Als die Ampel Ende 2021 die Amtsgeschäfte übernahm, war sie mit vier migrationspolitischen Problemen konfrontiert: Erstens mit einer erstarkenden AfD, die die »Migrationsfrage« zur zentralen politischen Agenda erhoben hatte; zweitens mit einer Spaltung der Europäischen Union (EU) im Kampf um den Kurs in der Migrationspolitik; drittens mit überlasteten Behörden und unterfinanzierten sozialen Infrastrukturen; und viertens mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung im Umgang mit der »Migrationsfrage«. Zunächst war unklar, welchen Weg die selbsternannte »Fortschrittskoalition« einschlagen würde. Der Koalitionsvertrag enthielt Bekenntnisse zur Förderung von Menschen mit »Migrationshintergrund« sowie zur Stärkung migrantischer Partizipation. Einwanderungs-, Einbürgerungs- und Asylverfahren sollten vereinfacht und beschleunigt werden. Gleichzeitig wurde die Integration in den Arbeitsmarkt zur Voraussetzung für ein dauerhaftes Bleiberecht. Abschiebungen sollten schneller vollzogen werden. Um dies zu erreichen, sollte die Migrationspolitik stärker europäisch ausgerichtet werden, mit mehr Verantwortung der EU-Länder für eine humanitärere und geordnete Migrationspolitik, verbunden mit einem effektiveren Schutz der Außengrenzen.1 Heute zeigt sich: Die Ampel hat eine restriktive und verwertungsorientierte Migrationspolitik zwar nicht erfunden, sie hat aber de facto die Weichen für eine Verschärfung des nationalen und europäischen Grenzregimes gestellt.
Geht es in Asyldebatten meist darum, so viele »irreguläre« Migrant:innen wie möglich abzuschieben, zeigte sich im Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine, wie flexibel und unbürokratisch verfahren werden kann, wenn das außenpolitisch gewünscht ist. Über die europäische »Massenzustrom-Richtlinie« wurde Ukrainer:innen vorübergehender Schutz in Deutschland gewährt, was ihnen nicht nur Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch zu sozialen Leistungen verschaffte.2 Die schnelle Reaktion auf kriegsbedingte Migration ist aus humanitärer Sicht begrüßenswert, sie verdeutlicht aber auch eine Ungleichbehandlung von Migrant:innen je nach geopolitischer Relevanz ihrer Herkunftsländer.
Geflüchtete Ukrainer:innen, so die Annahme, könnten rasch in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden, da sie im Vergleich zu anderen Gruppen ein hohes Ausbildungsniveau aufweisen (Brücker et al. 2022). Diese Erwartungen erfüllten sich nicht: Trotz ihres hohen Qualifikationsniveaus sind ukrainische Arbeitskräfte vorrangig im Niedriglohnsektor beschäftigt.3 Auch der sogenannte »Job-Turbo« für Ukrainer:innen konnte den Fachkräftemangel in Deutschland nicht signifikant beheben. Vor diesem Hintergrund erschien die Reform des seit 2019 bestehenden Fachkräfteeinwanderungsgesetzes noch notwendiger.
Mit dem Gesetzespaket, das im Juni 2023 beschlossen wurde, sollte die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte sowie die Integration von Migrant:innen in den Arbeitsmarkt erleichtert werden. So müssen beispielsweise anerkennungspflichtige Ausbildungsnachweise nicht mehr zwingend vorgelegt werden, wenn Berufserfahrung nachgewiesen werden kann. Eine flexiblere Arbeitsmarktpolitik ermöglicht es Fachkräften, auch in Berufen außerhalb ihres ursprünglichen Tätigkeitsfeldes zu arbeiten. Gleichzeitig wurden die Mindestverdienstgrenzen für die Blaue Karte gesenkt und damit auch der Schutz gegen Lohndumping aufgehoben.4 Für den humanistischen Charakter der Migrationspolitik der Ampel gilt: Der Humanismus endet dort, wo das Humankapital von Migrant:innen keinen wirtschaftlichen Nutzen verspricht.
Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts wird auch, so Andrea Nahles, Chefin der Bundesanstalt für Arbeit, durch das anti-migrantische politische Klima in Deutschland gehemmt.5 Auch deswegen beteiligten sich SPD- und Grünen-Politiker:innen Anfang 2024 öffentlichkeitswirksam an den Protesten gegen die »Remigrationspläne« von AfD & Co., um die »Brandmauer« gegen Rechts zu verteidigen (Puder 2024). Gleichzeitig arbeitete SPD-Innenministerin Nancy Faeser gemeinsam mit ihren europäischen Kolleg:innen an einer ganz anderen Mauer, um die Migration an den EU-Außengrenzen weiter einzuschränken (Puder 2023).
Im April 2024 beschloss das Europäische Parlament die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), womit ein seit 2016 schwelender innereuropäischer Konflikt vorerst befriedet wurde. An der Grundlogik der Dublin-Verordnungen wurde dabei festgehalten: Nach wie vor gilt, dass derjenige Mitgliedstaat für den Asylantrag zuständig ist, in den die schutzsuchende Person zuerst eingereist ist. Neu sind verlängerte Überstellungsfristen und das EU-weite Screening an den Außengrenzen, an denen Asylsuchende – ohne Zugang zu rechtlicher Beratung und unter haftähnlichen Bedingungen – die Bearbeitung der Zulässigkeitsprüfung ihres Asylantrags abzuwarten haben. Bei wenig Aussicht auf Asyl kommt es dort zum Asylverfahren. Bei Ablehnung sind Abschiebungen in Länder möglich, die die betroffenen Personen zuvor nie betreten haben. Außerdem wurde ein sogenannter »Solidaritätsmechanismus« verankert, der die Beteiligung aller Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Fluchtmigration sicherstellen soll. Ob dies durch finanzielle oder Sachmittel, die Aufnahme von Geflüchteten oder den Einsatz für die Sicherung der Außengrenzen geschieht, bleibt diesen überlassen. Das schließt unter Umständen auch gewaltsame Pushbacks ein und verleiht diesen eine rechtliche Grundlage.
Die Gleichzeitigkeit, mit der die Ampel auf europäischer Ebene dazu beigetragen hat, die Grenzen zu schließen und durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz die deutschen Staatsgrenzen partiell geöffnet hat, setzt den verwertungsorientierten Kurs der Migrationspolitik seit mindestens 2014 fort (vgl. Carstensen et al. 2018). In der Sommerpressekonferenz 2024 versprach Bundeskanzler Scholz mehr Abschiebungen und eine restriktivere Grenzpolitik, betonte gleichzeitig aber die Abhängigkeit des deutschen Arbeitsmarktes und Wohlstands von der Immigration. Denn, so Scholz: »Dürfen wir uns aussuchen, wer nach Deutschland kommt? Die Antwort lautet: Ja.«6
Die Migrationspolitik der Ampel war gleichzeitig Erprobungsfeld für eine restriktivere Innen- und Sozialpolitik. Ein Beispiel ist die Einführung der Bezahlkarte für Asylbewerber:innen: Bereits vor ihrer Einführung im Mai 2024 brachte die FDP eine Ausweitung auf Empfänger:innen anderer Sozialleistungen ins Gespräch. Das Maßnahmenpaket, das nach dem Messerangriff in Solingen im August 2024 verabschiedet wurde, beinhaltet neben migrations- und aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen auch eine Erweiterung der Befugnisse von Polizei und Verfassungsschutz. Ein weiteres Feld, auf dem die Migrationspolitik für einen restriktiveren, teils sogar autoritären Kurs herhalten muss, ist die Außen- bzw. Geopolitik. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließenden Kriegsführung Israels, die den Tod von zehntausenden Zivilist:innen zu verantworten hat, wird versucht, Proteste dagegen vor allem von Migrant:innen polizeilich zu unterdrücken. Dabei werden auch migrationspolitische Instrumente eingesetzt. Die Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes hat Einbürgerungen zwar beschleunigt, jedoch unter politisch restriktiveren Bedingungen. Neben der Forderung nach einem Bekenntnis zum Existenzrecht Israels, wie in Sachsen-Anhalt bereits 2023 bei Einbürgerungen7 und nun deutschlandweit (in abgeschwächter Form) angewendet, kann auch das Posten, Teilen, Kommentieren und selbst das Liken politischer Inhalte auf sozialen Medien die Einbürgerung verhindern.
Die Ampel ist Geschichte und es bleibt abzuwarten, wer als Nächstes neue Maßstäbe im Überbietungswettkampf migrationspolitischer Restriktionen setzen wird. Rückblickend erscheint Merkels Migrationspolitik einigen heute fast als humanitär. Allerdings war diese weniger von moralischen Prinzipien als vielmehr strategisch geprägt. Es war Merkel, die 2016 das EU-Türkei-Abkommen vorantrieb. Dieses stellte der Türkei Milliardenbeträge in Aussicht, um Fluchtrouten – insbesondere aus Syrien – abzuriegeln und nach Griechenland geflüchtete Menschen aufzunehmen.8 Wie ist es nun aus migrationspolitischer Perspektive zu bewerten, wenn Ex-Außenministerin Baerbock Ende 2024 in die Türkei reist, um wenige Tage nach dem Sturz Assads in Syrien ein Abkommen zu verhandeln, das die Entwaffnung der am Kampf gegen Assad beteiligten kurdischen Milizen einschließt?9 Wozu die Eile, wenn unklar ist, wie es politisch zukünftig in Syrien weitergeht? Eine naheliegende Vermutung ist, dass Deutschland dem Partner Türkei den Rücken stärken möchte. Im Fokus stehen wohl geopolitische Ziele wie die Schwächung des russischen Einflusses in der Region. Hinzu kommt aber ein weiterer Grund: Die Herstellung von Bedingungen, unter denen (bisher nur geduldete) syrische Geflüchtete in ihr Herkunftsland »zurückkehren können«. Keine zwei Tage nach dem politischen Umsturz in Syrien rückte die Abschiebung von Syrer:innen in den Mittelpunkt der Debatten10 – natürlich nur jener, von denen der deutsche Arbeitsmarkt nicht profitiert.
Dieser Beitrag von Mareike Biesel und Janina Puder erschien in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Z – Marxistische Erneuerung
Literatur
Brücker, Herbert et al. (2022): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Flucht, Ankunft und Leben. IAB-Forschungsbericht.
Carstensen, Anne Lisa; Heimeshoff, Lisa-Marie; Riedner, Lisa (2018): Der Zwang zur Arbeit. Verwertungslogiken in den umkämpften Regimen der Anwerbe-, Flucht- und EU-Mi- gration. In: Sozial.Geschichte Online (23), S. 235-269.
Puder, Janina (2024): Zum »Neustart« in der Migrationspolitik. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 137, S. 16-18.
Puder, Janina (2023): Von »guten« und »schlechten« Migrant*innen – Zur Reform des GEAS und des deutschen Einwanderungsgesetzes. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 135, S. 8-10.
- www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf [Letzter Zugriff 03.01.2025] ↩︎
- www.mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/ukrainische-fluechtlinge.html [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.deutschlandfunk.de/gefluechtete-ukraine-integration-deutschland-100.html [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/fachkraefteeinwanderungsgesetz-2182168 [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fachkraeftemangel-auslaendische-fachkraefte-erle-ben-weit-mehr-diskriminierung-als-erwartet/100011764.html [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-sommer-pressekonferenz-2024-2300722 [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/israel-bekenntnis-voraussetzung-einbuerge- rung-100.html [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.deutschlandfunk.de/eu-tuerkei-abkommen-milliarden-statt-migranten-100.html [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.spiegel.de/ausland/syrien-annalena-baerbock-fordert-entwaffnung-von-kurdischen-rebellen-a-45283f3a-849f-4b6e-9b3a-118b4aabe0f0 [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎
- www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/expertin-warnt-debatte-um-abschiebungen-nach-syrien-verfrueht,UXVUnp2 [Letzter Zugriff: 03.01.2025] ↩︎