In den letzten Wochen kamen nahezu täglich Verlautbarungen von Personen des öffentlichen Lebens – Plötzlich beginnt eine bemerkenswerte Verschiebung im deutschen Diskurs zum Genozid in Gaza.
So äußerte sich Anfang Mai Luisa Neubauer von Fridays for Future auf den Deutschen Antidiskriminierungstagen 2025 kritisch zur israelischen Kriegsführung und forderte einen Stopp der Waffenlieferung. Markus Lanz erklärte in seinem Podcast mit Richard David Precht sein Unverständnis über das Schweigen der deutschen Politik. Einige Tage später schrieb einer der führenden Politikwissenschaftler des Landes, Carlo Masala, von israelischen Kriegsverbrechen und kritisierte die seit Monaten anhaltende Blockade von humanitärer Hilfe in den Gaza-Streifen. Und dann meldete sich vor wenigen Tagen Bundeskanzler Friedrich Merz zu Wort und kritisierte in einem neuen Ton die israelische Kriegsführung auf der re:publica in Berlin: „Das, was die israelische Armee jetzt im Gazastreifen macht – ich verstehe offen gestanden nicht mehr mit welchem Ziel“
Im internationalen und europäischen Diskus stand die Bundesregierung mit ihrer einseitigen Parteinahme schon lange isoliert da. Macron kritisierte das israelische Vorgehen als „Schande“. Die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Großbritannien und Kanada kritisierten die israelische Kriegsführung bereits vor einigen Wochen in einem gemeinsamen Brief. Sie kündigten zudem an, dass sie einen palästinensischen Staat anerkennen würden. Nach den Worten von Friedrich Merz wird die Kritik an der israelischen Regierung in Deutschland immer lauter. Plötzlich öffnet sich ein winzig kleiner Spalt im Diskurs. Auch in der Sozialdemokratie werden noch mehr Stimmen lauter, die das israelische Vorgehen und die Pläne zur ethnischen Säuberung des Gaza-Streifens verurteilen.
Blockade Gazas als Ursache?
Es ist unglaubwürdig, dass die Kehrtwende in der deutschen Politik allein durch die Blockade der humanitären Hilfe in Gang geraten ist. Die aktuelle Blockade war die längste und womöglich brutalste dieser Art, aber sicher nicht die erste dieses Krieges. Die Verteilung der dringend benötigten Hilfe über die Gaza Humanitarian Foundation einer zweifelhaften Organisation, scheiterte bevor sie begann und kann eher als Manöver der israelischen Führung gewertet werden, um den Vorwurf des Aushungerns der Palästinenser*innen zu begegnen und diese gleichzeitig zu konzentrieren. Diese Entwicklungen sind zwar neu, aber sie können nur Anlass für diese rhetorische Wende in der Bundesregierung sein. Denn die Blockade von humanitärer Hilfe, das Bombardieren von Schulen und Krankenhäusern, die unzähligen zivilen Toten, Frauen und Kinder, die Tötung von Journalist*innen, all diese Verbrechen dieses Genozids und viele mehr sind seit nunmehr 20 Monaten für alle politischen Beteiligten und die Weltöffentlichkeit sichtbar.
Es ist schwer zu sagen, woher dieser neue Ton in der Bundesregierung kommt. Naheliegend wäre, dass dieser auch mit der Bundestagswahl und den veränderten Machtverhältnissen zusammenhängt. Unter Olaf Scholz war über 19 Monate lang die einhellige Formel zu jeder Kritik am israelischen Vorgehen und dem palästinensischen Leid – ein Rekurs zum Hamas-Angriff vom 7.Oktober 2023, die Feststellung, dass Israel ein Selbstverteidigungsrecht habe und eine Unterstützung Israels in dieser vermeintlichen Verteidigung deutsche Staatsräson sei. Diesen Dreisatz von 7. Oktober, Selbstverteidigungsrecht Israels und deutscher Staatsräson brachte erst kürzlich der Hamburger Bürgermeister, Peter Tschentscher von der SPD. Tschentscher erklärte im Podcast von Jung und Naiv über mehrere Minuten, dass es zwar schrecklich sei wie viele Menschen in Gaza sterben mussten, aber dies sei Schuld der Hamas. Das palästinensische Leid sei zwar da aber schlichtweg alternativlos, weil Hamas. Umso überraschender ist, dass seine Aussagen angesichts der aktuellen Diskursverschiebung wie aus der Zeit gefallen scheinen.
Denn zur Wahrheit gehört auch, dass diese zutiefst menschenverachtenden und ignoranten Ausführungen eines Tschentschers vor der Zeitenwende im deutschen Gaza-Diskurs die kranke Normalität waren und heute noch fallen. Wer ein Ende des israelischen Bombardements forderte, stand bis vor zwei Wochen unter Verdacht Terrorunterstützer und Antisemit zu sein, musste um seinen Job fürchten und wurde auf deutschen Straßen gewaltsam festgenommen. Es ist jetzt nicht alles anders, aber nach anderthalb Jahren eines Diskurses über Palästinenser*innen voller Dehumanisierung und Dämonisierung fühlt es sich wie eine menschenrechtliche Revolution an, wenn in Deutschland das Selbstverständliche und menschliche Gebotene gesagt wird. Wir haben alle gesehen, wie die letzte Bundesregierung Tag ein Tag aus, russische Kriegsverbrechen verurteilte, aber zu den Toten in Gaza, oft um ein Vielfaches höher, schwieg und ihre unbedingte Solidarität für Israel beschwur. Wie Medien seit 20 Monaten Palästinenser*innen als Opfer von Naturkatastrophen verklären und über das menschengemachte Sterben in Gaza und der Westbank (nicht) berichteten. Oft nur Meldungen der IDF kopierten und übernahmen. Die zynische Doppelmoral in der deutschen Öffentlichkeit wird für immer die grausame Kakophonie dieses Genozids bleiben an dem sich Deutschland diplomatisch, militärisch und medial beteiligt hat. Sie hat viele Menschen in Deutschland und der Welt von diesem Land entfremdet.
Menschenrechte in Deutschland wieder en vogue
Es bleibt umso mehr ein Rätsel, wieso Menschenrechte in Deutschland wieder en vogue sind. Die Grünen haben in der Opposition auch wieder zu ihnen gefunden und offenbar vergessen, wie Annalena Baerbock den Beschuss von palästinensischen Krankenhäusern bei den Vereinten Nationen und dann erneut im Deutschen Bundestag verteidigte. Auch in der SPD ist man jetzt als Juniorpartner, wo man bequemerweise weder das Kanzleramt noch das Außenministerium besetzen muss, auffallend laut und geschlossen in dieser Frage. Vielleicht hat die Wahlschlappe der SPD auch in migrantisch geprägten Wählergruppen doch eine Wirkung entfaltet? Und was ist eigentlich aus der Einladung Netanyahus nach Deutschland geworden, die Friedrich Merz noch direkt nach der Wahl verkündete? Um es mit den Worten von Friedrich Merz zu sagen: Ich verstehe offen gestanden nicht, wie er diesen Mann einladen will, wenn er so über seine Regierung in der Öffentlichkeit spricht? Aber warum zieht man ernsthaft in Erwägung einen international gesuchten Verbrecher einzuladen. Dass Friedrich Merz gerne Dinge behauptet, die er einige Tage später wieder kassiert, ist ein offenes Geheimnis. Aber ich muss gestehen, dieses Mal war ich ein wenig erleichtert, dass er es mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen hatte. Dennoch bin ich auch misstrauisch.
Denn wenn jene, die so lange geschwiegen haben, sich auf einmal äußern und das Leid der Palästinenser kritisieren. Jetzt wo sie zusammengepfercht und in menschenunwürdigen Bedingungen aus dem Gaza-Streifen vertrieben werden sollen und dabei entweder von Bomben getötet, mangels Nahrung verhungern oder an grassierenden Krankheiten versterben, ist es legitim die Beweggründe zu hinterfragen. Ob Teile der deutschen Politik nun wirklich einen Funken Anstand gefunden haben oder vielleicht einfach nur die Zeichen der Zeit lesen und sich noch schnell auf die richtige Seite der Geschichte retten, kann niemand genau sagen. Ob nun das Gewissen oder doch Opportunismus diesen neuen politischen Wind bestimmt, man darf man die Politik weiterhin nicht aus der Verantwortung entlassen. Und man darf sich auch nicht sicher sein, dass es nicht in wenigen Tagen wieder, wie davor klingt und nichts passiert. Auch darin ist Friedrich Merz ein Spezialist.
Natürlich machen die neuen Töne der Bundesregierung erstmal Hoffnung. Es macht Mut, aber solange den Worten keine Taten folgen, muss der Protest gegen diese unmenschliche Politik weiter gehen. Und gerade deshalb müssen alle laut bleiben, die es bereits waren und all jene, die sich womöglich aus individuellen Gründen und Befürchtungen zurückgehalten haben, müssen es werden. Nach 20 Monaten Genozid sind viele müde geworden, ihrem (oft) deutschen Umfeld einen Grundkurs in Humanität und Menschenrechten zu geben: Es ist in Ordnung kurz aufzuatmen, aber es muss nun noch mehr heißen, es reicht! Der Genozid in Gaza geht jeden Tag voran und solange die Bundesregierung Waffen an Israel schickt, ist sie an diesen Verbrechen beteiligt. Wir dürfen das Sterben in Gaza und die Beteiligung unserer Regierung nicht länger dulden. Und wenn dieser Krieg eines Tages endlich endet und alle Palästinenser in Würde und Freiheit in ihrem eigenen Staat leben können. Dann, wenn dies geschehen ist, braucht es eine gründliche Aufarbeitung der Rolle von Politik und Medien zu einem Genozid vor den Augen der Weltöffentlichkeit…