Der 7. Oktober – ein beispielloses Trauma für Israelis und Palästinenser

Chenspec, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Der 7. Oktober ist mittlerweile ein ähnlich emblematisches Datum geworden, wie der 11. September. Der 7. Oktober steht für unfassbares Grauen und Gewalt. Fast 1.200 Menschen wurden von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen in Israel getötet, über 250 als Geiseln verschleppt; über 100 von ihnen befinden sich immer noch in Gaza – niemand weiß, wie viele von ihnen noch leben oder wie es ihnen geht. Ganze Familien sind darunter, wie die Bibas Familie, deren jüngster Sohn, Kfir, zum Zeitpunkt der Entführung gerade einmal acht Monate alt war. All das sind Kriegsverbrechen.

Der 7. Oktober ist ein traumatisches Datum für Israelis und für mit Israel verbundene Jüdinnen und Juden weltweit. Und er ist ein traumatisches Datum – das wird in der deutschen Debatte leider oft übersehen – für Palästinenserinnen und Palästinenser.

Denn am 7. Oktober begann für die Zivilbevölkerung in Gaza ein Alptraum, der bis heute andauert. Durch die Luftangriffe und die Bodeneinsätze der israelischen Streitkräfte wurden bislang fast 42.000 Menschen getötet, darunter über 16.000 Kinder. Wir alle kennen diese Zahlen. Aber das sind keine Zahlen, sondern es sind menschliche Schicksale. All diese Menschen hatten ein Leben, eine Familie, Freunde, eine Zukunft.

Laut den Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden im letzten Jahr 902 Familien gänzlich ausgelöscht; von 1.364 Familien hat nur eine einzige Person überlebt. Unzählige Familien haben mehrfach, oft dutzendfach Angehörige verloren. So wie Subhi Abu Radwan: der 72-jährige verlor bei einem israelischen Luftangriff auf Rafah der wahrscheinlich ein Kriegsverbrechen war am 19. April 2024 einen Sohn, seine Schwiegertochter und sechs seiner Enkelkinder. Jeder, der die Lage in Gaza seit dem 7. Oktober verfolgt, kennt das Schicksal der Reporter-Legende Wael Al-Dahdouh, dessen Frau, drei seiner Kinder und sein Enkelkind bei israelischen Angriffen getötet wurden. Man konnte, wenn man es denn nur sehen wollte, quasi live verfolgen, wie Wael Al-Dahdouh unter der Nachricht des Todes seines ältesten Sohnes Hamza, selber Al-Jazeera Journalist, zusammenbrach.

So ungeheuerlich die Todeszahlen sind, es sind nicht die bloßen Zahlen die schockieren sollten, sondern die getöteten Menschen. Der Aufruf „We are not numbers“ fordert zurecht voller Wut von uns allen ein, palästinensische Opfer endlich zu sehen – jeden und jede einzelne!  Die reale Erfahrung von Palästinensern und Palästinenserinnen im letzten Jahr ist aber genau das Gegenteil:

Die Entmenschlichung und Verunglimpfung von Palästinensern und Palästinenserinnen hat auf allen Ebenen ein bisher unbekanntes Maß angenommen. Palästinenser und Palästinenserinnen in Gaza wurden als „menschliche Tiere“ (Israels Verteidigungsminister Gallant) und pauschal als „Terroristen“ bezeichnet, israelische Regierungs- und Parlamentsvertreterinnen und Parlamentsvertreter sprechen offen davon, dass es in Gaza „keine unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten gäbe“. Die schockierenden Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza werden in Zweifel gezogen und Berichte von Augenzeugen und Überlebenden als „Pallywood“ lächerlich gemacht. In Deutschland haben Palästinenser und Palästinenserinnen in der Regel das Gefühl, noch nicht einmal öffentlich um ihre getöteten Angehörigen und Freunde trauern zu dürfen.

Dabei ist alles bestens belegt: Amnesty International hat im vergangenen Jahr zahlreiche Kriegsverbrechen untersucht und dokumentiert: Von der am 9. Oktober 2023 verhängten Blockade des Gazastreifens, die eine kollektive Bestrafung und damit ein Kriegsverbrechen darstellt, über die massenhaften Vertreibungen, die euphemistisch als „Evakuierungen“ bezeichnet werden. Die mutwillige Zerstörung von ziviler Infrastruktur ist ebenso ein Kriegsverbrechen wie die wahllosen und regelmäßig direkten Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten. Bislang konnte Amnesty insgesamt 16 Luftangriffe untersuchen und als mögliche Kriegsverbrechen einstufen – über 370 Menschen wurden bei diesen Angriffen getötet. Das ist nur die berühmte Spitze des Eisbergs: Die Untersuchung von Luftangriffen als Kriegsverbrechen ist sehr anspruchsvoll, da viele Informationen benötigt werden, um Fragen nach der Verhältnismäßigkeit oder den möglichen Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung beantworten zu können. Diese komplexen Recherchen müssen erfolgen, ohne das große Teams in den Gazastreifen einreisen dürfen. Denn nicht nur internationale Journalistinnen und Journalisten, auch internationale Menschenrechtsorganisationen bekommen von Israel keine Genehmigung nach Gaza zu reisen.

Heute, ein Jahr nach dem 7. Oktober ist der Gazastreifen in weiten Teilen unbewohnbar und es gibt keinen einzigen sicheren Ort. Von Israel als „sicher“ deklarierte Orte wurden wiederholt angegriffen, Menschen im Gazastreifen werden immer wieder innerhalb Gazas vertrieben. Aus Gaza fliehen, können Zivilistinnen und Zivilisten in aller Regel nicht.

Auch wenn die humanitäre Lage in Gaza nicht mehr die Schlagzeilen bestimmt, die Lage ist weiterhin katastrophal. Und ein erneuter Winter steht bevor. Mindestens 31 Menschen, Kinder und Ältere, sind bereits an Unterernährung und Dehydrierung gestorben. Human Rights Watch hat bereits im Dezember dokumentiert, wie Israel Hunger als Kriegswaffe einsetzt. Oxfam kommt in einer umfangreichen Analyse aus dem Juli dieses Jahres zu dem Schluss, dass Israel Wasser als Kriegswaffe einsetzt. All das sind Kriegsverbrechen. Die humanitäre Katastrophe ist politisch gemacht und gewollt. Sie braucht politische Antworten.

Israel hat das Recht und die Pflicht, alle Menschen unter seiner effektiven Kontrolle zu schützen. Das schließt das Recht ein, sich im Falle eines akuten oder unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriffes zu verteidigen. Dieses Recht ist jedoch nicht unendlich dehnbar. Denn Israel ist auch – wie jeder Staat in der Welt – an das humanitäre Völkerrecht und an international geltende Menschenrechte gebunden. Gegen beides verstößt Israel in massiver Weise – und erschreckenderweise bislang ohne echte Konsequenzen. Auch vor diesem Hintergrund sind die vom Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs beantragten Haftbefehle zu begrüßen, ebenso wie das Genozid-Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof.  Beides lässt hoffen, dass die jahrzehntelange Straflosigkeit in absehbarer Zeit ein Ende finden wird.

Wie wichtig eine juristische Aufarbeitung und Ahndung und eine damit verbundene Stärkung des internationalen Rechts ist, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Lage im Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem) und seit September 2024 auch in den Libanon. Die systematische Straflosigkeit für die Rechtsverletzungen im Gazastreifen, die so gravierend sind, dass der IGH bereits im Januar 2024 den Vorwurf des Genozids zumindest plausibel fand, ist eine wesentliche Grundvoraussetzung für das israelische Vorgehen in der Westbank und im Libanon.

Das fürchterliche Grauen des 7. Oktober und den Kontext sehen – beides geht!

Der Blick auf den 7. Oktober und das damit verbundene Trauma in der israelischen Gesellschaft ist richtig und er ist wichtig. Wer nicht gleichermaßen Empathie und Mitgefühl für jedes Opfer und jedes zerstörte Leben empfinden kann, kann nicht im Namen der Menschenrechte argumentieren.

Der Blick auf den 7. Oktober darf gleichzeitig nicht den Blick darauf verstellen, dass vieles von dem, was wir heute erleben müssen, strukturell schon sehr lange angelegt war. Antonio Guterres sagte am 24. Oktober 2023, dass die grausamen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober „nicht in einem Vakuum stattgefunden haben.“ Dieser Satz ist keine Relativierung von Kriegsverbrechen, wie manche ihm vorgeworfen haben. Kriegsverbrechen sind durch nichts zu rechtfertigen. Das internationale Recht ist da ganz klar.

Guterres‘ Satz ist eine politische Analyse. Amnesty International hat seit Jahrzehnten Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen durch Israel, die Palästinensische Behörde, die Hamas und andere bewaffnete Gruppen dokumentiert. Die rechtswidrige israelische Besatzung und Besiedelung palästinensischen Landes dauern mittlerweile seit 57 Jahren an und auch über die Tatsache, dass Israel das völkerrechtliche Verbrechen der Apartheid gegenüber den Palästinensern und Palästinenserinnen begeht, besteht international unter Kennerinnen und Kennern mittlerweile ein breiter Konsens. Und doch werden die allermeisten dieser Verbrechen und Rechtsverletzungen seit Jahrzehnten nicht geahndet.  

Jeder, der also irgendwie hoffnungsvoll auf die Zukunft der Region schauen möchte – was momentan schwerer fällt denn je – der muss diesen Kontext analysieren und zu verändern versuchen.

Ein Beitrag von Katja Fahlbusch, Fachreferentin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland. Amnesty ist Teil der Proteste für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel, die am 18.10 in Berlin stattfinden.

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