Der folgende Text ist der erste Teil der dreiteiligen Artikelserie „Die gefährlichste Partei Deutschlands“ über die AfD, verfasst von Freiheitsliebe-Redakteurin Ulrike Eifler.
Das Umfragehoch der AfD hat eine neue Qualität erreicht. Laut einer Prognos-Umfrage vom 12. September kommt die Partei in Sachsen aktuell auf 39 Prozent und hätte damit die absolute Mehrheit im sächsischen Landtag. Dies nicht zuletzt, weil SPD, Grüne und die FDP unter fünf Prozent blieben und gar nicht mehr im Landtag vertreten wären. Natürlich: Die Umfrage ist nur eine Momentaufnahme. Am Ende entscheiden Wahlen. Doch die jüngsten kommunalpolitischen Erfolge in Sonneberg und Raghuhn-Jeßnitz deuten an: Der AfD gelingt es zunehmend, ihren Aufschwung über eine strukturelle Verankerung in der Fläche abzusichern. Bis Jahresende könnten in 40 weiteren Kommunen Bürgermeister und Landräte hinzukommen.[1] Wenn also 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen die Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurnen gerufen werden, ist zu befürchten, dass die dortigen Ministerpräsidenten von einer Partei herausfordert werden, die den offenen Schulterschluss mit der gewaltbereiten Neonazi-Szene vollzogen hat. Nach den Meldungen über Rechtsterrorismus und nationalrevolutionäre Aufbruchsphantasien ist diese Entwicklung Anlass zu ernster Sorge.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich
Historische Parallelen drängen sich auf. Sie verstärken die Beunruhigung zusätzlich. Zwar versichert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beharrlich, Berlin sei nicht Weimar und die Gefahren von gestern seien nicht die Gefahren von heute.[2] An der Oberfläche sind Entsprechungen zu damals allerdings erkennbar. Dazu zählt zum einen ein allgemeines gesellschaftliches Krisenempfinden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) zählt darüber hinaus tiefe ökonomische Unsicherheiten und eine erodierende Weltordnung auf. Zudem komme es zu „Umformungen des Parteiensystems“.[3] Das heißt: Eine Partei der extremen Rechten ist inzwischen fester Bestandteil des politischen Systems. Und nicht zuletzt wirft auch die Tatsache, dass der ehemalige SPD-Vorsitzende Otto Wels im September 1930 sagte, Deutschland sei nicht Italien und was den Faschisten in Italien gelungen sei, werde ihnen in Deutschland nie gelingen,[4] eine weitere Parallele auf: Die Unterschätzung politischer Entwicklungen, die kein Oberflächenphänomen mehr sind, sondern, wie Joachim Bischoff und Bernhard Müller völlig richtig analysieren, auf „tektonische Verwerfungen in der Statik der Gesellschaften“ hindeuten,[5] weil das Krisenempfinden der Menschen und die wachsende Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik auf tiefsitzende Kontrollverlustängste hindeuten und in der weiteren Entwicklung auf ein politisches Erdbeben hinauslaufen könnten.
Auf die Frage, ob sich Geschichte wiederholt, soll der Schriftsteller Mark Twain mit „Nein“ geantwortet, dann allerdings darauf hingewiesen haben, dass sich die Geschichte jedoch reime. In einer Zeit, in der also Reimschema und Versmaß durch eine wachsende Kluft zwischen politischen Eliten und Teilen der Bevölkerung geprägt werden, in der die bürgerliche Mitte einerseits den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts verschiebt und andererseits den Wahlerfolgen der AfD abstrakte Haltungsfragen entgegenstellt, in einer solchen Zeit sollte die politische Linke den Aufstieg der Rechten aus den aktuellen politischen Widersprüchen ebenso wie auf der Schablone historischer Parallelen analysieren, um die richtigen politischen Schlüsse daraus ziehen und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit entwickeln zu können.
Wer wählt die AfD?
Umfragen zeigen, die AfD gewinnt aus allen Klassen und Schichten der Gesellschaft. Bei der letzten Landtagswahl in Thüringen 2019 zeigte sich, die AfD mobilisierte überdurchschnittlich bei den 18–29-Jährigen, den 30–44-Jährigen und den 45–59-Jährigen. Fast jeder dritte Arbeiter wählte die AfD und mehr als ein Viertel der Selbständigen.[6] Auch wenn festgehalten werden kann, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse nicht rechts wählt, strahlt die Partei immer stärker auch in die Klasse der Lohnabhängigen hinein. Bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 gelang es der AfD ebenfalls, in den drei genannten Altersgruppen nahezu jeden dritten Wähler für sich zu mobilisieren. Auch hier konzentriert sich der Großteil der Wählerschaft auf Arbeiter und Selbständige. Mehr als jeder dritte Arbeiter gab der Partei seine Stimme – mehr als bei jeder anderen Partei.
Der Grund dürfte nicht zuletzt in der Themensetzung liegen. Die Menschen beschäftigte vor allem die Zukunft des Braunkohletagebaus. Die fossile Energiegewinnung prägte über Jahrzehnte die Identität der Lausitz. Während DIE LINKE und die Grünen sich im Wahlkampf für einen früheren Ausstieg aus der Braunkohlegewinnung stark gemacht hatten und wohl auch deshalb nur wenige Stimmen unter Arbeitern mobilisieren konnten, versprach der AfD-Spitzenkandidat den Fortbestand des Braunkohletagebaus und sprach sich gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien aus.[7] Während die AfD die Menschen schamlos belügt, zeigen sich die Grünen immer wieder auffallend unempathisch gegenüber den Beschäftigten in den ökologisch prekären Bereichen. Für einen Eklat beispielsweise sorgte 2018 der Tweet der NRW-Grünen-Fraktionschefin Monika Düker: „Ob Nazis oder Kohle – Braun ist immer Scheiße“.[8]
Wachsende Perspektivlosigkeit
Ein Blick auf die politische Landkarte rechter Wahlerfolgte zeigt: Die Wahlentscheidung für die AfD ist das Ergebnis einer neoliberal zugerichteten Gesellschaft. Die eigene sozioökonomische Lage, schwindende Aufstiegshoffnungen und das Gefühl der Abwertung prägen ein pessimistisches Grundgefühl. Sie verfestigen sich zu einer allgemeinen Krisenempfinden und werden zu Gründen, das Kreuz bei der AfD zu machen.[9] Das heißt: Die AfD lebt von sozialer Ungleichheit und wachsender Perspektivlosigkeit. So schätzt die Wählerschaft der AfD ihre eigene soziale Situation schlechter ein, als es beispielsweise die Anhänger anderer Parteien tun: 46 Prozent bewerten die eigene wirtschaftliche Lage als „weniger gut“ oder „schlecht“. Bei den Anhängern der Union sind es 29 Prozent, bei denen der Grünen 14 Prozent“.[10] Zu dieser subjektiven Einschätzung passt, dass der AfD eher eine Verankerung in Städten gelingt, in denen sich die Bewohner mit Abstiegssorgen tragen. So leben deutschlandweit die meisten Mindestlohnempfänger ausgerechnet in der Stadt, in der die AfD ihr erstes Landratsmandat errang: im thüringischen Sonneberg. Dagegen tut sie sich schwerer in Regionen mit wirtschaftlich guter Dynamik oder in Städten mit einem hohen Anteil an junger und akademischer Bevölkerung. Wer zufrieden mit seinem persönlichen Einkommen ist, wählt seltener die AfD. Immer entscheidender aber wird die Unzufriedenheit mit der Demokratie. „Wer (…) zufriedener mit der Demokratie ist, hat eine 70 Prozent verringerte Chance auf AfD-Sympathie“, analysiert der Soziologe Martin Schröder.[11]
Schaut man sich den zeitlichen Verlauf an, wird deutlich: Der jüngste Aufschwung der AfD begann bereits 2022. Noch im Juli hatte sie bei elf Prozent gelegen. Nur zwei Monate später zeigten die Umfragen eine wachsende Zustimmung und Umfragewerte von 15 Prozent. Die Angst vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges, vor Rezession, Deindustrialisierung, Versorgungsunsicherheit und unbezahlbaren Heizkosten prägten die politische Situation im Spätsommer 2022 und trieben der AfD die Wähler in die Arme. Heute steht die AfD bei über 20 Prozent. In Sachsen ist sie mit 35 Prozent stärkste Kraft. Im Unterschied zu allen anderen Parteien scheint es ihr zu gelingen, von diesen Ängsten zu profitieren.
Unzufriedenheit mit der Ampel
Unterm Strich aber ist das Umfragehoch der AfD Spiegelbild der schwächelnden Ampel-Koalition. Laut infratest-dimap ist die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung so hoch wie seit fünf Jahren nicht mehr. Zweidrittel der AfD-Wähler geben an, ihre Stimme der AfD zu geben, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind. Nur etwa ein Drittel gesteht, von der AfD überzeugt zu sein.[12] Das allgemeine Krisenempfinden der Menschen wird also dadurch verstärkt, dass die Bundesregierung die Verunsicherung der Menschen nicht abbaut, sondern verstärkt. So wird das Heizungsgesetz von Robert Habeck als große finanzielle Bedrohung wahrgenommen. Nur vier von zehn Wahlberechtigten bewerten die geplanten Regelungen zum Einbau neuer Heizungen ab 2024 als angemessen. Für 43 Prozent dagegen gehen sie zu weit. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Senkung der CO2-Emissionen trifft auf eine Zeit, in der die Menschen Krisenerfahrungen mit zum Teil erheblichen Einkommensverlusten hinter sich haben. Sie erleben zudem eine dysfunktionale Gesellschaft. Wenn keine Verbrenner mehr zugelassen werden und die Elektro-Alternative mit erheblichen Kosten verbunden ist, wiegt der unzuverlässige ÖPNV doppelt schwer.
Die hohen Zustimmungswerte für die AfD dokumentieren zudem eine wachsende Skepsis gegenüber der Ampel. Mit 76 Prozent zeigten sich im Herbst letzten Jahres mehr als Dreiviertel der Bevölkerung mit den diskutierten Entlastungsmaßnahmen unzufrieden. Entlastungen, die erst im Frühjahr 2023 greifen sollten, und halbherzige Strompreisdeckel waren für die Mehrheit der Bevölkerung offenbar wenig überzeugend. Das Unverständnis über die Maßnahmen zur Energieversorgung, die sich auf Stromspartipps konzentrierten, bewegte sich auf einem ähnlich hohen Niveau. Im Kontext dieser Entwicklung wuchs das allgemeine Krisenempfinden. Angesichts einer in vielen Familien und Haushalten spürbaren Krisendynamik zeigten sich 85 Prozent regelrecht beunruhigt und nur elf Prozent schauten einigermaßen zuversichtlich in die Zukunft.[13]
Die Entwicklung zeigt: Die Bindungsfähigkeit der AfD korreliert mit dem Gefühl politischer Enttäuschung. Ein wachsendes gesellschaftliches Krisenempfinden und ein nachlassendes Vertrauen in die Regierungsparteien, die Krise im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung zu lösen, löst die AfD aus der Schmuddelecke rechtsextremer Randständigkeit heraus und lässt sie zunehmend wählbar erscheinen. „Durch steigende Migrationszahlen, hohe Energiepreise und Angst vor Deindustrialisierung könnten (…) Bevölkerungsschichten erreicht werden, die bisher für die AfD unerreichbar waren“, warnt die Neue Züricher Zeitung.[14]
Schwäche der Opposition
Die Unzufriedenheit mit der Ampel verfestigt sich zusätzlich durch die Schwäche der CDU. Während in der Vergangenheit stets die größte Oppositionspartei von einer hohen Unzufriedenheit mit der Regierung profitierte, lässt sich dieser Automatismus aktuell nicht beobachten. Die Umfragen zeigen, das Misstrauen gegenüber Friedrich Merz ist groß, auch innerhalb seiner eigenen Partei. Aktuell meint nicht einmal jeder Fünfte, dass eine Regierung unter Führung der Union bessere Regierungsarbeit leisten würde.[15] Allenfalls ein kleiner Teil traut der Union noch zu, die anstehenden Aufgaben und Probleme besser zu lösen als die Ampel. Verwunderlich ist das nicht: Die CDU bietet keine Lösungen für die Mehrheit an. Der Staat könne nicht jedem helfen, zitierte der Spiegel im Spätsommer 2022 Unions-Chef Merz.[16] Hinzu kommt mit Blick in andere europäische Länder, dass eine Öffnung der Konservativen nach rechts auch in Deutschland die CDU schwächt, weil Wählerinnen und Wähler dann eher zu liberaleren Parteien wechseln.[17]
Gleichzeitig erleben wir, dass restlos alle Parteien der Mitte den politischen Diskurs nach rechts verschieben. Bundesverteidigungsminister und Sozialdemokrat Boris Pistorius beispielsweise brachte die Aufrüstungsvorhaben der Bundeswehr gegen einen guten Abschluss für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in Stellung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser, ebenfalls aus der Sozialdemokratie, verteidigt den Asylkompromiss der EU-Staaten, der auf eine Verschärfung des Asylsystems abzielt, als „historisch“.[18] Während Faeser Abschiebungen bei langjährig Geduldeten ohne vorherige Ankündigung möglich machen will und ihr Ministerium bekannt geben lässt, der Staat müsse „Zähne zeigen“, möchte die CDU das individuelle Asylrecht gleich ganz abschaffen. Gleichzeitig redet sich Oppositionsführer Friedrich Merz im Sommerinterview derart um Kopf und Kragen, als er sich für eine Zusammenarbeit mit der AfD in Kommunalparlamenten ausspricht, dass selbst Parteimitglieder von ihm abrücken. Die Grünen haben bei der Befürwortung von Kriegen jegliche Zurückhaltung aufgegeben und sind zu verbalen Übergriffen auf die Friedensbewegung übergegangen. Und Christian Lindner wirft denjenigen, die auf einen subventionierten ÖPNV drängen, „Gratismentalität“ vor und leitet mit seinem 30-Milliarden-Euro-Sparpaket den größten Austeritätsschock seit der Wende ein. Dass es nicht DIE LINKE, sondern die AfD ist, die in diesem Klima an Zulauf gewinnt, ist daher nicht verwunderlich.
Schwäche der politischen Linken
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Stärke der AfD auch mit der Schwäche der politischen Linken zu tun hat. Weder in der Frage steigender Energie- und Nahrungsmittelpreise noch in der Frage wachsender Kriegsgefahr ist es bislang gelungen, nennenswerte Gegenwehr aufzubauen. Trotz Versuchen, mit der Kampagne „Genug ist Genug“ im Herbst 2022 einen Pol des Widerstandes gegen die Politik der Bundesregierung in Stellung zu bringen, konnte der Wutwinter 2022/23 nicht von links gefüllt werden. Aber er fand statt und stärkte die AfD. Das hat sicherlich damit zu tun, dass SPD und Grüne als traditionelle Pfeiler gesellschaftlicher Gegenwehr weggebrochen sind, was sich in der Konsequenz auch die Gewerkschaften schwächt. Allerdings muss angemerkt werden, dass der Versuch der Bundesregierung, die Gewerkschaften mit der steuerfreien Inflationsprämie in eine Politik des Burgfriedens zu zwingen, gescheitert sind. Während die Bundesregierung plante, Tarifverhandlungen mit der Prämie zu unterbinden, war der Erwartungsdruck unter den abhängig Beschäftigten so groß, dass die Tarifverhandlungen sowohl durch die Forderung tabellenwirksamer Lohnerhöhungen als auch durch die Inflationsprämie geprägt waren.
Über die Tarifauseinandersetzungen hinaus gelang es jedoch nicht, eine nennenswerte außerparlamentarische Bewegung aufzubauen. Ein Grund ist nicht zuletzt die Krise der Partei DIE LINKE, die bedingt durch innere Machtkämpfe und fehlende strategische Klärungsprozesse mehr mit sich selbst beschäftigt ist. Sie kann deshalb aktuell nicht zum Kristallisationspunkt außerparlamentarischer Gegenwehr werden. Hinzu kommt: Auch DIE LINKE hat in den letzten Jahren erheblich an Zustimmung unter Arbeitern und Arbeitslosen verloren. Jeder fünfte Arbeiter wählt inzwischen bundesweit die AfD und damit vier Mal so häufig wie DIE LINKE. Unter Angestellten ist es ähnlich, wenn auch nicht ganz so gravierend: Elf Prozent wählen die AfD und nur fünf Prozent DIE LINKE. Aus den Reihen der Arbeitslosen gehen 17 Prozent der Stimmen an die AfD und nur elf Prozent an DIE LINKE.[19] Es gibt also ein Misstrauen in der Lohnabhängigenklasse, die ihre Stimme eher der FDP oder der AfD anvertraut, als DIE LINKE zu wählen.
Es ist viel darüber diskutiert worden, ob die Stimmenverluste darauf zurückzuführen sind, dass DIE LINKE die soziale Frage vernachlässigen würde. Dass die Partei die soziale Frage nicht mehr oder nicht ausreichend genug thematisiert, ist falsch und DIE LINKE sollte sich hier auch nicht selbst schwach reden. Dennoch sollte sorgfältig analysiert werden, warum in den letzten zehn Jahren unter Arbeitern, Angestellten und Arbeitslosen die Bereitschaft abgenommen hat, DIE LINKE zu wählen. Denn wenn linke Antworten auf die Fragen der Zeit die Menschen immer weniger erreichen, dann schafft das ein Vakuum, das von rechts gefüllt werden kann. „In Situationen gesellschaftlicher Weichenstellungen“, schreibt IG-METALL-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, „herrscht zunächst allgemein Verunsicherung (…). Das ist auf der einen Seite nicht immer negativ, weil es die Bereitschaft hervorbringt, alte Denkmuster, die sowieso nicht mehr funktionieren, gegebenenfalls infrage zu stellen. Aber wenn Denkmuster und Denkstrukturen in Bewegung geraten, beginnt der Kampf, in welche Richtung sie sich strukturieren.“[20] Diesem Kampf muss sich die politische Linke stellen.
Tiefsitzendes gesellschaftliches Unbehagen
Die Erfolge der AfD deuten auf ein tiefsitzendes gesellschaftliches Unbehagen hin, das nicht den Anschein hat, mit einem Fingerschnips wieder zu verschwinden. Bereits 2010 dokumentierte Wilhelm Heitmeyer mit seiner Langzeitstudie einen besorgniserregenden Anstieg der Verunsicherung und Unzufriedenheit. Lange vor Pandemie, Energiekrise, Krieg und Inflation hatten über 90 Prozent der von Heitmeyer Befragten die Befürchtung geäußert, dass die Zukunft mehr soziale Abstiege und Armut bringen würde.[21] Dieses im Kern pessimistische Grundgefühl hat sich seitdem zu einer handfesten Skepsis gegenüber der repräsentativen Demokratie ausgewachsen, wie eine kürzlich erschienene Untersuchung der Universität Bonn und der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Darin deuten die stabilen Wahlerfolge der AfD auf eine tiefe Krise des politischen Systems hin. So sehen inzwischen 75 Prozent der Befragten die repräsentative Demokratie kritisch. Sie favorisieren stattdessen Elemente direkter Demokratie oder eine technokratische Expertenherrschaft.[22] Der Soziologe Andreas Reckwitz zieht daraus den Schluss, dass „westliche liberale Demokratien (…) möglicherweise nicht so hyperstabil sind, wie wir immer dachten“. Das sehe man vor allem an den USA. So sei nicht auszuschließen, dass viele kleine Verunsicherungen an einem bestimmten Punkt zur Implosion des Systems führen könnten.[23]
Dieses wachsende Unbehagen ist Ausdruck der multiplen gesellschaftlichen Krisensituation, die seit der Finanzkrise die Menschen auf einen permanenten Ausnahmezustand einstimmt. Sie setzt sich aus unterschiedlichen Krisen zusammen, die sich ineinander verschieben und dadurch in ihrer Auswirkung größer werden. Die Zunahme der sozialen Ungleichheit, epochale Umbrüche in der Arbeitswelt, eine zu gesellschaftlicher Dysfunktionalität führende Krise der öffentlichen Infrastruktur, der drohende Klimakollaps, die Mobilisierung für einen neuen zweiten Kalten Krieg und nicht zuletzt die Krise der Demokratie – diese Krisen kommen unterschiedlich bei den Menschen an, aber in ihrer Gesamtheit schaffen sie ein neues Unsicherheitsgefühl. Dieses wird aktuell nicht ausreichend nach links aufgelöst. Zwar wächst die klassenpolitische Antwort auf die Krise durch eine offensivere Tarifpolitik der Gewerkschaften, die auf politische Verallgemeinerung drängende Krankenhausbewegung oder die auf Enteignung drängenden Mietenproteste. Doch insbesondere DIE LINKE schafft es nicht, zum parlamentarischen Ausdruck eines wachsenden Antikapitalismus zu werden. Vor diesem Hintergrund zeigen die Umfragen, dass die gesellschaftlicher Krisenerfahrungen aktuell vor allem nach rechts aufgelöst werden. Die Antwort der AfD auf die wachsende Ungleichheit ist der Verweis auf die Migrationspolitik der Bundesregierung. Dadurch erweckt sie den Eindruck, die soziale Frage sei keine zwischen oben und unten, sondern zwischen innen und außen.[24] Mit Erfolg: Mittlerweile spielt das Thema Zuwanderung für AfD-Wähler die größte Rolle.
AfD – mehr als ein alternatives politisches Angebot
Die Erfolge der AfD sind nicht zuletzt auch das Ergebnis einer Normalisierung der AfD im politischen Parteienspektrum. Obwohl sich die Partei programmatisch und personell weiter nach rechts entwickelt hat als je zuvor, wird sie zunehmend als „normale demokratische Partei“ wahrgenommen. Während der Anteil derjenigen, die das glaubten, 2016 noch bei 17 Prozent lag, liegt er einer aktuellen Allensbach-Erhebung zufolge mittlerweile bei 27 Prozent.[25] Doch es ist wichtig herauszuarbeiten, warum die AfD keine Partei ist, die im politischen Wettbewerb einfach nur ein alternatives Politikangebot macht. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Im Unterschied zu allen anderen Parteien im parlamentarischen Raum hat sie es nicht nur auf die Interessen der abhängig Beschäftigten abgesehen, sondern auch auf das Organisationsprinzip der Gewerkschaften. Darin ähnelt sie im Übrigen der faschistischen NSDAP in der Zeit der Weimarer Republik.
Bereits mehrfach ist sie vor Gewerkschaftshäusern aufmarschiert, hat Gewerkschaften wiederholt als „Arbeiterverräter“ beschimpft und – wie in Hanau 2018 – aktive Kollegen angegriffen und schwer verletzt. Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die ohne Übertreibung als Errungenschaft der Arbeiterbewegung bezeichnet werden kann, weil sie Kolleginnen und Kollegen dazu befähigt, sich mit den Widersprüchen ihrer Zeit auseinanderzusetzen, verunglimpft sie als „Instrument zur politischen Umerziehung, wie wir sie nur aus Nordkorea und der alten DDR kennen“. Während die stellvertretende AfD-Parteivorsitzende Beatrix von Storch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di als „offizielle Verbrecherorganisation. Eine Gefahr für die Demokratie. Verfassungsfeinde“ diffamierte.[26]
Gegen die Interessen der Beschäftigten
Ein Blick ins Parteiprogramm bestätigt den arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindlichen Eindruck. Die AfD ist keine Alternative für abhängig Beschäftigte, sondern steht deren Interessen vielmehr diametral entgegensteht. So sprach sie sich im Bundestag wiederholt gegen eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro aus. Und im Landtag von Baden-Württemberg beantragte sie die Abschaffung des Landestariftreue- und Mindestlohngesetzes für öffentliche Anträge. Die Begründung offenbart, welchen Interessen sich die AfD verpflichtet fühlt: Mehr staatliche Regierung würde Unternehmen in existentielle Schwierigkeiten bringen. Auch den Kündigungsschutz oder Mitbestimmungsregeln betrachtet die AfD als Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen und stimmte daher 2021 im Bundestag gegen das Betriebsrätemodernisierungsgesetz, das die Gründung von Betriebsräten erleichtern und mehr Mitbestimmung verankern soll. Immer wieder hetzt sie auch gegen Streiks.[27] Zwar versucht sie sich als „Partei der kleinen Leute“ zu inszenieren. Doch im Kern steht sie mit ihren Positionen für eine Stärkung von Unternehmerinteressen.
Ähnlich wie die AfD agierte bereits die NSDAP in den frühen 1930er Jahren. Am 1. Mai 1933 noch hatte sie zum „Tag der nationalen Arbeit“ aufgerufen. Am 2. Mai haben SA-Truppen überall in Deutschland die Gewerkschaftshäuser gestürmt und zehntausende aktive Gewerkschafter verschleppt und ermordet. In der Folge wurden Streiks untersagt, Arbeitszeiten auf bis zu 70 Stunden in der Woche erhöht und Lohnerhöhungen einseitig verkündet. Ihrer Gewerkschaften beraubt, wurden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch den Aufstieg des Faschismus in einen Zustand künstlicher Passivität gedrückt. Gerade diese historische Erfahrung sollte uns nicht vergessen lassen, dass eine Partei, die so offenkundig die Interessen der Neoliberalen vertritt und es zugleich versteht, sich an gesellschaftlicher Unsicherheit und Verzweiflung zu nähren, ein schleichendes Gift ist, das in die Gesellschaft einsickert. In einer Zeit, in der den abhängigen Beschäftigten durch die Sparangriffe der Bundesregierung die heftigsten Angriffe drohen, positioniert sich die AfD als größte Gefahr für die gewerkschaftlichen Abwehrkämpfe.
[1] Maksan, Oliver/ Haas, Simon: „Hier könnte bald die AfD regieren“, NZZ, 17.07.2023.
[2] Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkstunde zum 9. November 2018 im Deutschen Bundestag in Berlin, https://www.bundestag.de/resource/blob/577898/1fabb911443e38b78dc622d2b7d1aee6/Rede_BPraes_09November2018-data.pdf
[3] Wirsching, Andreas: „Warum Berlin weit davon entfernt ist, Weimar zu sein“, FAZ, 21.09.2017, https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/die-weimarer-republik-und-die-heutige-demokratie-15203108.html
[4] Vgl.: Carlebach, Emil: Hitler war kein Betriebsunfall. Hinter den Kulissen der Weimarer Republik: Die programmierte Diktatur, Pahl-Rugenstein, 1961, 51.
[5] Bischoff, Joachim/ Müller, Bernhard: „AfD: Vom Rechtspopulismus zur völkischen Partei“, Sozialismus, 10/ 2018, 29.
[6] Anzlinger, Jana/ Hörz, Michael: „Vor allem Senioren sichern Ramelows Erfolg“, Süddeutsche Zeitung, 27.10.2019.
[7] Anzlinger, Jana: „Die Senioren haben die CDU gerettet“, Süddeutsche Zeitung, 01.09.2019.
[8] „Protest: Bergarbeiter sind keine Nazis“, nd, 13.10.2018, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1103248.protest-bergarbeiter-sind-keine-nazis.html
[9] Dörre, Klaus: „Arbeiter ist heute ein abgewerteter Status“, Magazin der Arbeitnehmerkammer Bremen, 20.12.2021, https://www.arbeitnehmerkammer.de/service/bam/ausgaben/ausgabe-januarfebruar/dem-arbeiter-haftet-heute-ein-abgewerteter-status-an.html
[10] Friedrich, Sebastian: „AfD-Umfragehoch: Nicht einer, sondern acht Gründe“, ARD, 08.06.2023, https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/AfD-Umfragehoch-Nicht-einer-sondern-acht-Gruende,afdanalyse102.html
[11] Schröder, Martin: AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich, SOEPpapers 975/ 2018, 7. https://www.econstor.eu/bitstream/10419/181028/1/1028096291.pdf
[12] Friedrich, Sebastian: „AfD-Umfragehoch: Nicht einer, sondern acht Gründe“, ARD, 08.06.2023, https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/AfD-Umfragehoch-Nicht-einer-sondern-acht-Gruende,afdanalyse102.html
[13] Ehni, Ellen: „Zufriedenheit mit Ampel auf neuem Tiefpunkt“, ARD Deutschlandtrend, 6.10.2022, https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3171.html
[14] Maksan, Oliver/ Haas, Simon: „Hier könnte bald die AfD regieren“, NZZ, 17.07.2023.
[15] Ehni, Ellen: „Zufriedenheit mit Ampel auf neuem Tiefpunkt“, ARD Deutschlandtrend, 6.10.2022, https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3171.html
[16] „1000 Euro für die Einkommen im unteren Drittel sinnvoller als 300 Euro für alle“, DER SPIEGEL, 27.08.2022, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/cdu-chef-friedrich-merz-will-geringverdiener-entlasten-a-91c7af8d-9cc9-4137-842c-72453366b94a?sara_ref=re-so-app-sh
[17] Brentler, Alexander: „Testballon für Schwarz-Blau“, Jacobin, 25.07.2023, https://jacobin.de/artikel/testballon-fuer-schwarz-blau-friedrich-merz-cdu-kooperation-afd-brandmauer-strategie-alexander-brentler
[18] EU-Asylreform: „Verbesserung des Ist-Zustands“, Bundesinnenministerin Nancy Fieser im Interview, 08.06.2023, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/asylrecht-eu-einigung-faeser-100.html
[19] Wahlverhalten bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 nach Tätigkeiten, Statista Research Department, 05.05.2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1257096/umfrage/wahlverhalten-bei-der-bundestagswahl-nach-taetigkeiten/
[20] Urban, Hans-Jürgen: Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in einen nachhaltige Gesellschaft, Campus, 2023, 17.
[21] Vgl.: Arndt, Thorsten: „Entsolidarisierung – Die neue Heitmeyer-Studie über deutsche Zustände“, Heinrich-Böll-Stiftung 2010, https://www.boell.de/de/demokratie/demokratie-entsolidarisierung-heitmeyer-deutsche-zustaende-8883.html
[22] Best, Volker/ Decker, Frank/ Fischer, Sandra/ Küppers, Anne: Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft?, Friedrich-Ebert-Stiftung 2023, https://library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-20230505.pdf
[23] Reckwitz, Andreas: „Populismus ist Verlustunternehmen“, Handelsblatt, 05.08.2023, https://hbapp.handelsblatt.com/cmsid/29295330.html
[24] Friedrich, Sebastian: „AfD-Umfragehoch: Nicht einer, sondern acht Gründe“, ARD, 08.06.2023, https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/AfD-Umfragehoch-Nicht-einer-sondern-acht-Gruende,afdanalyse102.html
[25] Friedrich, Sebastian: „AfD-Umfragehoch: Nicht einer, sondern acht Gründe“, ARD, 08.06.2023, https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/AfD-Umfragehoch-Nicht-einer-sondern-acht-Gruende,afdanalyse102.html
[26] DGB Bayern: #noAfD. Keine Alternative für Beschäftigte. AfD-Positionen unter der Lupe, München 2023, https://bayern.dgb.de/service/broschueren/noafd-keine-alternative-fuer-beschaeftigte_1/++co++199d02fa-26ef-11ee-bcb2-001a4a160123
[27] DGB Bayern: #noAfD. Keine Alternative für Beschäftigte. AfD-Positionen unter der Lupe, München 2023, https://bayern.dgb.de/service/broschueren/noafd-keine-alternative-fuer-beschaeftigte_1/++co++199d02fa-26ef-11ee-bcb2-001a4a160123