In Serbien protestieren in den vergangenen Wochen immer wieder zehntausende Menschen gegen die nationalkonservative Regierung und den amtierenden Präsidenten des Landes, Aleksander Vučić. Doch wie sind diese Proteste einzuordnen und werden sie zu positiven Veränderungen im Land führen? Wir sprachen mit Pavle Ilić über die aktuelle politische Lage Serbiens und die Möglichkeit für Fortschritt im Sinne der Mehrheit der Menschen. Er selbst hat an den Protesten in Belgrad teilgenommen.
Die Freiheitsliebe: Zehntausende Demonstranten haben in Belgrad demonstriert. Erinnert ihr euch an irgendeine Demonstration, als das letzte Mal so viele protestierten?
Pavle Ilić: Auch wenn es so aussieht, als wären wir in den vergangenen Tagen zu Augenzeugen der größten Proteste seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000 geworden, fingen die ersten größeren Proteste in Serbien bereits 2016 an. Damals begannen die Menschen gegen das riesige Bauprojekt „Belgrad am Wasser“ zu protestieren. Die nächsten wichtigen Proteste fanden im April 2017 statt, als linke Kräfte gemeinsam zu größeren Protesten aufriefen und eine sichtbare Kraft in der Bewegung wurden.
Die Menschen die jetzt auf die Straße gehen, sind häufig die gleichen Menschen, die bereits 2016 und 2017 auf mit uns gemeinsam demonstrierten. Nur das jetzt vermehr auch ältere Menschen dabei sind. Wenn du mich fragst sind die aktuellen Proteste vergleichbar mit denen der Studierenden 96/97, auf die die „Revolution vom 5. Oktober“ folgte, Milošević Umsturz.
Die Freiheitsliebe: Die Proteste begannen ja mit einem Angriff auf Borke Stefanović. Welche Rolle spielt Stefanović in den Protesten und wer ist das?
Pavle Ilić: Borko Stefanović ist der Vorsitzender der sogennanten „Linken Serbiens“, einer linksliberalen Partei welche Teil der Oppositionskoalition „Bund für Serbien“ ist. Dieser Bund besteht aus fast der gesamten parlamentarischen Opposition. Links beginnend bei der Linken Serbiens, die eine Art serbische Syriza sein will, über die Überbleibsel der einst mächtigen Demokratischen Partei, bis hin zur klerikal-faschistischen Dveri. Während Stefanović in der serbischen Stadt Kruševac wegen der Kampagne zur kommenden Kommunalwahl unterwegs war, wurden er und zwei weitere Mitglieder seiner Partei angegriffen.
Daraufhin hat der Bund zu Protesten unter dem Namen „Stop den blutigen Hemden“ aufgerufen. Zwar fanden die ersten Proteste zeitgleich mit Protesten der Gelbwesten in Frankreich statt, doch die Atmosphäre hier ist eine gänzlich andere.
Die Oppositionsführer haben schnell begriffen, dass sie sich nicht einfach in die erste Reihe der Demonstrationen stellen können und so schickten sie ihre Jugendverbände vor, um zu behaupten, die Proteste wären formal keine Mitglieder von Parteien. Man muss auch wissen, dass die Initiatoren der Proteste nach dem 16. Dezember einen Monat lang pausieren wollten, wovon sie jedoch abstand nahmen, als die Menschen in den sozialen Medien erklärten, sie würden auch ohne die Initiatoren auf die Straße gehen.
Die Freiheitsliebe: Wer sind denn die Teilnehmer der Proteste?
Pavle Ilić: In Serbien gibt es keine Organisation, die die „Kontrolle“ über eine Demo mit über 20.000 Menschen aufrechterhalten kann. Und der Bund für Serbien kann das erst recht nicht. Trotzdem hat der Bund nach wie vor die Kontrolle, welches Fronttransparent getragen wird, wer in der ersten Reihe steht, welche Themen gesetzt werden und wer auf den Kundgebungen sprechen darf. Bisher waren das vor allem Schauspieler und „unpolitische“ Prominente. Obwohl es auch dabei Uneinigkeiten gab, da sich die rechten Teile des Bundes für Serbien über bestimmte liberale Forderungen echauffierten. Das was die Proteste vor allem ausstrahlen ist, dass in Serbien unkultivierte und autoritäre Personen herrschen und die bürgerliche Demokratie in Gefahr ist.
Neben dem Bund für Serbien gibt es auch viele kleinere Gruppen, die an den Protesten teilnehmen. Doch ihr Einfluss beschränkt sich im Moment auf die wenigen Menschen, die bei den Demonstrationen in ihrer direkten Umgebung sind. Also der Reichweite des Megaphons entsprechend. Die beste Intervention wurde vom breiten Bündnis „Dach über dem Kopf“ organisiert, wohl dem aktuell größten und funktionsfähigen linken Bündnis in Serbien.
Die Freiheitsliebe: Gibt es nationalistische und rassistische Elemente auf den Protesten und wenn ja, welche Rollen spielen sie?
Pavle Ilić: Klar, sie sind anwesend, aber man darf ihren Einfluss nicht überbewerten. Ein Beispiel für ihren Einfluss ist, dass der Spruch „Vučiću pederu“ („Vučić du Schwuchtel“) erneut skandiert wird, obwohl er in den letzten Jahren von fast allen Demonstrationen verschwand. Trotzdem: die extreme Rechte ist in den letzten Jahren zusammengebrochen und sie kann selbst bei diesen Protesten nicht ohne konservative-bürgerliche Kräfte agieren.
Die Freiheitsliebe: Kann man es schaffen, noch mehr Lohnabhängige zu mobilisieren? Also jene, die von Vučićs Politik am stärksten betroffen sind?
Pavle Ilić: Ein positives Signal auf den letzten Demonstrationen war, dass verschiedene Postgewerkschaften mehrere Demoblöcke organisierten. Während der Demonstration verschmolzen dann spontan der Linke- und der Gewerkschaftsblock zusammen. Es gibt Überlegungen in Zukunft zusammen aufzutreten. Ob es dazu kommt bleibt fraglich, denn die Gewerkschaften werden von Jahr zu Jahr schwächer und zurückhaltender.
Die Freiheitsliebe: Glaubst du, dass Vučić den Bogen überspannt hat und das nun eine Alternative zum neoliberalen und nationalem Mainstream möglich ist?
Pavle Ilić: Absolut. Es besteht ein Vakuum außerhalb des von dir erwähnten Mainstreams. Sowohl die parlamentarische Opposition, als auch Vučić sind ein Topf buntes mit einer Neigung nach Rechts. Das lässt eine riesige Lücke rechts vom Zentrum offen, welches gefüllt werden muss.
Und genau hierfür ist der Kampf gegen Zwangsräumungen die sichtbarste linke Ansatz seit 2000 geworden. Nicht deswegen, weil es vorher keine sichtbaren Proteste gab, sondern weil die neue Linke in Serbien erst seit den 2000ern im entstehen begriffen ist. Ganz im Gegensatz zu Kroatien, wo der Kampf gegen Zwangsräumungen vor allem dem Rechtspopulisten Ivan Pernar und seiner „Lebenden Mauer“ nutzte, ist in Serbien der Kampf gegen Zwangsräumungen dominiert von antikapitalistischen Kräften und der radikalen Linken.
Und schlussendlich zeigt alleine die Menge der Protestierenden und ihre zunähme in den letzten Jahren, das immer mehr Menschen bereit sind aufzustehen. Das sind alles Zeichen die zeigen, dass eine Alternative Politik möglicher wird. Und weder die Regierungspartei noch die bürgerliche Opposition weiß, wie es mit den Protesten weiter gehen wird. Es liegt an uns, den Menschen eine Alternative anzubieten.
Die Freiheitsliebe: Fehlt euch in Serbien nach wie vor eine starke sozialistische Partei? Ist nicht der jetzt der richtige Zeitpunkt, eine antikapitalistische Partei zu gründen?
Pavle Ilić: Aktuell kann in Serbien überhaupt nicht die Rede von einer linken Partei sein. Wie ich bereits erwähnt habe, wollte die Linke Serbiens genau so etwas sein, um am Ende aber nur die ehemaligen Kader der Demokratischen Partei zu recyceln. Und die Sozialistische Partei Serbiens ist seit jeher der kleine Partner von Vučić in allen Vorhaben, die den Sozialstaat abbauen und Arbeiterrechte abbauen. Und vorher arbeitete sie mit Milošević zusammen und der Regierung der Demokratischen Partei.
Trotz alledem gibt es immer mehr Anstrenungen, einige Grassroots Intiativen, Gruppen und Bewegungen in eine politische Struktur zu integrieren. Es ist meiner Meinung nach noch zu früh, um etwas über den Ausgang des Prozesses zu sagen, außer, dass das Jahr 2019 große Veränderung der Organisationsstruktur der serbischen Linken bedeuten wird. Zum besseren, hoffe ich.
Zum Schluss muss ich sagen, dass Belgrad nur eine von vielen Städten in Europas ist, in denen aktuell Proteste stattfinden. Die Proteste in Belgrad sind bei weitem nicht so Intensiv wie die Proteste der Gelbwesten in Frankreich oder den Studierendenprotesten in Albanien. Aber sie sind trotzdem ein starker Ausdruck der Unzufriedenheit der Menschen hierzulande und bieten daher immer die Möglichkeit, der Keim für Veränderung zu sein. Und so lange diese Möglichkeit besteht ist es die Aufgabe der Linken, diese zu nutzen und den unzufriedenen Teil der Bevölkerung zu erreichen.
Die Freiheitsliebe: Danke dir.
Pavle Ilić ist Aktiv bei marks21 und dem Bündnis „Dach über dem Kopf“, dass sich in Serbien gegen Zwangsräumungen einsetzt.