Bolsonaro wird nicht einfach abtreten – Im Gespräch mit Niklas Franzen

© André Groth

In einigen Wochen wird in Brasilien gewählt und es könnte das Ende der Rechtsaußen-Regierung von Präsident Jair Bolsonaro sein. Wir haben mit dem Journalisten und Brasilienexperten Niklas Franzen, der vor kurzem das Buch „Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte“ veröffentlicht hat, über die Wahl, das System Bolsonaro und die Chancen der Linken gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Du warst in den vergangenen Monaten in Brasilien und hast dazu ein Buch geschrieben. Wie ist die aktuelle Situation unter Bolsonaro?

Niklas Franzen: Brasilien hat sich unter ihm stark verändert, es wurde in seiner Regierungszeit weit zurückgeworfen. Das lässt sich in verschiedenen Bereichen beobachten, zum Beispiel in der Umweltpolitik. Er hat Umwelt- und Indigenenbehörden zerschlagen, er hat sich auf die Seite von Goldgräbern, Holzfällern und Viehzüchtern gestellt. Es hat eine regelrechte Invasion auf Amazonien stattgefunden.

Wichtig zu erwähnen ist aber vor allem die wirtschaftliche Situation. Brasilien wurde unlängst wieder auf die Welthungerkarte der UN gesetzt, die Inflation und die Energiepreise gehen durch die Decke. Das hängt auch mit Bolsonaros neoliberaler Politik zusammen.

Aber auch in gesellschaftspolitischen Fragen hat sich einiges verändert, in seiner Regierungszeit haben sich reaktionäre Evangelikale in der Regierung und den Behörden festgesetzt. Die Regierung versucht, die ohnehin schon strengen Abtreibungsregeln noch weiter zu verschärfen. Es lässt sich festhalten, dass es insgesamt einen unglaublichen Rückschritt unter Bolsonaro gab.

Die Freiheitsliebe: Trotz allem ist er einer der beiden Favoriten bei der anstehenden Präsidentschaftswahl. Wer unterstützt ihn noch?

Niklas Franzen: Man muss festhalten, dass es Bolsonaro 2018 gelungen ist, ein Momentum zu gewinnen. Er hat dies durch eine geschickte Medienarbeit erreicht und mit knackigen Äußerungen, die den Nerv der Bevölkerung getroffen haben. Viele dieser Brasilianer und Brasilianerinnen haben sich inzwischen von ihm abgewendet, das hängt mit der dilettantischen Corona- aber auch der Wirtschaftspolitik zusammen.

Trotzdem genießt er weiterhin Unterstützung von rund 25 Prozent der Bevölkerung. Das sind ganz unterschiedliche Leute, viele kommen aus dem Militär oder der Polizei, andere sind Großgrundbesitzer, der harte Kern ist die obere Mittelschicht. Man darf aber nicht den Fehler machen, den Bolsonarismus nur auf die Mittel- und Oberschicht zu reduzieren. Denn Bolsonaro genießt auch die Rückdeckung der Evangelikalen, die vor allem in den armen Vorstädten stark sind. Nicht wenige schwarze und arme Brasilianerinnen und Brasilianer unterstützen deshalb den Präsidenten.

Die Freiheitsliebe: Du hast die Unterstützung des Militärs angesprochen. Bedeutet das, Bolsonaro, der vor einigen Tagen öffentlich das Wahlsystem anzweifelte, könnte bei einer Wahlniederlage mit dem Gedanken eines Putsches spielen?

Niklas Franzen: Ich wäre zurückhaltend, von einem Putsch zu reden. Richtig ist allerdings, dass er Zweifel am elektronischen Wahlsystem nährt, für die es keinerlei Anzeichen gibt. Bolsonaro sagt „nur Gott“ könne ihn von der Präsidentschaft entfernen und er werde das Wahlergebnis nur anerkennen, wenn er siegt. Was genau geplant ist, ist schwer abzusehen. Ich glaube, dass er schon lange geputscht hätte, wenn er könnte. Allerdings fehlt ihm dafür die Unterstützung: der Medien, der Bevölkerung, aber auch von Teilen des Militärs. Bolsonaro ist selbst ein Hauptmann der Reserve, allerdings ist er bei einigen Generälen sehr umstritten. Als junger Soldat plante er einmal einen Bombenanschlag, um einen höheren Sold durchzusetzen und auch sein pöbelnder Ton missfällt einigen Generälen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Militärs progressiv oder links sind, ganz im Gegenteil: Die meisten sind stramm rechts und haben durch Bolsonaro weitreichende Privilegien erhalten, die sie sicher ungern abgeben werden. Also nochmal: Ich halte es für unrealistisch, dass er bei einer Niederlage einfach abtritt, einen klassischen Staatsstreich halte ich aktuell aber auch für unrealistisch.

Die Freiheitsliebe: Bolsonaros Vorbild Donald Trump hat es mit Massenprotesten vor und nach den Wahlen versucht. Ist so etwas auch in Brasilien denkbar?

Niklas Franzen: Absolut, das ist eine ganz wichtige Strategie der Neuen Rechten weltweit. Der Untertitel meines Buches lautet „Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte“. Damit will ich darauf anspielen, dass Bolsonaro für eine neue Art des Rechtsradikalismus steht. Charakteristisch dafür ist auch die Mobilisierung auf der Straße. Seit Bolsonaro ist es für die Rechte sehr wichtig geworden, nicht nur im Netz präsent zu sein, sondern auch auf der Straße. Es gibt regelmäßig Demonstrationen der Anhängerschaft Bolsonaros und es sind im Vorfeld der Wahlen weitere Proteste geplant.

Für den Präsidenten ist es immens wichtig zu zeigen, dass er die Unterstützung des Volks hat, wie er es nennt. Er will seine Fans gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschweißen. Die nächste große Demonstration ist für den Nationalfeiertag am 7. September geplant. Man muss sich darauf einstellen, dass es bei diesen Protesten wieder zu Gewalt gegen Linke sowie Journalistinnen und Journalisten kommen könnte.

Die Freiheitsliebe: Wieder zu Gewalt kommen?

Niklas Franzen: Vor einigen Wochen wurde ein Lokalpolitiker der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT durch einen Anhänger Bolsonaros erschossen. Das war für viele Linke ein Schock, aber auch ein Vorgeschmack auf das, was rund um die Wahlen passieren könnte. Die Gewalt ist direkt auf die Äußerungen des Präsidenten zurückzuführen, der zum Beispiel im Jahr 2018 einmal sagte: „Wir müssen die Anhänger der PT erschießen.“

Die Freiheitsliebe: 2017 wurde die linke Lokalpolitikerin Marielle Franco aus Rio de Janeiro erschossen. Gab es auch in diesem Fall Verbindungen zu Bolsonaro?

Niklas Franzen: Der Mord wurde von Mitgliedern einer sogenannten Miliz durchgeführt, einer kriminellen Verbindung, die sich vor allem aus Polizisten zusammensetzt. Diese Milizen sind vor allem kriminell, haben aber auch direkte Verbindungen in die Politik, vor allem zu rechten Parteien. So arbeiteten die Frau und Mutter eines der bekanntesten Milizenbosse im Abgeordnetenbüro von Bolsonaros Sohn, der ebenfalls Politiker ist. Es gibt also direkte Verbindungen dieser Milizenbanden zur Bolsonaro-Familie.

Die Freiheitsliebe: Bolsonaro versucht, mit Gewalt gegen Linke und Sozialdemokraten vorzugehen. Es gibt aber nicht nur Gewalt, sondern auch Versuche, die Linke rechtlich einzuschränken. So durfte Lula bei der letzten Wahl nicht kandidieren. Wie stehen seine Chancen bei dieser Wahl?

Niklas Franzen: Die Chancen von Lula stehen ziemlich gut, er liegt in allen Umfragen deutlich vorne. Seine Stärke ist allerdings kein Ausdruck der Stärke der Linke, sondern es hängt mit der Person Lula zusammen. Er ist eine sehr charismatische und rhetorisch starke Persönlichkeit, mit einer Geschichte, die viele Brasilianerinnen und Brasilianer bewegt. Er war ein armer Landflüchtling, bevor in einem Autowerk am Stadtrand São Paulos arbeitete, dort zum Gewerkschaftsführer aufstieg und dann in die Politik ging. Lula steht für viele Menschen für eine bessere Zeit. Während seiner Regierung wurden starke Sozialprogramme durchgesetzt. Sinnbildlich für diese bessere Zeit stehen die Zustimmungswerte für ihn am Ende seiner Regierungszeit: Sie lag bei 83 Prozent. Bei vielen weckt Lula einfach die Erinnerung an bessere Zeiten.

Die neue Kandidatur von ihm sendet ambivalente Signale: Er bindet soziale Bewegungen ein, er hat versprochen, von der neoliberalen Haushaltsdeckelung abzurücken und ein Indigenenministerium einzurichten. Gleichzeitig hat er einen Konservativen als Vize nominiert. In Brasilien gilt Lula als Person, die sehr flexibel agiert. Er redet mit allen und versucht, auch konservative Wähler und Wählerinnen an sich zu binden. Doch durch dieses breite Bündnis dürfte der Spielraum für soziale Verbesserungen eher klein sein, sollte Lula gewählt werden.

Die Freiheitsliebe: Also könnte es einen sozialdemokratischen Präsidenten ohne eigene Mehrheit geben?

Niklas Franzen: Das ist abzusehen. Das brasilianische Wahl- und Parteiensystem ist komplex. Es gibt keine Sperrklausel, aktuell sitzen über 30 Parteien im Parlament. Wenn man alle linken und Mitte-links-Parteien zusammennimmt, wird es wohl keine eigene Mehrheit geben. Lula wird also Zugeständnisse an die Konservativen machen müssen. Die Nominierung des konservativen Vizes deutet genau in diese Richtung.

Die Freiheitsliebe: Welche Möglichkeiten gibt es denn trotz dieser Situation für Verbesserungen?

Niklas Franzen: Das wird man dann sehen und es hängt auch davon ab, inwieweit die PT nicht nur im Wahlkampf links blinkt. Allerdings wird es mit Sicherheit einen Unterschied machen, wenn Bolsonaro, ein Mann, der zur Gewalt aufruft, wilde Verschwörungsmythen verbreitet und eine Kultur des Hasses etabliert hat, kein Präsident mehr ist. Ich würde mir aber zu diesem Zeitpunkt nicht anmaßen, eine Analyse der zukünftigen Arbeit der PT und Lulas zu liefern. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass auch die PT viele Menschen durch ihre Amtszeiten enttäuscht hat. Sie hat in der Sozialpolitik und der Einbeziehung der Minderheiten geliefert, allerdings auch umstrittene Großprojekte durchgesetzt, in der Umweltpolitik wenig getan und sich teilweise auch mit der Agrarindustrie verbündet. Damit hat sie den Unmut vieler Linker auf sich gezogen. Aus linker Perspektive wird es darauf ankommen, natürlich Bolsonaro erst einmal zu schlagen, aber dann die Arbeit einer möglichen PT-Regierung kritisch zu begleiten.

Die Freiheitsliebe: In den vergangenen Jahren sind in Südamerika einige rechte Regierungen zuungunsten linker oder sozialdemokratischer Regierungen gefallen. Wie wirkt sich das auf die Wahl in Brasilien aus?

Niklas Franzen: Ich glaube, insbesondere die Wahlerfolge in Chile und Kolumbien haben viele Menschen in Brasilien Mut gemacht. Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, mit einem linken Programm Wahlen zu gewinnen. Allerdings darf man den Einfluss auf Brasilien nicht überschätzen. Brasilien hat sich auch aufgrund der Sprache und Geschichte traditionell weniger an den anderen Ländern Südamerikas orientiert und war eher mit den USA verbunden. Die Rechte hingegen nutzt die jüngsten Wahlsiege, um vor einem vermeintlich heraufziehenden Kommunismus und venezolanischen Verhältnissen zu warnen. Für die Rechte ist der Antikommunismus schon immer ein wichtiges Instrument gewesen.

Die Freiheitsliebe: Wir danken dir vielmal für das Gespräch.

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Eine Antwort

  1. Man kann in allen Statistiken lesen, dass die Inflation in Brasilien 8% p.a. ist. Das ist das gleiche wie in Deutschland. Für Brasilien ist das extrem niedrig, und das ist eine Folge der Politik Bolsonaros.

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