51 Jahre nach dem Aufstand gegen die griechische Militärdiktatur, scheint die Vormachtstellung der Nea Dimokratia in Griechenland weiterhin unantastbar. Dies liegt vor Allem an dem Aufstieg rechter Parteien, die den Kurs von Mitsotakis im Parlament unterstützen, an einer sich mehr und mehr selbst schwächenden Linken, die geprägt ist von Abspaltungen und fehlenden Visionen statt einen Wandel herbeiführen zu können. Was bleibt ist eine reaktionäre politische Agenda von Mitsotakis, die neoliberaler kaum sein kann. Sozialabbau, Waffenlieferungen, autoritäre Strukturen.
Der diesjährige Gedenktag an dem Aufstand an der Polytechnio, der technischen Uni in Athen, zeigte mit seinen zehntausenden Teilnehmenden vor allem die Einigkeit in zwei Punkten: der Ablehnung des Krieges in Gaza und dem Kampf gegen die unsoziale Politik der griechischen Regierung.
Das „Gestern“ mit dem „Heute“ zu verbinden und die gleichen zeitlosen Ansprüche mit aktuellen Inhalten zu füllen, ist das, was diesen Gedenktag ausmacht und in eine revolutionäre Richtung bringt. Gewerkschaften, Schüler und Studenten, Verbände, verschiedene Organisationen und progressive Kräfte werden auch dieses Jahr trotz Repressionen der Regierung durch Großdemonstrationen im ganzen Land an den 17. Novembern erinnern.
Der Aufstand des „Polytechnion“ – Die Geschichte des 17 Novembers
Dieser richtete sich gegen die damals amtierende Militärjunta, die seit dem Putsch 1967 an der Macht war. Er begann am 14. November 1973 durch die Besetzung der Technischen Universität Athens und wurde am 17. November von den Militärs niedergeschlagen. Unter der Parole „Brot, Bildung, Freiheit“ forderten die Studierenden den Sturz der Junta und die Wiedereinführung der Demokratie. Panzer und Soldaten drangen in die besetzte Universität ein und schossen in die Menge. Dabei wurden 23 Menschen ermordet. Die Proteste gelten als Anfang vom Ende der Militärdiktatur. Am gleiche Tag fanden die ersten freien Wahlen nach 1967 statt.
Jedes Jahr gedenken Arbeiter, Gewerkschaften, Studierende und Schülerinnen und Schüler am 17. November auf Kundgebungen in ganz Griechenland der Opfer der griechischen Militärdiktatur.
Universitätsasyl als Folge
Infolge der Niederschlagung der Proteste am Polytechnio und zur Würdigung der Kämpfe der griechischen Studierenden, wurde mit der Wiederauferstehung der griechischen Demokratie, das sogenannte „Universitätsasylgesetz“ beschlossen, welches eine Reaktion auf die blutige Diktatur der Junta war. Demnach war es Polizisten verboten, Universitätsgelände zu betreten und garantierte den Studierenden Schutz vor Verhaftung und staatlicher Repression. Die akademische Freiheit und kritische politische Auseinandersetzung sollten dabei geschützt werden. Seither darf die Polizei Universitäten nur mit Genehmigung der Universitätsleitung betreten. Die symbolische Bedeutung des Universitätsasyls entsprang aus der historischen Vergangenheit Griechenlands und wird als Wahrzeichen der Demokratie angesehen.
Der 17. November in der griechischen Gesellschaft
In Griechenland werden offiziell zwei große Nationalfeiertage gefeiert. Beide erinnern an besonders wichtige Ereignisse der griechischen Vergangenheit. Neben den beiden großen bürgerlichen Nationalfeiertagen, dem 25. März, dem Unabhängigkeitstag und dem 28. Oktober, Ablehnung des Unterwerfungsultimatums von Mussolini, der 17. November 1973 zwar nicht als offizieller Feiertag gelistet, hat in der griechischen Gesellschaft einen ähnlich hohen Stellenwert.
Der Unabhängigkeitstag am 25. März, erinnert an die Erhebung gegen die Fremdherrschaft des osmanischen Reiches, welches 1830 zur Staatsgründung Griechenlands führte.
Der 28. Oktober an die Ablehnung der Unterwerfung Griechenland durch das faschistische Italien während des 2. Weltkriegs. Dies mündete in einen Krieg und der Niederlage der italienischen Truppen auf griechischem Boden. Angeblich reagierte die griechische Regierung damals mit einem kurzen, aber eindeutigen „Ochi“ – „Nein“. Der Nationalfeiertag, der jedes Jahr am 28. Oktober stattfindet, heißt deshalb auch „OCHI“-Tag.
Beide Nationalfeiertage werden mit großen Mititärparaden, Gottesdiensten, zahlreichen Feierlichkeiten begleitet und von der griechischen, insbesondere der konservativen, Politelite als Bühne genutzt.
Der 17. November steht unter einem anderen Stern: Es ist der Gedenktag der progressiven Kräfte in Griechenland. Ein Aufschrei gegen jede Form von Autorität, der Freiheitsbeschränkung, des Sozialabbaus und des Militarismus. Deshalb wird er nicht mit schmuckvollen Paraden gefeiert, sondern hat eine eigene Dynamik. Der ermordeten Studierenden wird durch eine Großdemonstration und Massenmobilisierung gedacht und das Feuer der Forderung „Psomi-Paideia-Eleutheria“ (Brot-Bildung-Freiheit) von 1973 auf die heutige Zeit übertragen. Denn diese Forderungen sind allgegenwärtig und müssen Tag für Tag erkämpft werden.
Vor Allem in Schulen und Universitäten wird dieser Tag in besonderer Form gedacht. Bildungseinrichtungen sind an diesem Tag geschlossen, jedoch sehr lebendig. Schülerinnen und Schüler bereiten gemeinsam mit ihren Lehrern Kränze und Blumen vor, die Geschichte vom 17. November wird somit auch weitergetragen als ein wichtiges Ereignis und Sieg der Demokratie. Viele Schulen begleiten den Marsch auch nach Kranzniederlegung. Die Kranzniederlegung findet in den meisten griechischen Städten an Universitätsgeländen statt. Studierende sind demnach treibende Kraft der Feierlichkeiten.
Für die derzeitige griechische Regierung jedoch, ist dieser Gedenktag und die dadurch entstandenen erkämpften Rechte ein Dorn im Auge – noch heute. Mitsotakis Regierung hat bereits seit der Amtsübernahme 2019 damit begonnen, weiteren Soziallabbau zu betreiben, die Meinungs- und Pressefreiheit zu erschweren (im EU-Raum Schlusslicht) und versucht die Abschaffung des symbolträchtigen Universitätsasylgesetzes Schritt für Schritt zu vollziehen.
Abschaffung des Universitätsasylgesetzes – ein Akt gegen Demokratie
Die Abschaffung des Asylgesetzes waren bei dem Parlamentswahlen von 2019 neben den Themen „Sicherheit“ und Migration eines der wichtigsten Wahlversprechen des konservativen griechischen Premierministers Kyriakos Mitsotakis. Trotz massiver Proteste der Zivilgesellschaft, Akademikern, Studierenden und der Opposition wurde die nahezu gänzliche Abschaffung dieses Gesetzes verabschiedet. Es war eines der ersten Gesetze, die die neue Regierung umsetzte. Sie untergräbt damit die historische Bedeutung des „Polytechnio“ und spaltet die griechische Gesellschaft.
Mitsotakis begründete die Abschaffung dadurch, dass Universitäten ohne Polizeipräsenz zu No-Go Areas wurden, Gewalt und Delikte gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie extremistische Tätigkeiten das heutige Bild der freien griechischen Universitäten prägen. „Diese Feststellung sei nicht nur falsch, sondern gefährlich. Herr Mitsotakis, versuche Angst zu schüren, um die akademische Freiheit auszuhöhlen und unsere Rechte zu beschneiden. Es gab keinerlei Gespräche zwischen den Seiten, wir sind die Betroffenen“,entgegneten führende Persönlichkeiten der akademischen Hochschullandschaft.
Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit
Die Einschränkung der Pressefreiheit geht einher mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit und einem im engeren werdenden Korridor der politischen Debatte. Die Pressefreiheit in Griechenland befindet sich seit 2021 in einer systemischen Krise. Der Skandal um das Abhören von Journalisten durch den Nationalen Nachrichtendienst – auch „Predator-Gate“ genannt – muss noch aufgeklärt werden, ebenso wie der Mord an dem Kriminalreporter Giorgos Karaivaz im Jahr 2021. Willkürliche Verhaftungen von Journalisten wegen vermeintlicher Verbreitung von Fake News waren vor Allem während der Corona-Pandemie an der Tagesordnung.
Gerade bei Demonstrationen, sind Angriffe auf Journalisten in Griechenland häufig und zeigen den autoritären Charakter der Regierung Mitsotakis. Sie gehen vor Allem von Rechtsextremen, aber auch von der Polizei aus.
Sozialabbau und Privatisierung der Bildung
Während hierzulande meist über kürzere Arbeitszeiten diskutiert wird, hat Griechenland jegliche Errungenschaften der Arbeiterbewegung über Bord geworfen. Die konservative Regierung hat ein Gesetz beschlossen, dass eine 6-Tage Woche mit einer täglichen Arbeitszeit bis zu 13 Stunden vorsieht. Heftiger Widerstand der Opposition und der Gewerkschaften wurden nicht beachtet und der Gesetzesentwurf mit Stimmen von weiteren rechtskonservativen Parteien durch das Parlament gebracht. Die maximal zulässige Arbeitszeit wird dadurch von 40 auf bis zu 48 Stunden erhöht. Auch weitere Bestimmungen des Arbeitsrechts wurden flexibilisiert. Beschränkungen von Probezeiten werden ebenso gelockert wie der Kündigungsschutz, Kündigungen sind im ersten Jahr der Anstellung jederzeit möglich.
Gesellschaftliches Eigentum wird weiterhin hemmungslos privatisiert, das Land wird somit auf die Bedürfnisse von Unternehmen und ausländischen Investoren ausgerichtet. Ähnlich schlimm sieht es im Bildungssektor aus. Private Bildungseinrichtungen werden nun gefördert und die Bildungsungleichheit damit verschärft. Zuvor wurden Abschlüsse von privaten Instituten nicht anerkannt. Dies änderte sich mit der Nea-Dimokratia Regierung.
Gedenken, Protest und heutige Arbeitskämpfe
Die Proteste des Polytechnio galten damals und gelten heute als Speerspitze der progressiven Bewegung. Sie richteten sich damals nicht nur gegen das Regime, sondern forderten auch bessere Lebensbedingungen und Freiheit. Es war vielmehr auch eine antiimperialistische Grundhaltung zu erkennen, eine Ablehnung bestehender Militärstützpunkte der NATO und des Einflusses der USA in Griechenland. Die Kundgebung endet deshalb traditionell immer an der US-Botschaft, um gegen aktuelle politische Ereignisse zu demonstrieren.
Auch in diesem Jahr wurde auf der Kundgebung nicht nur an die Opfer gedacht, sondern die Proteste mit politischen Kämpfen von heute verbunden. Geprägt durch diese gesellschaftliche Grundhaltung, wird neben der bestehenden repressiven Politik der neuen Regierung ebenfalls für Frieden sowie bessere Arbeitsbedingungen demonstriert.
Treffend formuliert es die Nea Aristera in ihrem Pressestatement: „Das Polytechnion verbindet das „Damals“ mit dem „Heute“. Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Von Palästina und dem Völkermord durch die israelische Regierung, zum Stellvertreterkrieg in der Ukraine, über die Militarisierung Europas bis hin zum Aufstieg der extremen Rechten in Europa ist der ständige Kampf für Gerechtigkeit die einzige Option des Völker(…) 51Jahre nach dem Aufstand des Polytechnion haben wir die Pflicht, unsere Geschichte zu verteidigen und die Erinnerung als Leitfaden für heitige Arbeitskämpfe zu bewahren. Denn Erinnerung bedeutet Widerstand, Erinnerung bedeutet Hoffnung.“
Die griechische Gewerkschaft GSEE rief auf, die damaligen Arbeitskämpfe mit den heutigen zu verbinden:„Damals wie heute gilt,Kollektives Handeln auf den Straßen ist die treibende Kraft historischer Veränderungen, welche bestehende Machtstrukturen und autoritäre Regime stürzen kann und unsere Interessen durchsetzt. Wir erinnern uns und ehren heute wie damals die Studenten der Technischen Universität, die den Weg zur Demokratie ebneten“.
51 Jahre nach dem Polytechnio
51 Jahre nach dem Aufstand im „Polytechnio“ zeigt sich ein weiteres Mal, dass Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Demokratie nichts Selbstverständliches sind und Tag für Tag erkämpft und verteidigt werden müssen.
Heute werden sie aufgrund eines erstarkten Rechtsrucks, Militarismus, Kriegen und autoritärer Machtstrukturen wichtiger denn je. Aufgabe der linken und progressiven Kräfte muss es sein, sich nicht nur zu erinnern, sondern die Kämpfe von damals mit den Kämpfen von heute verbinden, progressive Parteien, Verbände mit Bewegungen und der Zivilgesellschaft bündeln und zu mobilisieren, um sich noch stärker für diese Ideale einzustehen.
Die Forderungen „Psomi-Paideia-Eleutheria“(Brot-Bildung-Freiheit) in der heutigen Zeit
Die Demonstration endete auch dieses Jahr vor US-amerikanischen Botschaft, nicht nur aus Tradition, sondern aufgrund der aktuellen politischen Ereignisse. Es wird lautstark gegen den Krieg und weitere Waffenlieferungen und Unterstützung seitens der USA an die Ukraine und Israel protestiert, gegen den wirtschaftlichen und geostrategischen Gewinn aus dem Leid der Menschen.
Doch auch die klassischen „Brot-Themen“ waren ein zentraler Bestandteil der diesjährigen Demonstration, denn das gegenwärtige soziale Problem wurde durch die Gesetzesentwürfe der Nea Dimokratia noch weiter verschärft. In ähnlicher Weise werden die Banner für „Bildung“ gehisst werden, da die in Griechenland bislang selbstverständliche öffentliche und kostenlose Zugang zu Bildung in den letzten Jahren am heftigsten angegriffen wurde.
Auch das Wort „Freiheit““ wird in diesem Kontext nicht fehlen dürfen. Es ist nicht nur die Presse- und Meinungsfreiheit,die in den letzten Jahren unter dieser Regierung gelitten hat: Für viele Studierende geht es mehr und mehr um die Wiederherstellung des Universitätsasyls. Sie fordern das Ende der Polizeipräsenz und der ideologischen „Überwachung“ ihrer Fakultäten, die das Demonstrations- und Versammlungsrecht aushöhlt oder mit Polizeigewalt verhindert. Oftmals wurden sogar Verhaftungen vorgenommen. Diese Ereignisse erinnern an anderen Zeiten.