der Palästinenser und die Netanjahu-Regierung sei „zu weit gegangen“. Doch die Regierung ist natürlich schon früher viel „zu weit“ gegangen – der Genozid hat ja nicht erst heute früh begonnen. Und insofern ist das natürlich Opportunismus.

Hinzu kommt, dass Großbritannien und Frankreich gar nicht klar benennen, welche Grenzen sie denn anerkennen wollen. Sie bleiben bewusst vage, anstatt Palästina eindeutig in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, wie es das Völkerrecht vorsieht. Frankreich knüpft seine Anerkennung sogar an weitere Bedingungen. Das zeigt, wie zynisch und opportunistisch dieses Vorgehen tatsächlich ist.

etos.media: Denken Sie, dass die jüngste Anerkennung Palästinas durch mittlerweile über zehn Staaten – auch kleinere wie Malta, Luxemburg oder San Marino – reale Konsequenzen hat? Oder ist das reine Symbolpolitik?

Özlem Demirel: Sie zeigt: Die Weltbevölkerung steht solidarisch an der Seite Palästinas. Überall werden palästinensische Fahnen geschwungen. Und es ist ja nicht so, dass die Leute einfach so anfangen, Nationalfahnen zu schwingen, weil sie auf einmal eine bestimmte Nation so toll finden. Das ist ein Ausdruck der Solidarität und der Menschlichkeit – und der Weigerung, all das Unrecht, was dem palästinensischen Volk angetan wird, weiter hinzunehmen. Seit 1967 gibt es völkerrechtlich definierte Grenzen und seitdem reden westliche Staaten davon, sie würden für die Zweistaatenlösung stehen – doch anerkannt hatten sie nur den einen Staat. Dieser Widerspruch entlarvt sie selbst. Die Menschen in Palästina haben ein unveräußerliches Recht auf eine freie und selbstbestimmte Zukunft. Dass westliche Regierungen jahrzehntelang eine Lösung propagiert haben, die sie in Wirklichkeit nie anerkannt haben, ist nichts anderes als Heuchelei.

etos.media: Die Bundesregierung hat immer wieder klargemacht, dass es mit ihr – zumindest mittelfristig – keine Anerkennung geben wird. Außenminister Wadephul sagte vor kurzem, die Anerkennung müsse am Ende eines politischen Prozesses stehen und dass dieser „jetzt beginnen“ müsse. Sollte ihm vielleicht jemand mal verraten, dass dieser Prozess bereits vor über 30 Jahren in Oslo begonnen hat?

Özlem Demirel: Das wäre wahrscheinlich sinnvoll. Manchmal scheint es, als hätte die Bundespolitik die Geschichte aus dem eigenen Gedächtnis gelöscht. Tatsächlich begann dieser Prozess lange vor Oslo: Es gibt seit Jahrzehnten eindeutige UN-Resolutionen zur Anerkennung Palästinas. Warum wurden diese bis heute nicht umgesetzt? Viele Palästinenser sagen inzwischen, die Zweistaatenlösung war nie mehr als Hinhaltepolitik. Denn der Westen verfolgt über Israel im Nahen Osten eigene geostrategische Interessen. Völkerrechtliche Prinzipien werden nicht ernst genommen, geschweige denn durchgesetzt.

etos.media: Zurück zur Demo. In Deutschland gibt es im Vergleich zu vielen anderen Ländern besonders starken Gegenwind von Politik und Medien, wenn öffentlich für die Rechte der Palästinenser eingetreten wird. Demos werden schnell als „antisemitisch“ diffamiert. Was entgegnen Sie solchen Angriffen?

Özlem Demirel: In Deutschland, mit der Geschichte des Holocaust und der millionenfachen industriellen Vernichtung von Jüdinnen und Juden, muss man beim Thema Antisemitismus sehr sensibel sein. Aber es ist zynisch, wenn gerade dieses Land, das heute einen Genozid unterstützt, ausgerechnet mit diesen Begrifflichkeiten versucht, Widersprüche gegen die eigene Außenpolitik in Gaza zu unterdrücken.

Doch das zieht in der Bevölkerung nicht mehr. Es geht nicht um Antisemitismus, sondern darum, dass – anders als vor 100 Jahren – im Livestream von uns allen beobachtet werden kann, wie ein Genozid vollzogen wird. Die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und der industriellen Vernichtung von Jüdinnen und Juden lautet „Nie wieder“ – und das heißt: die eigene Stimme erheben, wenn Unrecht geschieht. Genau das tun wir auf unseren Demos und Millionen Menschen weltweit, darunter auch viele Israelis und Jüdinnen und Juden, die sich solidarisieren.

etos.media: Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben, die noch unsicher sind, ob sie am Samstag zur Demo kommen sollen?

Özlem Demirel: Wer unsicher ist, sollte wissen: Die Geschichte wird auch über uns urteilen, wenn wir jetzt nicht die Stimme erheben. Ich bitte darum, die Unsicherheit beiseite zu wischen. Nicht jeder Mensch neben mir in der Demo muss meine Position exakt vertreten, darum geht es überhaupt nicht. Wir müssen gemeinsam die Fahne der Menschlichkeit hochhalten und für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser auf die Straße gehen.

etos.media: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview mit der Europaabgeordneten Özlem Demirel wurde am 24. September von etos.media-Redakteur Jakob Reimann geführt.

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