Die Nahostblockade – Oder: Warum fällt es der deutschen Linken so schwer eine Antikriegsbewegung aufzubauen?

Gaza - Bild Motaz Azaiza

Eigentlich sind die Verhältnisse sehr klar: Die israelische Armee begeht seit mehr als einem Jahr Kriegsverbrechen in Gaza. Vieles deutet darauf hin, dass die israelische Regierung die Wiederbesiedlung des nördlichen Gazastreifens anvisiert und die Bevölkerung von dort dauerhaft vertreiben will.

Ein Waffenstillstands- und Geiseldeal wurde von der israelischen Regierung mehrfach blockiert. Der regionale Flächenbrand, vor dem monatelang gewarnt wurde, ist mindestens seit der Invasion im Libanon Realität geworden. Die internationalen Gerichte nehmen das zum Anlass, Haftbefehle gegen Netanjahu, Verteidigungsminister Gallant und Hamas-Führer Deif auszustellen und sehen Anzeichen für einen Genozid, wie die Klage Südafrikas gezeigt hat.

Und doch gelingt es der deutschen Linken bislang kaum eine Solidaritäts- bzw. Antikriegsbewegung aufzubauen. Dabei wäre es gerade hier dringend notwendig: Die Bundesregierung unterstützt den Krieg durch Geld, Waffen und Diplomatie. Im Namen der Staatsräson tritt sie nicht nur die Demonstrationsfreiheit auf den Straßen Berlins mit den Füßen, sondern auch das Völkerrecht. Die Zerrissenheit der Linken und das lange Hadern um eine differenzierte Position war kurz nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober verständlich und vielleicht sogar angebracht. Heute ist sie es nicht mehr.

Wie sind wir hier gelandet?

Dass der israelisch-palästinensische Konflikt in der deutschen Linken ein spezielles Thema ist, muss man niemandem erklären. Lange galt das Diktum: Über Nahost sprechen wir nicht, sonst spalten wir uns. Diese Position hatte in den 90ern vielleicht ihren Sinn, in einer postmigrantischen Linken, in der viele biographische Bezüge in die Region haben – seien es linke Israelis, Palästinenser*innen oder aus Syrien geflohene – ist eine solche Dethematisierung realitätsfern und blockierend, ebenso für viele in Deutschland lebende Linke aus ehemals kolonialisierten Teilen der Welt. Dieses Versäumnis und das daraus resultierende Fehlen politischer Analysen und genossenschaftlicher Beziehungen in die Diasporagruppen haben uns nach dem 7. Oktober lange gelähmt, sodass wir vorerst nicht geschafft haben, angemessen und solidarisch gemeinsam mit anderen auf den genozidalen Krieg zu reagieren.

Unsere IL Position in den ersten Wochen nach dem Angriff des 7. Oktobers und dem darauffolgenden Rachefeldzug Israels war eine radikal-humanistische: Das Leid auf beiden Seiten anerkennen, Antisemitismus und Rassismus verurteilen und die Stimmen stärken, die trotz aller Gewalt die Hoffnung auf einen gerechten Frieden nicht aufgegeben haben. Waffenstillstand und Geiseldeal. Dieser simple Grundsatz, dass Menschenleben nicht mit zweierlei Maß gemessen werden sollen, ist heute nicht weniger aktuell. Doch was folgt aus diesem Humanismus, wenn das Massaker mit einem nicht endenden Vernichtungskrieg beantwortet wird? Und was kann der Humanismus zu den strukturellen Ursachen des Konflikts sagen, zu jahrzehntelanger Entrechtung und Besatzung?

Manchmal scheint es, als drehe sich die Linke lieber um sich selbst, als die Realität vor Ort (oder auch in Neukölln) wahrzunehmen. Es dominiert eine Politik der roten Linien, die zudem auch meist nur einseitig gezogen werden, und keine Politik der grundsätzlichen Solidarität. Die berechtigte Sorge, dass Antisemitismus und die Sicherheit jüdischen Lebens in der palästinasolidarischen Bewegung relativiert und der 7. Oktober als Befreiung gefeiert wird, dominiert vor dem grundsätzlichen geteilten Interesse, einen Waffenstillstand und ein Waffenembargo zu erreichen. So steht die Linke skeptisch am Rand und weiß nicht so recht wohin mit sich. Weite Teile der mehrheitlich migrantischen Linken fühlen sich zu recht im Stich gelassen von der mehrheitlich deutschen Linken, die sie zunehmend als Teil der Staatsräson wahrnimmt. Das führt zu scheinbar unüberwindbaren Gräben. Und einem dröhnenden Schweigen aufseiten der deutschen Linken.

Dies hat auch dazu beigetragen, dass die Positionen der deutschen Linken und die der Linken weltweit zu Palästina/Israel so sehr divergieren wie zu keinem anderen Thema. Unter deutschen Linken dominiert entweder das Schweigen oder aber eine weitestgehend humanitäre Position, die für Frieden und gegen das Leid einsteht, damit aber die strukturelle und historische Dimension des Konflikts ausblendet. International begreift sich die Linke als Teil einer Bewegung, die sich für den Kampf gegen Siedlerkolonialismus, Apartheit und für die Freiheit von Palästina einsetzt.

Eine breite Antikriegsbewegung aufbauen

Diese Spaltung spiegelt sich auch auf den Straßen Deutschlands – und innerhalb der IL – wieder: Die relevante Bewegung ist in der BRD aktuell die palästinasolidarische, die aller Repression zum Trotz seit über einem Jahr auf Woche für Woche Demonstrationen organisiert. Die deutsche Linke ist hier weitestgehend abwesend, man ist zwar gegen den Krieg gegen Gaza, bleibt jedoch auf Distanz zur Befreiungsbewegung. Eine breitere, ins bürgerliche Spektrum reichende Antikriegsbewegung gibt es derzeit kaum. Dabei könnte gerade mit einer solchen Bewegung relevanter Druck auf die Bundesregierung erzeugt werden.

Als IL haben wir uns deshalb bemüht, gemeinsam mit NGOs wie medico international, Amnesty International und CARE sowie politischen Gruppen wie den Israelis for Peace und der Deusch-Palästinensischen Gesellschaft ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis zusammenzubringen, um für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina und gegen deutsche Waffenexporte zu demonstrieren. So kamen wir am 18. Oktober 2024 am Washington Platz mit 3000 Menschen zu einer Kundgebung zusammen. Ja, der Protest kommt ein Jahr und 45.000 Tote zu spät. Das ist ein Versagen, durch das viel Zeit verloren, Vertrauen zerstört und der massiven Repression Tür und Tor geöffnet wurde. Es ist unsere Verantwortung den Scherbenhaufen, den das nicht-Handeln der deutschen Linken mitverursacht hat, jetzt aufzukehren.

Das strategische Ziel hinter der Kundgebung war es, einen Raum zu schaffen, der sich durch die Breite der aufrufenden Organisationen schwer delegitimieren lässt und auf diese Weise zusätzlich Druck auf die Bundesregierung ausüben kann. Viele auf der Kundgebung haben uns zurückgemeldet, dass es die erste Demonstration war, die sie seit dem 7. Oktober besucht haben – daraus wurde deutlich, dass es durchaus ein Spektrum gibt, das gegen die Kriegsverbrechen und die deutsche Mitverantwortung auf die Straße gehen möchte, sich jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht den bisherigen Protesten anschließen wollte. Inzwischen lehnt selbst die Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Kurs der Bundesregierung ab. Hierin liegt ein Potenzial, das wir auch in der Zukunft ausnutzen und sichtbar auf die Straße tragen sollten.

Gegen die deutsche Mitverantwortung, für einen gerechten Frieden

Wir sind der Meinung, dass der Einsatz gegen Waffenexporte sowohl die dringendste als auch die strategische richtige Praxis ist. Dringend ist sie, da sie der einzige materielle Hebel ist, mit dem sich der Krieg beenden ließe. Strategisch richtig ist sie, da sich über Waffenexporte einerseits die deutsche Mitverantwortung für die Kriegsverbrechen artikulieren und andererseits breitere Bündnisse knüpfen, die politische Akteure miteinbeziehen, die sich nicht klar auf den palästinensischen Widerstand beziehen wollen.

Dies soll nicht in Konkurrenz zur palästinasolidarischen Bewegung passieren, im Gegenteil. Ein solidarischer Bezug auf den maßgeblich von Palästinenser*innen getragenen Widerstand in Berlin und ein Zusammenstehen gegen die repressive deutsche Staatsräson sind absolut essenziell. Außerdem ist sie ein wichtiges Korrektiv für Positionen, die in einem humanitär ausgerichteten Antikriegsspektrum eher im Hintergrund stehen: Es reicht nicht, gegen den vernichtenden Krieg zu demonstrieren. Wir wollen nicht zurück zum 6. Oktober. Es braucht eine systematische Kritik der Gewalt, die Besatzung und Apartheid auch jenseits des Krieges bedeuten. Ein gerechter Frieden bedeutet das Schweigen der Waffen, einen Gefangenendeal (everyone for everyone) UND ein Ende der Besatzung. Nur so kann das Recht auf ein Leben in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung für Palästinenser*innen und Israelis realisiert werden.

Ja, es ist schwer als radikale Linke, viele von uns mit Familien mit Nazihintergrund, im Land der Shoah gegen die Verbrechen Israels auf die Straße zu gehen. Aber wer aus der eigenen verbrecherischen Geschichte die Lehre zieht, den Mund zu halten, wenn die israelische Armee ganze Teile Gazas zerstört, missbraucht das Gedenken an den Holocaust. Wenn es etwas gibt, was wir aus der Geschichte lernen müssen, dann ist es unsere Stimme ohne doppelte Standards gegen Dehumanisierung und Menschenrechtsverbrechen zu erheben, egal wen sie treffen, egal wer sie ausübt. Unsere Verbündeten sind dabei die progressiven Kräfte vor Ort und in der Diaspora sowie all jene, die sich im schweigenden Autoritarismus der Staatsräson nicht einrichten wollen.

Autor*innen: Israel/Palästina-Kreis der IL Berlin

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