Ukrainekrieg: Ein innerimperialer Machtkampf – Im Gespräch mit Özlem Alev Demirel

Den Krieg in der Ukraine als innenimperialen Machtkampf zu analysieren und die geopolitischen Verschiebungen in der Welt aus einer Klassenhaltung heraus zu beantworten, ist unsere größte Herausforderung, sagt Özlem Alev Demirel. Ausgehend von dieser Analyse muss DIE LINKE in der Bevölkerung das Bewusstsein dafür wecken, dass Kriege im Allgemeinen und aktuell der Krieg in der Ukraine eine barbarische und reaktionäre Erscheinung sind.

Letztlich kann nur die fehlende gesellschaftliche Zustimmung zum Krieg den Regierungen die Grundlage für ihre Kriegsführung entziehen. Über die Hintergründe des Konfliktes und die analytischen Schwächen der Friedensbewegung spricht die Europa-Abgeordnete mit Ulrike Eifler, Redakteurin der Freiheitsliebe.

Die Freiheitsliebe: Özlem, du bist Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Wie erlebst Du den Krieg in der Ukraine? Haben sich die Diskussionen im Parlament und hat sich Deine Arbeit als Abgeordnete durch den Überfall Russlands verändert?

Özlem Alev Demirel: Ich erlebe den Ukraine-Krieg nicht. Meine Abgeordnetenkollegen und ich sitzen im Warmen. Die Menschen in den Regionen, in denen der Krieg tobt, zwangsrekrutierte Soldaten und Zivilisten, die erleben Leid, Verwüstung und Entheimatung. Deserteure und jene, die vor der Rekrutierung fliehen, weil sie nicht sterben wollen oder den Krieg gegen das „Brudervolk“ ablehnen, und deshalb in Russland und in der Ukraine Repressionen ausgesetzt sind – sie erleben, wie entmenschlichend Krieg ist.

Bei meinen Kollegen der anderen Fraktionen beobachte ich mit Entsetzen wie sie mit Kriegsgeheul das Lied des Militarismus singen und rhetorisch wie real dem Aufrüstungswahn verfallen. Wer dagegen das Wort Frieden auch nur in den Mund nimmt, wird als ‚Putinversteher‘, ‚naiv‘ oder ‚dumm‘ gebrandmarkt.

Ich zähle zu den Abgeordneten, die von der ersten Minute des Krieges – ja vorher schon – vor dem Kampf imperialer Mächte um Hegemonie und Einflusssphären, um die Aufteilung der Welt, gewarnt haben. Es bleibt unsere Aufgabe, im Interesse der armen und arbeitenden Menschen unerschrocken den Charakter des Krieges zu benennen und eine starke Friedensbewegung gegen Krieg und Aufrüstung aufzubauen. Das versuche ich im Rahmen meiner Arbeit mitzugestalten.

Die Freiheitsliebe: Zwölf Monate dauert der Krieg in der Ukraine nun schon an. Kannst Du kurz umreißen, worum es in diesem Konflikt geht?

Özlem Alev Demirel: Am 24. Februar 2022 begann die russische Föderation mit dem Vormarsch auf Kiew einen Angriff, der zu verurteilen ist. Mit diesem Überfall hat die Auseinandersetzung um die Ukraine, die eine Vorgeschichte seit 2014 hat, eine ganz neue Dimension, ein völlig neues Niveau der Brutalität bekommen. Im Kern handelt es sich um einen brutalen Machtkampf unterschiedlicher Kapitalfraktionen und Staaten – konkret Russland auf der einen und die USA sowie EU-Staaten auf der anderen Seite. Während beispielsweise Russland unter Jelzin im Jugoslawien-Krieg und Kosovo-Krieg der NATO den Verlust seiner Einflusssphären sowie die Osterweiterungen der NATO und EU hinnehmen musste, agiert Russland unter Putin selbstbewusster und forderte eine neue Sicherheitsarchitektur ein, in der Russland auch als europäische Macht Garantien zugesprochen werden. Russland als Militärmacht unter Putin demonstrierte nicht zuletzt auch in verschiedenen Auseinandersetzungen um Einflusssphären oder gar in Stellvertreterkriegen wie in Syrien seine Kraft diplomatisch, politisch und militärisch auf der internationalen Bühne und forderte aus russischer Sicht, dass die realen Kräfteverhältnisse in Europa sicherheitspolitisch abgebildet werden.

Dem Westen war dabei immer klar, welche geopolitische Wichtigkeit die Ukraine für Russland und seine Großmachtambitionen hat. Doch insbesondere die USA verdeutlichte, keine Rücksicht auf Russlands Interessen nehmen zu wollen und verweigerte sich politischen Lösungen im Machtkampf um die Ukraine. In der Ukraine selbst tobte währenddessen – auch begleitet vom Machtkampf zwischen den USA und Russland – auch ein Machtkampf der unterschiedlichen Machtblöcke und Kapitalfraktionen um eine ‚pro-russische‘ oder ‚pro-westliche‘ Orientierung. Die massive Verschuldung der Ukraine machte sie zudem immer mehr abhängig vom IWF und Westen. Während die Regierung in Kiew zuletzt deutlich vom Westen gestützt und unterstützt wurde, formierten sich im Donbass prorussische Kräfte mit Autonomieansprüchen. Diese wurden auch davon getragen, dass die nationalistischer werdenden Töne in Kiew und im Staatsapparat der Ukraine die russische Minderheit im Land zu unterdrücken versuchte, auch, um auch den Einfluss Russlands in der Ukraine zu unterdrücken. So fanden seit 2014 große Auseinandersetzungen um die Ukraine statt. Russland wollte aber nicht hinnehmen seine ‚Ansprüche‘ über die Ukraine völlig zu verlieren und griff daher mit dem Überfall auf seine militärischen ‚Fähigkeiten‘ zurück und ging davon aus, den Konflikt mit einem schnellen Krieg in lösen zu können. Eine brutale Fehlannahme.

Die Freiheitsliebe: Inwiefern?

Özlem Alev Demirel: Putin dachte den Unmut gegen die Regierung Selenskyj zu seinem Vorteil nutzen zu können. Man argumentierte, dass man die Ukraine ‚entnazifizieren‘ und von ‚Junkies‘ befreien müsse. Er dachte die unterschiedlichen Strategien und Haltungen in den westlichen Staaten im eigenen Interesse nutzen zu können. Russland marschierte auf Kiew mit der Intention mit einem Regimechange den Einfluss auf die Ukraine zurückgewinnen.

Auch wenn die Präsenz extrem rechter, ultranationalistischer Kräfte an wichtigen Schaltstellen in der Ukraine nicht negiert werden darf, ist das natürlich ein Vorwand. Denn man muss natürlich zurecht fragen, was denn mit den ultranationalistischen Kräften in Russland selbst ist. Antifaschismus dient niemals dazu, ein anderes Land zu überfallen. Im Gegenteil: er verbietet es. So hat diese Demagogie auch niemanden in der Ukraine überzeugt. Im Gegenteil, das zuvor tief gespaltene Land stellte sich geeinter als zuvor gegen den Angriff Russlands.

Moskau musste sich von dem Plan verabschieden, eine Marionettenregierung installieren zu können und zog sich auf die für Russland wesentlichen Gebiete in der Ostukraine zurück. Um die tobt nun seit einem Jahr ein heißer Krieg, in dem auch die NATO und EU-Staaten indirekte Kriegsparteien sind. Dieser Krieg hat die Ukraine inzwischen ökonomisch, politisch und militärisch abhängiger als jemals zuvor vom Westen gemacht. Und dem Westen geht es mitnichten um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, sondern um die eigene Vormachtstellung. Russland hat die bisherige Ordnung des Westens in Frage gestellt und fordert als aufstrebende imperiale Macht seinen Anteil am Kuchen.

Die Freiheitsliebe: Wird sich die Welt geopolitisch neu ordnen und welche Rolle spielt die EU in diesem Prozess?

Özlem Alev Demirel: Der weltweite Führungsanspruch der USA wird zunehmend in Frage gestellt. Mehr und mehr drängen andere Mächte auf eigene Einflusssphären. China hat nicht nur im südostasiatischen Raum seinen Einfluss ausgebaut. Manchen erscheint eine neue multipolare Weltordnung, nach den jahrzehntelangen Erfahrungen mit einem brutalen US-Imperialismus, als eine attraktive Alternative.

Diese Vorstellung fußt zum einen auf der Idee, dass es einen ‚besseren Imperialismus‘ geben könne. Einige setzen hier Hoffnungen auf die EU, andere eher auf China. Diese Hoffnungen sind aber trügerisch, denn der verstärkte Machtkampf um Einflusssphären, Märkte und Ressourcen ist ein Machtkampf der herrschenden Kapitalfraktionen. Nicht zuletzt mit dem Krieg in der Ukraine wird deutlicher, dass dieser Machtkampf robuster ausgetragen wird und auch vor großen Kriegen nicht zurückgeschreckt werden wird. Dies ist nicht nur barbarisch, sondern widerspricht auch dem Interesse der großen Mehrheit der Menschen. Auch Frau von der Leyen sagte schon lange vor dem Krieg, dass wir uns in einer Ära der steigenden Konkurrenz großer Mächte befinden und die EU nicht neutral in dieser Auseinandersetzung ist. Sie müsse auch den politischen Willen zeigen, nicht nur mit wirtschaftlichen Mitteln ihre „Interessen“ zu vertreten, sondern ‚zu Not‘ auch militärisch.

Die Freiheitsliebe: Die EU hat vor einigen Jahren China zum neuen Systemrivalen erklärt. Warum hat sie sich in der wachsenden geopolitischen Konkurrenz zwischen den USA und China so klar positioniert und welche Rolle spielt die Bundesrepublik dabei?

Özlem Alev Demirel: Der Begriff Systemrivale sollte uns nicht täuschen, es handelt sich hier bei allen um kapitalistische Staaten. China ist ökonomisch die zweitstärkste Macht der Welt, ein rasant wachsender kapitalistischer Staat, der immer größere Anteile des globalen Marktes beansprucht. Die EU, beziehungsweise die beiden Führungsmächte in der EU, Deutschland und Frankreich, sagen vor allem, dass sie ihre bisherige Ordnung, die sie im Einklang mit der bisherigen Weltmacht USA aufgebaut haben, gemeinsam mit dieser verteidigen wollen. Denn Chinas Politik tangiert, ebenso wie auch die Russlands, gerade in der Ukraine, ihre Einflussgebiete.

Die Einigkeit zwischen den USA, Deutschland und Frankreich bezieht sich also vor allem darauf, da, wo ihre eigenen Interessen tangiert sind, neue aufstrebende imperiale Mächte zurückzudrängen. In Afrika zum Beispiel, das führende EU-Mächte historisch als ihren Hinterhof betrachten, bauen insbesondere China, aber auch Russland ihren Einfluss aus. China wird dabei auf beiden Seiten des Atlantiks durchaus unterschiedlich bewertet. Deutschland und Frankreich sehen das Land zwar als gefährlichen Konkurrenten, suchen aber die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit. Denn China ist nun mal die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, kontrolliert entscheidende Lieferketten der elementar wichtigen Ressourcen der Zukunft und ist damit auch eine ganz andere Größe als Russland, das militärisch sehr stark, aber ökonomisch sehr klein ist. Für den Hegemonialanspruch der USA ist China die größte Gefahr. Das alles sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch weiterhin Widersprüche zwischen den Westmächten gibt. Sie streiten auch weiterhin untereinander um Märkte und den Zugang zu Ressourcen.

Die Freiheitsliebe: Vor kurzem wurde bekannt, dass Bennett Naftali, der ehemalige israelische Ministerpräsident, einem Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine nur wenige Tage nach Beginn des Krieges schon sehr nahe war. Warum hat das nicht geklappt?

Özlem Alev Demirel: Die Selenskyj-Regierung war zu Beginn des Krieges noch stark an einem Waffenstillstand interessiert. Aus den Verhandlungen in der Türkei wurden Fortschritte gemeldet. Konkret ging es darum, dass die Ukraine in einem ersten Schritt ihre Neutralität erklärt, also auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet und im Gegenzug von bis zu zehn Ländern eine Sicherheitsgarantie erhält. Über die Fragen der Krim und der Donbas-Regionen sollte in weiteren Schritten – möglicherweise nach einem Waffenstillstand – verhandelt werden. Doch dann warnte die britische Regierung Kiew vor einem voreiligen Friedensschluss und US-Präsident Biden beendete seine Europareise Ende März 2022 mit seiner berüchtigten Rede in Warschau, Polen, einem der wichtigsten osteuropäischen EU-Staaten und US-Einflussgebiet. Dort sagte er, dass Putin nicht Staatschef in Russland bleiben dürfe, und dass man mit Putin nicht verhandeln könne. Zwar musste das Weiße Haus später zurückrudern, dass er nicht von einem Regime-Change gesprochen habe, aber dennoch: die Losung stand im Raum und die Botschaft gegen einen verfrühten Friedensschluss war auch deutlich in Polen, im wichtigsten osteuropäischen Staat in der EU und NATO, angekommen. Mit Rückendeckung der USA hat die Selenskyj-Regierung die erteilte Aufgabe dann gerne angenommen, diesen Krieg weiterzuführen. Es folgten massive Wirtschaftshilfen und Kredite, Waffenlieferungen sowie militärisch-strategische Ausbildung und Hilfen.

Die Freiheitsliebe: Wie beurteilst du die Sprengung von North Stream II, die wie Seymour Hersh herausfand, auf die USA zurückzuführen ist?

Özlem Alev Demirel: Ich kann nur wiederholen, was ich schon direkt nach der Sprengung der Pipeline gesagt habe: Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber die Sprengung zeigt, wie robust der Machtkampf ausgetragen wird. Seymour Hersh ist gleichwohl ein ernstzunehmender Journalist. Seine Quellen sind beschränkt und nicht öffentlich, und dennoch muss seine Recherche ernstgenommen werden. Bisher habe ich aber den Eindruck, dass die Bundesregierung die öffentliche Aufarbeitung des Anschlags verschleppt. Das ist aber ihre Pflicht und ganz egal, wie man vorher zu Nord Stream II gestanden hat, müssen wir auch darauf bestehen, dass hier alle Erkenntnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Die Freiheitsliebe: Dazu passt auch die Sanktionspolitik der EU, Öl- und Gaslieferungen aus Russland zu boykottieren. Wenn man sich aber die Auswirkungen der Sanktionen auf die Energieversorgung in Deutschland anschaut, hat man das Gefühl die Bundesregierung agiert nicht sonderlich klug. Gibt es einen neuen Widerspruch zwischen der Außen- und der Energiepolitik Deutschlands?

Özlem Alev Demirel: Innen- und Außenpolitik, insbesondere wenn sie wirtschaftliche Interessen betreffen, können niemals losgelöst voneinander betrachtet werden. Das gilt auch für das Agieren Deutschlands in diesem Krieg. Wer meint, Deutschland sei hier ausschließlich Vasall der USA, verkennt die ökonomische und politische Macht Deutschlands.

In der Frage, wie es im Interesse Deutschlands sein kann, diesen Krieg zu verlängern, da dies hierzulande offensichtlich zu ökonomischen Verwerfungen führt, definieren zwei Hauptargumente die dominante Position der Herrschenden.

Erstens: sollte Russland seine Ziele zu schnell durchsetzen, würde dies deutsche Kapitalinteressen negativ berühren und deshalb muss der Preis Russlands für seinen Angriff in die Höhe getrieben werden. Allerdings mit Maß und kontrolliert, ohne dadurch unmittelbar in den Krieg verwickelt zu werden.

Und zweitens geht es darum, einen größeren Bruch innerhalb der EU zu verhindern. Insbesondere die osteuropäischen Staaten verlangten eine nahezu bedingungslose Unterstützung der Ukraine. Die Europäische Union bleibt aber für die beiden Führungsmächte der EU, Deutschland und Frankreich elementar wichtig, um selbst als Weltmächte im Konkurrenzkampf um Einflusssphären mit den USA und China bestehen zu können. Dabei nutzten die USA ihren politischen Einfluss auf die osteuropäischen Staaten geschickt, um den Druck auf Deutschland und Frankreich zu erhöhen, damit diese ihren Kurs mittragen.

Deutschland beansprucht zunehmend selbst, Führungsmacht in Europa zu sein und will deshalb Putins Russland ‚zähmen‘. Es führt die Auseinandersetzung also auch im eigenen Interesse. Dass Russland dabei als wichtiger Energielieferant ausfällt, soll dadurch kompensiert werden, dass der ohnehin geplante Ausbau der regenerativen Energieträger schneller vorangetrieben wird. Akute Energiebedarfe werden durch umweltschädliches LNG aus den USA und Importe aus verschiedenen Staaten mit menschenrechtsverachtenden Regimen kompensiert. Der milde Winter hat Deutschland hier zudem mehr Zeit gegeben. Natürlich darf man nicht vergessen, dass es auch innenpolitische Gründe gab, wie die Wahlen in Frankreich und die Koalitionszusammensetzung in Deutschland, diese sind aber wahrscheinlich wesentlich weniger gewichtig als die elementare Frage, die EU zusammenzuhalten.  

Die Freiheitsliebe: Wie würdest Du die Rolle Deutschlands in der NATO beschreiben?

Özlem Alev Demirel: Die NATO ist vor allem die Allianz der Weltmacht und des Hegemon USA. Sie gibt den Ton an. Nach den Jahren der Trump-Administration arbeitet die Biden-Administration daran, ihr Bündnis wieder auf Linie zu bringen. Deutschland hat keinen Führungsanspruch in der NATO, dafür fehlen ihm auch militärische Instrumente wie Atomwaffen. Aber auch die Debatte über deutsche Atomwaffen wird – so meine Befürchtung – verstärkt weitergehen. Was Deutschland im Moment macht, ist, seine militärischen Fähigkeiten massiv auszubauen und gesellschaftlich-historische Hürden dabei abzubauen.

Die Freiheitsliebe: Wie beurteilst Du die Initiativen von Emmanuel Macron, gemeinsam mit Deutschland eine neue Sicherheitspolitik für Europa zu entwickeln und warum lässt sich die Bundesregierung nicht darauf ein?

Özlem Alev Demirel: Wer sagt, dass Deutschland sich nicht darauf einlässt? Deutschland hat aber tatsächlich ein Problem. Es ist ökonomisch eine Weltmacht, aber eben doch keine Atommacht. Es ist nuklear von den USA abhängig. Bereits zu Merkels Zeiten liefen deshalb hinter den Kulissen Verhandlungen darüber, inwieweit Deutschland an dem französischen Atomwaffenarsenal teilhaben könne. Während Macron in der Trump-Ära die NATO noch für hirntot erklärte, einigt die Bündnispartner derzeit das Ziel, Russlands Ambitionen, die es mit dem Überfall auf Ukraine verdeutlicht hat, zurückzudrängen.

Deutschland und Frankreich sind sich auch einig, dass sie die EU zu einer Militärunion weiterentwickeln möchten. Die Militärischen Fähigkeiten der EU werden derzeit im Einklang mit der NATO ausgebaut. Aber man bereitet sich natürlich auch für den Fall vor, dass es in den USA beispielsweise wieder zu einer Ära Trumpscher Politik kommt, um dann stärker autark agieren zu können. Damit einher geht die Forderung führender Sozialdemokraten, dass BRD und EU sich als Weltmacht nicht allein auf ihre ökonomische Kraft verlassen dürften, sondern auch als Militärmacht schlagkräftiger werden müssten. Deutschland will in Zukunft nicht nur Wirtschaftsmacht Nummer eins in der EU sein, sondern auch die entsprechenden militärischen Fähigkeiten besitzen. Der Ukraine-Krieg wurde genutzt, um die notwendigen Ausgaben durchzuboxen. Seit Jahren massiv steigende Militärausgaben wurden noch einmal extrem aufgestockt. Jetzt heißt es, dass auch die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr nicht reichen.

Frankreich wird Deutschland die Führungsrolle natürlich nicht alleine überlassen wollen. Und es gibt Streit bei verschiedenen Rüstungsprojekten darüber, welche Rüstungskonzerne wie viel profitieren. Frankreich ist beispielsweise nicht amüsiert darüber, dass Deutschland aktuell auf Jets aus den USA zurückgreift anstatt hier ein europäisches Rüstungsprojekt voranzutreiben, von dem auch französische Waffenschmieden profitieren würden.

Der Krieg hat die Bevölkerung massiv verunsichert. Man nutzt den berechtigten Unmut der Bevölkerung gegen den russischen Überfall auf die Ukraine geschickt, um gesellschaftlich und historisch bedingte Tabus und Haltungen gegen Militarismus in der deutschen Debatte zu brechen.

Die Freiheitsliebe: Dabei wird die öffentliche Debatte von der Forderung nach immer mehr Waffenlieferungen bestimmt: Können Waffenlieferungen den Krieg in der Ukraine stoppen oder birgt das die Gefahr, dass sich der Krieg auf ganz Europa ausweitet?

Özlem Alev Demirel: Bisher erklären die USA und auch Deutschland und Frankreich, ebenso wie übrigens Russland, dass sie eine direkte Konfrontation auf dem Schlachtfeld vermeiden wollen. Das entspricht einer ungeschriebenen Regel der nuklearen Welt, nach der Atommächte sich im Krieg nicht unmittelbar gegenüberstehen. Wie lange dies noch gilt, ist natürlich fraglich. Mein Eindruck ist, dass alle direkt und indirekt Beteiligten Mächte in der Ukraine nochmal „all in“ auf das Schlachtfeld setzen, um ihre Karten für den Verhandlungstisch zu verbessern. Dabei will niemand den Konflikt zu einem direkten Krieg zwischen Atommächten machen. Für die USA ist Russland da auch nicht relevant genug. Aber Kriege haben eben auch eine Eigendynamik. Für die USA liegt der Fokus hauptsächlich auf China. In einem Konflikt um Taiwan würden sie nach eigener Aussage noch deutlich schärfer reagieren als jetzt in der Ukraine. Die Weltkriegsgefahr steigt also – aber nicht nur wegen des Kriegs in der Ukraine. Mir scheint er eher die Vorstufe zu sein, für das, was alles noch auf uns zukommt.

Die Freiheitsliebe: Neben dem wachsenden Unsicherheitsgefühl vieler Menschen hat der Krieg auch zu einer Verschärfung der sozialen Situation geführt. Haben die letzten 12 Monate Krieg den Alltag der Menschen in Europa verändert?

Özlem Alev Demirel: Ja klar, Preissteigerungen bei Lebensmitteln, explodierende Preise für Strom und Gas führen dazu, dass viele Menschen wirtschaftlich in Bedrängnis geraten sind. Auch die soziale Schere ging noch weiter auseinander.

Deutlich wird, dass wir uns nicht mehr in der klassischen neoliberalen Ära befinden, in der sich der Staat aus allem, was Wirtschaft ist, rauszuhalten hatte und lediglich dafür gut sein sollte, neue Investitionsmöglichkeiten für das Kapital zu ermöglichen. Jetzt beschließt er Preisbremsen für Strom, Gas und Wärme und es werden schon mal Schlagworte wie „Kriegswirtschaft“ als Testballon gestartet. Sogar das Kapital selbst schreit derzeit nach dem Staat. Er soll mit Subventionen beim Aufbau neuer aufwendiger Technologien helfen. Die Profite sollen dann anschließend natürlich wieder privatisiert werden. Der „Inflation Reduction Act“ in den USA ist dafür das beste Beispiel.

Die Freiheitsliebe: Vor dem Hintergrund der sozialen Auswirkungen des Krieges müssten also auch die Gewerkschaften ihre Stimme erheben, oder? Wie läuft die Debatte in den europäischen Gewerkschaften oder im EGB dazu?

Özlem Alev Demirel: Der EGB ist ein Zusammenschluss verschiedener nationaler Gewerkschaften. Und in den Gewerkschaften gab und gibt es eine Debatte und Auseinandersetzung zur Haltung gegen den Krieg. Der EGB bewegt sich also in diesem Rahmen, verurteilt den Überfall auf die Ukraine, fordert humanitäre Hilfe, aber versucht weitestgehend die Kontroverse gegen den Krieg auszuklammern. Dabei hat dieser Krieg – inklusive der Debatte um Sanktionen und Aufrüstung – auch massive Auswirkungen auf die Arbeitswelt und Sozialpolitik.

In der Ukraine nutzte die Selenskyj-Regierung den Krieg auch um gewerkschaftsfeindliche und arbeitnehmerfeindliche Reformen durchzupeitschen. Hier hat sich der EGB nach einigem Zögern aber kritisch geäußert.

Die Freiheitsliebe: Um so wichtiger, dass es eine starke Friedensbewegung unter Beteiligung der Gewerkschaften gibt. Doch durch die deutsche Friedensbewegung geht derzeit ein Riss. Kann man von einer europäischen Friedensbewegung sprechen und wenn ja wie stark ist sie?

Özlem Alev Demirel: Die Friedensbewegung hatte Krieg und Rüstung bisher nicht viel entgegenzusetzen. Dabei fallen ihr auch eigene analytische Schwächen auf die Füße. Die größte Herausforderung, vor der wir stehen, ist, den Charakter des Krieges als innerimperialen Machtkampf zu analysieren und die geopolitischen Verschiebungen in der Welt aus einer Klassenhaltung heraus zu beantworten. Heute ist der innerimperiale Machtkampf auch deutlicher zu erkennen als möglicherweise zu Beginn des Krieges. So gibt es auch Hoffnung, dass zum Jahrestag des Krieges im ganzen Land auch Kundgebungen für ein Ende des Krieges stattfinden werden.

Aber von einer europäischen Friedensbewegung kann nicht wirklich gesprochen werden, wenngleich in vielen europäischen Ländern doch auch eine Haltung für den Frieden präsent ist. In Italien beispielsweise gab es große Demonstrationen gegen Waffenlieferungen. In Belgien und Frankreich gab es Generalstreiks – nicht unmittelbar gegen den Krieg – aber gegen die sozialen Verwerfungen, die dieser Krieg verschärft hat.

Die Freiheitsliebe: Du bist selbst Gewerkschafterin, warum, glaubst Du, müssen die Gewerkschaften in der Friedensbewegung eine Rolle spielen? Und wie kann die Friedensbewegung ihre Spaltung überwinden und wieder handlungsfähig werden?

Özlem Alev Demirel: Es braucht klarere Antworten, die den Krieg einordnen und in den Kontext der imperialen Kämpfe einbauen. Wer kämpft hier und in wessen Interesse? Das scheint mir die entscheidende Frage. Wenn man das nicht macht, kann man nämlich schnell zu falschen Schlussfolgerungen kommen. So beispielsweise letztens in einem Artikel in der TAZ, in dem der Krieg mit dem Vietkong gleichgesetzt wurde. Selbstverständlich müssen wir solidarisch sein mit den Menschen in der Ukraine, die unter dem Krieg leiden. Das heißt aber eben auch, nicht zuzulassen, dass hiesige Regierungen ihre geopolitischen Interessen über das Leben der Menschen dort stellen. Gewerkschaften sind dabei wichtig, weil sie die natürliche Organisation der Arbeiter sind. Nur eine starke Arbeiterbewegung, als Herz der Friedensbewegung, kann die Imperialisten wirklich stoppen.

Ich zitiere da einmal Rosa Luxemburg, die 1915 gesagt hat: „Wir sind der Auffassung, dass Kriege nur dann und nur so lange geführt werden können, als die arbeitende Masse sie entweder begeistert mitmacht, weil sie sie für eine gerechte und notwendige Sache hält, oder wenigstens duldend erträgt. Wenn hingegen die große Mehrheit des werktätigen Volkes zu der Überzeugung gelangt – und in ihr diese Überzeugung, dieses Bewusstsein zu wecken, ist gerade die Aufgabe, die wir Sozialdemokraten uns stellen – wenn, sage ich, die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, dass Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind, dann sind Kriege unmöglich geworden und mag zunächst der Soldat noch den Befehlen der Obrigkeit Gehorsam leisten!“

Und genau vor dieser Herausforderung stehen wir auch heute wieder.

Die Freiheitsliebe: Herzlichen Dank, Özlem, für dieses aufschlussreiche Gespräch!

Özlem Alev Demirel wohnt in Düsseldorf und sitzt für DIE LINKE im Europaparlament. Das Gespräch führte Ulrike Eifler, Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE.

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