Die Italiener haben beim Referendum am 4. Dezember 2016 deutlich gemacht, dass sie es ablehnen, eine Verfassung zu ändern, die achtundsechzig Jahre lang grundlegenden Prinzipien der Freiheit sowie Arbeitnehmer- und Bürgerrechte garantierte. Mit dem Doppelpack aus Verfassungs- und Wahlrechtsreform wollte Renzi Italiens politische Institutionen verschlanken und ihre Effizienz erhöhen. Kern der Verfassungsreform war der Abschied vom „perfekten Zweikammersystem“.
Bisher hatten Abgeordnetenhaus und Senat exakt die gleichen Vollmachten: Beide mussten der Regierung das Vertrauen aussprechen, beide den Haushalt verabschieden, beide jedes einzelne Gesetz billigen. Stattdessen sollte in Zukunft das Abgeordnetenhaus das Sagen haben. Der verschlankte Senat hätte nur noch ein aufschiebendes Veto einlegen können. Zudem sollte der Senat nicht mehr direkt gewählt werden, sondern sich aus Regionalabgeordneten und Bürgermeistern zusammensetzen. Das Abgeordnetenhaus wiederum sollte in Zukunft nach einem neuen Wahlmodus gewählt werden. Jene Partei, die im ersten Wahlgang mehr als 40 Prozent der Stimmen erreicht hätte, bekäme 340 der 630 Sitze und damit die absolute Mehrheit. Überwindet keine Partei diese Hürde, käme es zu einer Stichwahl zwischen den beiden stärksten Parteien, deren Sieger die 340 Sitze erhielte.
An dieser Verfassungs- und Wahlrechtsreform störte sich die Opposition, weil damit in ihren Augen die Voraussetzungen für ein fast autokratisches System geschaffen worden wären, in dem der Chef der siegreichsten Partei dank einer von ihm handverlesenen Parlamentsfraktion ohne nennenswerte Gegengewichte „durchregieren“ könnte, selbst wenn seine Partei im ersten Wahlgang lediglich 20 Prozent gewonnen hätte. Die Ziele des Referendums waren durch und durch reaktionär.
Das Referendum hatte die Unterstützung der Europäischen Union (EU) und der italienischen Banken. Ihre Erwartungen gründeten sich auf ein Strategiepapier von JP Morgan, das schon drei Jahre vor Renzis Referendumsvorschlägen erschienen war. Darin wird über die „tief sitzenden politischen Probleme“ südeuropäischer Regierungen lamentiert. Beispielsweise, dass sie aus dem Zweiten Weltkrieg und in Italien aus dem Sturz des faschistischen Benito-Mussolini-Regimes hervorgingen. Bei JP Morgen heißt es: „Die politischen Systeme in den Peripherieländern wurden unmittelbar nach Diktaturen etabliert und wurden durch diese Erfahrungen definiert (…) Die politischen Systeme in den Peripherieländern weisen in der Regel mehrere der folgenden Merkmale auf: schwache Exekutiven; eine schwache Zentralregierung gegenüber Regionen; verfassungsrechtlichen Schutz der Arbeitnehmerrechte; Systeme zur Mehrheitsbildung, die politischen Klientelismus fördern; sowie das Recht zu protestieren, wenn unliebsame Änderungen am politischen Status quo vorgenommen werden.“ Mit der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 seien „die Mängel dieses politischen Erbes (…) offensichtlich geworden.“
Hier zeigt sich deutlich, warum Renzi zum jetzigen Zeitpunkt dieses Referendum durchsetzen wollte und warum die gesamte herrschende Elite Europas ihn dabei unterstützte. Europa versinkt im wirtschaftlichen Krisensumpf und die italienischen Banken sind mit faulen Krediten in Höhe von 400 Milliarden Euro belastet. Zusätzlich drohen unzählige Unternehmenspleiten und die daraus folgenden sozialen Ungerechtigkeiten würden unter den Arbeitern explosive, soziale Wut provozieren. Durch die Verfassungsänderung hätte die Regierung ohne Rücksicht gegen die Arbeiterklasse vorgehen können, um die Forderungen der Banken und großen Konzerne zu erfüllen.
Andrea Dernbach fasst es im Tagesspiegel treffend zusammen: „Italien hat richtig entschieden und Matteo Renzi ist zurückgetreten. Um ihn ist es nicht schade, er hat es zwei Jahre lang versäumt, die Probleme Italiens anzugehen. Er hat mit seinem halbautoritären Lieblingsprojekt zwei Jahre im Palazzo Chigi verschwendet, statt die Probleme Italiens anzugehen. Wenn Europa nun Angst vor dem Ausgang von möglichen Neuwahlen verbreitet, stellt dies eher den berühmten europäischen Werten ein mieses Zeugnis aus: Dass Wahlausgänge unberechenbar sind, ist eine demokratische Binse und jedenfalls kein Fehler der Demokratie. Dass Italien dafür kein ausreichend demokratisches Wahlgesetz hat, steht auf einem andern Blatt.“
Aufgrund meiner italienischen Herkunft kann die Denke der Italiener verstehen: Italien ist Italien, nichts ändert sich unter der südlichen Sonne; sie geht jeden Tag wieder auf, das genügt. Obwohl Reformen in weiten Bereichen von Nöten wären, ziehen es die Italiener vor, sich den Problemen individuell zu stellen. Erst wenn der Druck zu übermächtig wird, wird pragmatisch gehandelt, egal was die Regierung dazu sagt und ganz sicher nicht so, wie es von außen diktiert wird. Man lebt seit Jahrhunderten gut so, trotz aller Probleme. Einmischung und Zwang sind unerwünscht und für den Italiener wird Brüssel nie das Zentrum der Macht sein. Das sollten die Eurokraten endlich zur Kenntnis nehmen, sich entsprechend neu aufstellen und aus der gegenwärtigen Sackgasse herausfinden, in die es sich selber hineinmanövriert haben. Ist der Italiener zu kühn oder zu dumm, um es anders anzugehen? Keines von beiden, einfach nur realistisch.
Ein Beitrag von Francesco S. Garita, Mitglied im Landesvorstand der Linken Bayern