80 Jahre nach der Niederlage des Faschismus gerät der 8. Mai zunehmend unter politischen Beschuss: Die deutsche Außenpolitik nutzt den Ukraine-Krieg, um sich vom historischen Erbe der Befreiung durch die Rote Armee zu distanzieren. Es bedarf dringend einer kritischen Auseinandersetzung mit selektiver Erinnerungskultur und geschichtspolitischem Opportunismus und der Stärkung des zivilgesellschaftlichen Gedenkens.
Mit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition endete der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Verbrechen des deutschen Faschismus. Dafür steht der 8. Mai. Auch jüngste Ereignisse wie der zu verurteilende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dürfen an dieser historischen Tatsache nichts ändern. Gegen die Geschichtsklitterung der Rechten und die verkommene Gedenkpolitik der BRD gilt es, die Perspektive derjenigen aufzugreifen, die den 8. Mai als Befreiung erlebten.
Ein Teil des historischen Erbes für Antifaschistinnen ist es, den 8. Mai als Befreiung durch die Rote Armee zu feiern. Konträr zu diesem antifaschistischen Ansatz steht die Gedenkpolitik der abgewählten Ampel-Regierung. Kurz vor dem Regierungswechsel griff das von Annalena Baerbock geführte Auswärtige Amt (AA) in die Gedenk- und Erinnerungsarbeit der Länder und Kommunen ein und empfahl ihnen, keine diplomatischen Vertreter aus Russland und Belarus einzuladen oder ihnen die Teilnahme an Veranstaltungen zum Gedenken an die Befreiung von Nazi-Deutschland zu verweigern. Dieser Eingriff in die Erinnerungsarbeit hebt die staatlich verordnete Russophobie auf eine neue Stufe. Ein neuer Tiefpunkt in den deutsch-russischen Beziehungen ist damit erreicht.
Dass die Weisung auch belarussische Vertreter und damit enge Verbündete Putins betrifft, zeugt von einer simplen Freund-Feind-Logik, die im AA vorherrscht. Und dies ausgerechnet bei einem Land, in dem die Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 in mindestens 4.885 Dörfern mehr als 300.000 Zivilisten lebendig verbrannt hat, wie es im letzten Jahr in dem auf Deutsch erschienenen Buch „Feuerdörfer“ dargelegt wird. Auch über 80 Jahre danach dürfte dieser Aspekt der deutschen Verbrechen im Osten nicht präsent sein, wie so vieles über den deutschen Vernichtungsfeldzug nicht im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert ist.
Die Weisung des AA wird mit dem russischen Angriffskrieg und einer befürchteten Instrumentalisierung des „Weltkriegsgedenkens“ begründet. Sollten künftig ausschließlich Staatsvertreter an Gedenkveranstaltungen teilnehmen, deren Regierungschefs der BRD wohlgesonnen sind, wird die staatliche Gedenkpolitik selektiv. Sollten völkerrechtswidrige Angriffskriege künftig als Indikator für die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen herangezogen werden, dann dürfte Deutschland ebenfalls Ausladungen kassieren. Die völkerrechtswidrigen Kriege in Jugoslawien oder Afghanistan lassen grüßen.
Durch die Anweisung des AA laufen die BRD-Offiziellen jedoch selbst Gefahr, den Ukraine-Russland-Krieg zu instrumentalisieren. Es scheint, als würde vor dem Hintergrund dieses Krieges die Gunst der Stunde genutzt, um sich endgültig von der historisch zu tragenden Last gegenüber Russland zu lösen. Die Vermengung des Russland-Ukraine-Krieges mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai ist gravierend, weil sie der rechten Geschichtsumschreibung Vorschub leistet und indirekt die mörderische Brutalität des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Osten relativiert.
Auch 80 Jahre nach dem Ende des deutschen Faschismus und angesichts der Verantwortung für den Tod von 27 Millionen sowjetischer Bürger tun sich Offizielle der BRD schwer damit, dem heutigen Russland den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus anzuerkennen. Man könnte einwenden, dass dies nicht verwundert – schließlich existieren weder die Sowjetunion noch die Rote Armee. Doch die Gründe liegen tiefer und sind in der politischen Geschichte der alten Bundesrepublik zu suchen. Die Westbindung der alten BRD und ihre antikommunistische Kontinuität waren ursächlich dafür, den 8. Mai nicht als ein Verdienst der Roten Armee zu werten. Daher taugte dieser Tag in der BRD kaum als positiver Bezugspunkt oder gar als Staatsgründungsmythos – im Gegensatz zur DDR, wo genau dies der Fall war.
Die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in der damaligen Sowjetunion waren auch lange nach 1990 kein relevantes Thema. Die heftigen Reaktionen gegen die Wehrmachtsausstellung in vielen westdeutschen Städten zeigten auf, wie tief der Antikommunismus fortwirkte. Die Deutungshoheit über den 8. Mai war und ist in Deutschland umkämpft. Die Debatte um die Einführung des Tages als bundesweitem Feiertag könnte Anstoß geben, dies im vermeintlich wiedervereinten Deutschland nachzuholen.
Der diesjährige Umgang mit dem 80. Jahrestag zeigt jedoch eine gegenläufige Tendenz auf: 40 Jahre nach der Weizsäcker-Rede, die mit dem Begriff der Befreiung einen Paradigmenwechsel weg vom Opfermythos einleitete und damit erstmals die Perspektive der Opfergruppen des Faschismus in einem breiteren politischen Diskurs etablierte, ist Deutschland nicht bereit, den herausragenden Anteil der Roten Armee an dieser Befreiung zu würdigen und uneingeschränkt anzuerkennen. In Osteuropa wurden zahlreiche Orte der Shoa-Verbrechen durch die Rote Armee befreit. Befreit durch eine multiethnische Armee von Menschen aus Georgien, der Ukraine, Polen und vielen anderen sowjetischen Teilrepubliken. Dieses Gedenken an die Befreiung durch die Rote Armee muss wachgehalten werden, denn es hat nichts mit dem heutigen Russland und dessen Angriffskrieg unter Putin zu tun.
Währenddessen erreicht der Ruf nach einem Ende der NS-Erinnerungskultur in einer Umfrage der Memo-Studie in Deutschland erstmals eine relative Mehrheit. Demnach stimmen 38 Prozent der Befragten der Forderung zu, dass ein „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit gezogen werden müsse, 37 Prozent halten noch dagegen. Es ist spürbar, dass die Stimmen derer fehlen, die den 8. Mai auch unmittelbar als Befreiung erlebten, wie der jüdische Kommunist und Résistance-Kämpfer Peter Gingold, der die Befreiung als „Morgenrot der Menschheit“ bezeichnete, das die menschliche Zivilisation von der Nazibarbarei befreite. In seiner Rede zum 60. Jahrestag brachte er die Unterscheidung zwischen der selbst erlebten Befreiung vom Faschismus und der kollektiven Wahrnehmung der deutschen Mehrheitsbevölkerung auf den Punkt:
„Endlich Friede. Wer hatte in Deutschland nicht aufgeatmet?! Aber Befreiung? Errettet, befreit, erlöst, dieses Glück empfanden nur die Überlebenden des Widerstandes, die Inhaftierten der KZ, der Nazikerker, die im Exil, schließlich alle, auch wenn sie keinen Widerstand leisteten, im Innern Gegner des Naziregimes, im aufrechten Gang blieben. Jedoch für die große Mehrheit der Bevölkerung war die Niederlage des Nazireiches ihre Niederlage, besiegt zu sein, diese Schande vor allem von den Russen besiegt, nicht die Befreiung.“
Jenseits von offiziellen Gedenkveranstaltungen, finden rund um den 8. Mai zahlreiche Veranstaltungen mit und ohne Zeitzeugen statt, welche den Kampf der Roten Armee würdigen. Das schäbige Verhalten der deutschen Regierung muss Anlass sein, zivilgesellschaftliches nicht-staatliches Gedenken zu unterstützen.