Der erste Mai ist der Tag der Arbeit. Aufgrund seiner Geschichte gilt er in Deutschland und Europa als Kampftag der Arbeiterbewegung. Der Ursprung dieses Tages liegt in den USA. Hier streikten am 1. Mai 1886 etwa 400.000 Arbeiter in mehreren Städten für die Einführung des Acht-Stunden-Tages. In den Folgetagen kam es vor allem in Chicago zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die für einige Streikende sogar tödlich endeten.
Nicht zufällig also beschließen die Gewerkschaften und die sozialistischen Arbeiterparteien auf dem Zweiten Internationalen Arbeiterkongress 1889 in Paris, am 1. Mai zu internationalen Demonstrationen aufzurufen. Neben dem Gedenken an die Opfer von Chicago stehen der Acht-Stunden-Tag, höhere Löhne und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt der Proteste.
Erster Mai in Deutschland
Der erste 1. Mai in Deutschland findet 1890 statt. Es war die Zeit der Sozialistengesetze: Gewerkschaften und Sozialdemokratie, Versammlungen und das Tragen von Fahnen waren verboten. Deshalb wurde die rote Nelke im Knopfloch oder an der Kleidung zum Symbol des Protestes und des proletarischen Zusammenhalts. Dieses Symbol ist die Nelke bis heute am Tag der Arbeit geblieben.
Auch in den Folgejahren kommt es am 1. Mai zu Streiks und Demonstrationen, und immer wieder reagieren die Arbeitgeber darauf mit Aussperrungen und Entlassungen. Zu besonders schweren Unruhen und vielen Toten und Verletzten kommt es im Jahr 1929 – auch bekannt als „Blutmai“. Es war das Jahrzehnt zwischen Novemberrevolution und Aufstieg des Faschismus. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Wehrverbänden. Gleichzeitig verschärften sich die Auseinandersetzungen der zwei Arbeiterparteien SPD und KPD. Im Dezember 1928 erließ der Polizeipräsident Berlins, SPD-Mitglied Karl Zörgiebel, ein umfassendes Versammlungs- und Demonstrationsverbot, das wenige Monate später, am 1. Mai 1929 vor allem in den Arbeiterbezirken Wedding und Neukölln mit Gewalt durchgesetzt wurde. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse vertieften sich die Gräben zwischen den beiden Arbeiterparteien und innerhalb der Gewerkschaften noch einmal massiv.
Tag der nationalen Arbeit und die Zerschlagung der Gewerkschaften
Die langjährige Forderung der Gewerkschaften, den 1. Mai zum Feiertag zu machen, wurde ausgerechnet von den Nazis aufgegriffen. Propagandistisch erklärten sie kurz nach ihrer Machtübernahme 1933 den 1. Mai zum Feiertag bei voller Lohnfortzahlung. Im Anschluss an diese Erklärung rief der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) seine Mitglieder zur Teilnahme am „Tag der nationalen Arbeit“ auf, den die Nazis vollständig in ihrem Sinne uminterpretierten. Sie arrangierten ihn als Auftakt zur Zerschlagung der Gewerkschaften und machten daraus ein propagandistisches Großereignis. An den Gewerkschaftshäusern wurden schwarz-rotweiße Flaggen aufgezogen. Gleichzeitig bereitete die Propaganda von der Volksgemeinschaft, in der alle Klassenwidersprüche durch die Erhebung des Volkes über Klassen, Stände und Einzelinteressen harmonisiert worden seien, die Zerschlagung der Gewerkschaften als überflüssige Klassenorganisationen argumentativ vor.
Am Folgetag, am 2. Mai 1933, stürmten SA-Truppen überall in Deutschland die Gewerkschaftshäuser, beschlagnahmten das Gewerkschaftsvermögen und verhafteten die Funktionäre. Widerstand blieb weitestgehend aus. Die Arbeiterbewegung wird kampflos niedergerungen. In der Folgezeit werden Tarifverträge in Tarifordnungen überführt, die ohne Möglichkeit zum Widerspruch verkündet werden. Die Löhne sinken. Die Arbeitszeiten steigen auf bis zu 70 Stunden pro Woche. Die Kapitulation der Gewerkschaften ausgerechnet vor einem System, das den Unternehmern den Weg zur ungestörten Profitmaximierung ebnete und die Klasse in einem Zustand der erzwungenen Zersplitterung hielt, gehört zu den größten Tragödien im kollektiven Gedächtnis der deutschen Arbeiterbewegung.
Mehr Lohn!
In diesem Jahr lautet das Maimotto der Gewerkschaften: „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“. Die Gewerkschaften setzen damit drei zentrale Schwerpunkte, über die in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituationen gesprochen werden muss.
Insbesondere die Forderung nach mehr Lohn ist nicht beliebig: Viele Menschen brauchen mehr Geld gegen die steigende Inflation, gegen steigende Lebensmittelpreise, Mieten und Energiekosten. Der Grund: Die Tarifabschlüsse im letzten Jahr haben längst noch nicht ausgeglichen, was 2021 und 2022 inflationsbedingt an Reallohn verloren gegangen ist. Und insbesondere in den aktuellen Tarifrunden – im Bauhauptgewerbe, aber auch im Handel – zeigt sich die fehlende Bereitschaft der Arbeitgeber, den Beschäftigten das zu geben, was ihnen zusteht. Seit genau einem Jahr befinden sich die Beschäftigten im Einzelhandel, aber auch im Groß- und Außenhandel in einer Tarifauseinandersetzung. Während der Corona-Pandemie noch als Helden beklatscht, erleben sie nun, dass ihre Streiks kriminalisiert, streikende Kolleginnen und Kollegen unter Druck gesetzt werden oder mit Streikbruchprämien vom Streiken abgehalten werden sollen. Dabei sind die Gewinne im Handel in den letzten vier Jahren durch die Decke gegangen. Zudem gehören die Besitzer der Schwarz-Gruppe – also die Inhaber von Kaufland und LIDL – ebenso wie die ALDI-Brüder zu den reichsten Deutschen.
Mehr Freizeit!
Die Tarifrunden der letzten Jahre bei der EVG, bei ver.di und auch bei der IG Metall haben gezeigt, dass für viele Beschäftigte das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit immer wichtiger wird. Deshalb machen die Gewerkschaften am Tag der Arbeit klar, dass die Beschäftigten nicht leben, um zu arbeiten, sondern dass sie arbeiten, um zu leben. Doch der Schwerpunkt nach mehr Freizeit ist nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative. Dabei geht es neben Arbeitszeitverkürzung auch um gut erhaltene und bezahlbare Freizeitangebote: Schwimmbäder, Kletterparks, Kinos, Theater, öffentliche Büchereien, gut erhaltene Wälder und vor allem einen gut ausgebauten Öffentlichen Nahverkehr.
Mehr Freizeit bedeutet also auch, dass über den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur gesprochen werden muss. Und wer dies tut, muss über Umverteilung reden. Erst vor wenigen Tagen hatte Olaf Scholz beim Petersberger Klimadialog gesagt, es gebe nicht genug öffentliches Geld für den Klimaschutz und deshalb müsse man jetzt vor allem privat investieren. Mal abgesehen davon, dass dieser Gedanke auf eine Privatisierung des Klimaschutzes hinausläuft, weil sich staatliche Stellen mangels Geld immer weniger zuständig fühlen, bedeutet das natürlich auch: Was für den Klimaschutz gilt, gilt auch für die öffentliche Infrastruktur. Das führt in der Praxis zu undichten Schuldächern, unappetitlichen Schultoiletten, Kindergärten, die wegen Personalmangels keine zuverlässige Betreuung sicherstellen können, und Schwimmbäder, die aus Kostengründen die Wassertemperatur herunterregeln.
Mehr Umverteilung!
Während sich also das öffentliche Angebot immer weiter verschlechtert, fragen Gewerkschaften zu recht, warum hohe Vermögen in Deutschland nicht angemessen besteuert werden. Seit mehr als 25 Jahren wird keine Vermögensteuer mehr erhoben. Dadurch gehen dem Staat seit 1997 etwa 20 Milliarden Euro im Jahr an Einnahmen verloren. Im Ergebnis besitzen die reichsten zehn Prozent in Deutschland rund zwei Drittel des gesamten Privatvermögens. Das reichste eine Prozent besitzt etwas mehr als ein Drittel und die reichsten 0,1 Prozent immerhin noch über 20 Prozent.
Das sind diejenigen, denen egal ist, ob die öffentlichen Schulen gut ausgestattet sind oder nicht, weil sie ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Das sind diejenigen, denen gleichgültig ist, ob die öffentlichen Schwimmbäder bezahlbar sind, weil sie den heimischen Swimmingpool benutzen können. Und das sind diejenigen, die auch ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr nicht interessiert, weil sie einen privaten Fuhrpark in der Garage stehen haben. Sie sollten endlich höher besteuert werden: ein Prozent Vermögensteuer ab einem Vermögen von einer Million Euro und zwei Prozent ab einer Milliarde Euro – das ist notwendig, um die öffentliche Infrastruktur zu erhalten und auch die Klimawende und den Industrieumbau bezahlen zu können.
Mehr Sicherheit!
Wenn die Gewerkschaften mehr Sicherheit fordern, dann fordern sie vor allem, dass die Menschen auch weiterhin sozial abgesichert sind – und das gilt ganz besonders in einer Zeit tiefer Umbrüche in der Arbeitswelt. Aus Studien ist bekannt, dass jeder unfreiwillige Arbeitsplatzwechsel mit einem Lohnverlust von etwa zehn Prozent verbunden ist – und gerade jetzt in Zeiten von mehr Digitalisierung am Arbeitsplatz und mehr Dekarbonisierung häufen sich unfreiwillige Arbeitsplatzwechsel. Deshalb sind ein Ausbau der Tarifbindung und ein armutsfester Mindestlohn so wichtig – weil es nämlich dann keinen Unterschied macht, ob die Menschen bei Arbeitgeber A oder B beschäftigt sind.
Beim Thema Sicherheit muss aber auch über die Außenpolitik der Bundesregierung geredet werden, die nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu einer erhöhten Kriegsgefahr für die Menschen führt. Die Kriegsbesoffenheit der Bundesregierung versucht die Bevölkerung zunehmend auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges einzuschwören. Dazu gehört, dass nahezu alle gesellschaftlich relevante Fragestellungen mit einer Kriegsperspektive verbunden werden – so beispielsweise das Nein zur Schuldenbremse, die nicht etwa für eine gute Ausstattung von Kitas und Schulen hinderlich ist, sondern für den Aufrüstungskurs der Bundesregierung. Plötzlich wird der Ausbau von Brücken und Straßen wichtig – nicht etwa, damit wir schnell und sicher von A nach B kommen, weil sie für die Verlegung von Truppen gut befahrbar sein müssen.
Ein weiteres Beispiel ist die Zeitenwende im Gesundheitswesen, das mit ausreichend Lazaretten und Materialvorräten kriegstüchtig gemacht werden muss – über Jahre schafft es „die Politik“ nicht, ausreichend Geld für die Entlastung des Pflegepersonals in die Hand zu nehmen, jetzt aber zeigt sich der Bundesgesundheitsminister umtriebig, um die maroden Krankenhäuser kriegstüchtig zu machen. In den Schulen sollen Schulkinder auf den Dienst an der Waffe und den Kriegseinsatz vorbereitet werden und im öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehen wird Werbung für den Taurus gemacht. Und erst vor wenigen Tagen beschloss die Bundesregierung die Einführung eines Veteranentages, der Soldaten wertzuschätzen und würdigen soll. Doch wer Soldaten wertschätzen will, der schickt sie nicht in den Krieg. Auch darauf muss beim Thema Sicherheit aufmerksam gemacht werden.
Gewerkschaften und Friedensbewegung
Aus gutem Grund haben sich die Gewerkschaften nie nur für die Arbeitsbedingungen, sondern immer auch für die Lebensbedingungen der Menschen stark gemacht. Weil sich Arbeitsplätze weder auf einem zerstörten Planeten, noch in einer faschistischen Gesellschaft gestalten lassen, haben sie sich immer auch gegen Aufrüstung, Krieg und den Aufstieg des Faschismus gewandt. Die Aufrüstung der Bundesregierung wird die Umverteilungskonflikte im Land massiv anheizen, denn jeder Euro, der jetzt in den Militäretat gesteckt wird, der fehlt für gute Bildung, eine ordentlich ausgestattete Kindergrundsicherung, für den Industrieumbau oder den Anbau des ÖPNV. Die angekündigten Sozialkürzungen stehen in einem direkten Verhältnis zur angekündigten Aufstockung der Militärausgaben.
Und wenn Olaf Scholz sagt, es sei zu wenig öffentliches Geld da und Christian Lindner fordert, man müsse Steuern senken und an der Schuldenbremse festhalten, dann kann die Aufrüstung nur über Sozialabbau finanziert werden. Zusätzlich führt der Aufrüstungskurs der Bundesregierung zu demokratischen Verwerfungen. Der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, forderte bereits „eine Kriegswirtschaft“, was in der Konsequenz die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter die außenpolitische Strategie der Bundesregierung bedeuten würde. Ein Vorschlag, den er an anderer Stelle durch die Anwendung des Notstandsparagraphen und den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren ergänzte. Dass eine solche Unterordnung auch zu einer Unterdrückung von Tarifverhandlungen und Streikrecht führen kann, dafür reicht ein Blick in die Geschichte – aber auch Bundesverkehrsminister Wissing argumentierte kürzlich, dass im Kontext des Ukraine-Krieges der Streik bei der Deutschen Bahn nicht zum Sicherheitsrisiko werden dürfe. Und aktuell wird in Deutschland zu viel über das Streikrecht diskutiert, als dass die Gewerkschaften nicht hellhörig werden müssten, wenn ein Bundesminister so etwas sagt.
Geschichte wiederholt sich nicht?
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich, soll der Schriftsteller Mark Twain einmal gesagt haben. Deshalb muss beim diesjährigen 1. Mai auch über den drohenden Aufstieg des Faschismus geredet werden. Die aktuellen Wahlumfragen, in denen die AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen stärkste Kraft ist, sind vor dem Hintergrund von Rechtsterrorismus und nationalrevolutionären Umsturzphantasien der rechten Szene Anlass zu großer Sorge. Und die Vorstellung, dass jemand wie Björn Höcke Ministerpräsident werden könnte, ist schwer erträglich. Denn Höcke träumt vom politischen Umsturz, spricht von der Anwendung „wohltemperierter Grausamkeit“ gegenüber Andersdenkenden und bezeichnet die AfD als das letzte friedliche Angebot.
Vor allem für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften könnte es ungemütlich werden, wenn die AfD in die Regierung kommt. Denn die Partei hält nicht viel von Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt regulieren. Die AfD hasst Tarifverträge, sie hasst die betriebliche Mitbestimmung, sie hasst es, wenn gestreikt wird. Im Bundestag hat sie gegen den Mindestlohn gestimmt – in ihrem Programm spricht sie sich für die Privatisierung der Rente aus. Und wenn Alexander Gauland den Nationalsozialismus als „Vogelschiss in der Geschichte“ bezeichnet, zeigt das: Die Partei knüpft ideologisch an ein Kapitel deutscher Geschichte an, in dem die Gewerkschaften zerschlagen und Arbeitsrechte außer Kraft gesetzt wurden.
Demokratie endet nicht am Betriebstor!
Nicht grundlos also fragen vor allem die Gewerkschaften, wie der Vormarsch der AfD gestoppt werden kann. Eine Antwort liefert eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung. Sie zeigt: Rechtsextreme Einstellungen nehmen signifikant ab, wenn Menschen am Arbeitsplatz mitbestimmen können. Damit wird die Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung zu einem zentralen Hebel im Kampf gegen die AfD. Nicht zufällig feiert die AfD ihre Erfolge ausgerechnet dort, wo die Arbeitswelt durch geringe gewerkschaftliche Organisationsgrade, eine niedrige Betriebsrätedichte und eine schwach ausgeprägte Mitbestimmungskultur gekennzeichnet ist.
Auch wenn es Teilen der Bundesregierung nicht gefallen dürfte: Die Grundlage für eine stabile Demokratie ist eine funktionierende Mitbestimmung im Betrieb. Demokratie darf nicht am Betriebstor enden! Die bundesweiten Proteste gegen rechts in diesen Tagen machen Mut. Aber in einer Zeit, in der die Regierungsparteien über eine Einschränkung des Streikrechts diskutieren und die gesetzliche Rente an die Kapitalmärkte tragen, müssen die Gewerkschaften den Kampf gegen die AfD sehr viel stärker mit einem Kampf für eine soziale Politik verbinden. Über all diese Fragen wird am diesjährigen Tag der Arbeit diskutiert. Und natürlich darf dabei auch ein bisschen gefeiert werden. Denn an den darauffolgenden 364 Tagen sind es Millionen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die im täglichen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit mit hohem Einsatz, viel Energie und noch mehr Leidenschaft die Interessen der Beschäftigten versuchen durchzusetzen. Ein kämpferisches „Glück auf!“ zum 1. Mai.