Der Koalitionsvertrag: Symbolpolitik und leere Worte

By paulsteuber, pixabay, published under public domain.

Am Mittwoch wurde ab 15:00 Uhr der neue Koalitionsvertrag der Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten vorgestellt.

Ein modernes Cover und die Worte „Mehr Fortschritt wagen“ zieren den 179 Seiten langen Koalitionsvertrag der Ampelkoalition. Aber was verbirgt sich hinter den Worten?

Die ersten Vereinbarungen im Überblick:

Die Ressortverteilung

Personalien stehen noch keine endgültig fest, dennoch sind die Ministerien bereits auf die Parteien aufgeteilt. Die Aufteilung ergibt sich wie folgt:  

SPD

  • Inneres und Heimat
  • Arbeit und Soziales
  • Verteidigung
  • Gesundheit
  • Bauen
  • Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Bündnis 90/Die Grünen

  • Auswärtiges Amt
  • Wirtschaft und Klimaschutz
  • Familie, Senioren, Frauen und Jugend
  • Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz
  • Ernährung und Landwirtschaft

FDP

  • Finanzen
  • Justiz
  • Verkehr und Digitales
  • Bildung und Forschung

Auf den ersten Blick ist zu erkennen, die Parteien sind ihrer Linie treu geblieben. Die SPD übernimmt die Rolle der Sozial- sowie der Innen- und Außenpolitik, die Grünen bleiben beim Thema Klima- und Naturschutz und die FDP widmet sich den Finanzen sowie der Infrastruktur Deutschlands.

In welchem Ausmaß diese Aufgaben tatsächlich angegangen werden, kann man anhand des Koalitionsvertrags erahnen.

Klimaschutz

Eines der dringlichsten Themen, auch geknüpft an eine hohe Erwartungshaltung, ist das des Klimaschutzes: Kann die neue Koalition das 1,5-Grad-Ziel verwirklichen?

Nach der klaren Botschaft, dass es kein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen geben wird, muss man schauen, welche anderen Maßnahmen Teil des Vertrages sind.

An der Formulierung aus dem Sondierungspapier bezüglich des Kohleausstiegs „idealerweise“ 2030 hat sich auch jetzt nicht geändert. Konkreter wird es aber hinsichtlich des Ausbaus der erneuerbaren Energien, denn laut Koalitionsvertrag soll Deutschland 2030 bereits 80 Prozent des Stroms aus diesen beziehen. 

Die Ziele klingen ambitioniert, denn auch die Dörfer im Rheinischen Revier des dritten Umsiedlungsabschnitts sollen nicht mehr für den Braunkohleabbau schwinden. Bezüglich Lützerath, dem Dorf, welches symbolisch die 1,5-Grad-Grenze Deutschlands darstellt, positioniert sich die künftige Regierung jedoch nicht und lässt lieber das Gericht entscheiden. Wenn es also darauf ankommt, dem Konzern RWE eindeutig die rote Karte zu zeigen, schreckt die Regierung vor ihrer Verantwortung zurück.

Wählen ab 16

Die Parteien haben sich darauf verständigt, das Wahlalter sowohl für kommende Bundestagswahlen als auch für die Europawahlen auf 16 Jahre herabzusetzen. Ein wichtiger Schritt, um Jugendliche möglichst früh mit Teilen unserer Demokratie und ihren Herausforderungen vertraut zu machen, und eine faire Möglichkeit, auch jüngeren Menschen ihre rechtmäßige Stimme in unserer Demokratie zuzuerkennen. Von einer tatsächlichen, längst überfälligen Reform des Wahlsystems ist aber leider nicht die Rede. So werden wir wohl auch in dieser Legislaturperiode keine direkten Volksentscheide haben. Politische Entscheidungen müssen jedoch allgemein zugänglicher werden.

Cannabislegalisierung 

Auch die Cannabislegalisierung ist ein Grund zur Freude. Dazu heißt es: „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein.“ Nach Jahrzehnten der Aufklärung und des Dekonstruierens der irrationalen „Gegenargumente“ der Konservativen steht die Legalisierungsbewegung in Deutschland scheinbar kurz vor ihrem Ziel. Über 200.000 Strafverfahren werden jährlich wegen Cannabis eingeleitet – mit der Union undenkbar, bereitet die Ampel dem Kriminalisierungsirrsinn von Millionen Kiffer*innen hoffentlich bald ein Ende. Doch auch hier ein Dämpfer: Vom Eigenanbau steht im Papier nichts. Offensichtlich schwebt der Ampel eine ausschließliche Kommerzialisierung des Graskonsums vor, vom Acker bis zum lizenzierten Grasgeschäft der Profitlogik unterworfen. Unternehmen, ebenso wie der Staat, werden Milliarden einnehmen, während die kleine Homegrowerin auch weiterhin „kriminell“ ihre Pflanzen gießt.

Hier findet ihr unser Interview mit Georg Wurth, dem Vorsitzenden des Deutschen Hanfverbands:

Migration

Weniger erfreulich ist das Koalitionspapier bezüglich Migration. Mit den Worten: „Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen.“, bedient sich die Koalition an den Formulierungen der AfD und zeigt eine wenig fortschrittliche Perspektive. 

Auch heißt es: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird.“ Das klingt so, als wolle man eine Uhr auf Null stellen, ohne dabei zu beachten, dass bereits einige Stunden vergangen sind. Ein Neuanfang darf keineswegs die zahlreichen Menschen in Deutschland außer Acht lassen, welche bereits jetzt hier leben und die Möglichkeit auf ein lebenswertes Leben und Integration geboten bekommen sollten. 

Hartz-IV-Reform: „Bürgergeld“

Ein weiteres großes Thema ist das sogenannte Bürgergeld. Damit möchte vor allem die SPD ihrem Trauma der Einführung von Hartz IV unter Rot-Grün endlich entfliehen. Von einer richtigen Reform aber kann man nicht sprechen.

Die Sozialleistung soll zwar etwas erhöht werden, bei den steigenden Preisen im Moment ist aber fragwürdig, ob überhaupt ein Ausgleich gesichert wird. Ebenso kann das Geld für die Miete nicht mehr über Sanktionen gekürzt werden, auch die Vermögenskontrolle setzt in den ersten zwei Jahren der Arbeitslosigkeit aus. Das große Problem der allgemeinen Sanktionen und des niedrigen Satzes bleiben trotz weiterhin bestehen. 

Für all jene, die unter den menschenunwürdigen Verhältnissen leiden müssen, wird sich also voraussichtlich nichts ändern. Denn ganz egal, ob Hartz IV oder Bürgergeld, das Konzept gehört abgeschafft.

Mindestlohn und Minijob

Die neue Koalition möchte die steuerfreie Obergrenze für Minijobs von 450 auf 520 Euro und die Midijob-Grenze von 1.300 auf 1.600 Euro pro Monat erhöhen. Damit bleibt man auch bei zehn Stunden pro Woche und der angekündigten Mindestlohnerhöhung von 9,60 auf zwölf Euro im Rahmen eines Minijobs. 

Erstaunlicherweise setzten sich SPD und Grüne dafür ein, gar keine Minijobs ohne Sozialversicherung mehr zu genehmigen – paradox, wenn man bedenkt, wer maßgeblich für die Entstehung des Niedriglohnsektors verantwortlich ist. Und auch jetzt scheint ihnen das Thema nicht besonders wichtig gewesen zu sein, denn abermals konnte sich die FDP mit ihrer sozialunverträglichen Politik über beide hinwegsetzen. 

Für Rentner*innen und Schüler*innen mag die geringfügige Anhebung der Mini-/Midijob-Obergrenzen eine geringfügige Verbesserung sein, der Ausbeutung und den unsicheren Arbeitsverhältnissen insgesamt spielt dies jedoch in die Karten. Es wäre an der Zeit gewesen, das Modell dieser prekären Arbeitsweise ein für alle Mal zu beenden. 

Steuern

Nicht gerade überraschend, aber fragwürdig sind die Vereinbarungen zu den Steuern. Es wurde eine Substanzsteuer eindeutig abgelehnt, ebenso wie Steuererhöhungen im Allgemeinen, auch des Spitzensteuersatzes. Es bleibt also weiterhin spannend, wie genau all die Pläne der neuen Koalition finanziert werden sollen, auch deshalb gibt es wahrscheinlich so wenig konkrete finanzielle Zahlen in dem Vertrag.

Ein Skandal ist aber, dass alle drei Parteien ihren Wählern versprochen haben, die Steuern für niedrige und mittlere Einkommen zu senken. Diese Versprechen entpuppen sich also auch als schiere Wahlkampfrhetorik und der Wählerwille wird ignoriert. 

Gleichstellung

Was die Gleichstellung angeht, nimmt sich die Koalition jedoch einiges mehr vor. Das diskriminierende Transsexuellengesetz soll abgeschafft und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Bisher bedarf es entwürdigender Gespräche zwecks Gutachten, um allein Namensänderungen vor Gericht bewilligt zu bekommen. Damit wird den Betroffenen nicht nur ihre Mündigkeit genommen, sondern zugleich auch zutiefst in die Intimsphäre der Personen eigegriffen. Gutachten gehören abgeschafft und sollten ausführlichen Aufklärungsgesprächen weichen. Inwiefern das Selbstbestimmungsgesetzt diesen Forderungen nachkommt, oder ob es sich schlichtweg wieder nur um das Gleiche unter anderem Namen handeln wird, steht in den Sternen.

Der Begriff „Rasse“ soll endlich aus dem Grundgesetz gestrichen werden und der dritte Grundgesetzartikel soll um das Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Identität ergänzt werden. Im Moment lautet der Artikel wie folgt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Was jedoch am Ende verwirklicht wird oder ob einige Teile des Koalitionspapiers nur zur Beschwichtigung der Gegner dienen, wird sich zeigen.

Selbstbestimmung

Zu guter Letzt scheint die Ampel das umstrittene Werbeverbot für Abtreibung, den Paragraph 219a, abschaffen zu wollen. Dies ist ein hoffnungsvoller Ausblick in die Zukunft und würde es Frauen ermöglichen, endlich von ihrem Selbstbestimmungsrecht, aufgeklärt und sicher über eine Abtreibung informiert zu werden, Gebrauch zu machen. Aber auch hier legt die Ampel eine unglaubliche Halbherzigkeit an den Tag, denn mit dem Paragraph 219a sollten auch die dazugehörigen Paragraphen schwinden, um eine vollständige Selbstbestimmung zu ermöglichen. 

Fazit

Grundsätzlich wird sehr deutlich, dass die Ära der CDU vorübergeht. Die künftige Regierung wirkt zumindest weniger konservativ und verkauft sich als modern und zukunftsweisend.

Das, was zum einen Hoffnung macht, darf zum anderen jedoch nicht durch die rosarote Brille betrachtet werden. Schon jetzt kippt die Koalition Versprechen und dies wird sie auch in Zukunft tun. 

Man sollte keineswegs aus den Augen verlieren, dass gerade die SPD jüngst noch Teil der Regierung war und somit maßgeblich für den Stand Deutschlands verantwortlich ist. Zudem ist ein Koalitionsvertrag nicht bindend und die vergangenen Jahre haben uns immer wieder vor Augen geführt, wie sehr die tatsächliche Politik von Versprechen abweicht. Besonders deutlich wird das wohl hinsichtlich der Digitalisierung und des Klimaschutzes.

Fragwürdig ist nach wie vor auch immer noch die Finanzierung. Ein Riesenproblem, für welches es scheinbar bisher noch keine Lösung gibt. Maßgeblich dafür verantwortlich ist wohl die FDP, welche als klarer Sieger aus den Koalitionsverhandlungen hervorgeht. Die SPD und die Grünen wirken machtlos, obwohl doch sie die prozentual stärksten Parteien sind und somit alle Möglichkeiten der Gestaltung hätten, um wahre Veränderung voranzutreiben.

Insgesamt ist das Koalitionspapier also eine politische Bankrotterklärung, die von den Verantwortlichen mit allen Mitteln ins positive Licht gerückt wird. Denn abgesehen von der Symbolpolitik und den halbherzigen Reformen, welche ihren Namen nicht verdient haben, bietet der Koalitionsvertrag keine akzeptablen Lösungen für die tiefgreifenden Probleme unserer Gesellschaft.

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