Als sich am 2. Februar 2009 Hunderttausende in der venezolanischen Hauptstadt Caracas versammelten, um den zehnten Jahrestag der bolivarischen Revolution zu begehen, befand sich der Chavismus wohl auf seinem Höhepunkt. Neben Präsident Hugo Chávez waren auch der Präsident von Bolivien, Evo Morales, der Präsident von Ecuador, Rafael Correa, der Präsident von Nicaragua, Daniel Ortega, der Präsident von Honduras, Manuel Zelaya und viele weitere prominente Gäste bei der Veranstaltung zugegen, zu der Gewerkschaften, indigene Organisationen, soziale Bewegungen und Parteien aufgerufen haben. Zu dieser Zeit regierten auch in Bolivien, Ecuador und Nicaragua sozialistische Parteien, die die Vision einer multipolaren Weltordnung der venezolanischen Regierung teilten und die die Integration Lateinamerikas vorantrieben.
Dieser Moment kann in Retrospektive als ein Zenit der Bewegung zum Sozialismus in Venezuela angesehen werden, als Präsident Chávez innenpolitisch durch sein Projekt des sozialen Wandels am Höhepunkt seiner Macht angelangt war und in ganz Lateinamerika ein nie dagewesener Linksruck einsetzte. Das lag zum einen an der Perspektivlosigkeit, die der Neoliberalismus auf dem Kontinent hinterlassen hatte, und zum anderen an den Erfolgen, die der Chavismus bis dahin vorzuweisen hatte.
Während der Regierungszeit von Präsident Chávez (1999 bis 2013) schaffte es Venezuela u.a. nach Angaben der Wirtschaftskommission der UN für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) die Armut von 49,4% auf 23,9% zu senken und auch die Kindersterblichkeit von 44,4 pro 1000 Lebensgeburten auf 17,0 im Jahr 2009 zu senken, wie Daten der UN-Interagency Group for Child Mortality Estimation zeigen. Finanziert wurden die zahllosen Sozialprogramme, die dies ermöglichten, durch die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und natürlichen Ressourcen wie dem venezolanischen Öl und Gold.
Was bleibt aber noch vom Erbe des Hugo Chávez, wenn man heute den Zustand der bolivarischen Revolution betrachtet? Augenscheinlich nicht viel, vor allem wenn man die deutsche Presselandschaft als Informationsquelle nutzt. Einige reaktionäre Stimmen würden sogar fälschlicherweise behaupten, dass die Hyperinflation von über 1000% der Jahre 2018 bis 2020 unter Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro schon immer zur Normalität gehörte. Es ist wenig fruchtbar einfache und unterkomplexe Erklärungen zu übernehmen, ohne vorher die Geschichte Venezuelas zu betrachten. Viele Probleme und Herausforderungen, die Venezuela heute vor sich hat, finden sich in Grundzügen schon seit Beginn der Revolution.
Der Aufstieg von Hugo Chávez – Hoffnungsträger einer neuen Ordnung
Um den Aufstieg von Hugo Chávez zu verstehen, muss das Jahr 1989 betrachtet werden. Mit den Achtzigerjahren endete spätestens die große Ära des Wohlstands des Landes aufgrund seiner Ölvorkommen. Für ein Jahrzehnt stagnierten nun schon die Löhne, grassierte die Inflation und als der IWF wegen der hohen Auslandsschulden dem Land ein Sparpaket auferlegte, setzte die soziale Explosion ein. Kurz nach Verkündigung des Sparprogramms protestierten Tausende ab dem 27. Februar auf den Straßen des Landes. Als Reaktion auf Szenen der Plünderung rief die Regierung den Notstand aus und setzte das Militär gegen die Demonstranten ein. Es folgten darauf die blutigsten Tage in der jungen Vergangenheit Venezuelas. Mehrere Tausend Menschen sollen beim sogenannten Caracazo durch die eingesetzten Streitkräfte ermordet worden sein.
Auf den Caracazo, die Delegitimierung des Neoliberalismus und den wirtschaftlichen Niedergang des Landes folgte ein Putschversuch von Teilen des Militärs, die die Regierung von Präsident Carlos Andrés Pérez stürzen wollten. Am 4. Februar 1992 versuchte eine Gruppe junger Offiziere – viele aus ärmeren Bevölkerungsschichten und unzufrieden mit Korruption und sozialer Ungleichheit – einen revolutionären Umbruch herbeizuführen. Der schlecht koordinierte Aufstand scheiterte, doch ein junger Fallschirmjäger namens Hugo Chávez trat als Anführer in den Vordergrund und wurde landesweit bekannt.
Während der anschließenden Haft gewann der junge Hugo Chávez nur weiter an Popularität in der Bevölkerung, viele sahen in ihm einen Helden, der gegen das korrupte System kämpfte. 1998 wurde er schließlich auf Basis eines Programms des sozialen Wandels zum Präsidenten gewählt und schwor bei seiner Vereidigung:
„Ich schwöre vor Gott, ich schwöre vor dem Vaterland, ich schwöre vor meinem Volk, dass ich auf Grundlage dieser sterbenden Verfassung die notwendigen demokratischen Veränderungen einleiten werde…“
Auch wenn ab dem Jahre 2005 mit dem Projekt „des Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ der Weg der bolivarischen Revolution – benannt nach einer der Befreier des Kontinents vom spanischen Kolonialismus Simón Bolívar – hin zum Sozialismus klar war, startete Hugo Chávez seine Karriere in der Politik nicht als Sozialist. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern, die vor der Wahl links blinken und danach rechte Politik machen, war er eher als ein linker „Populist“ oder Patriot einzuordnen, der sich auf Seiten des Volks gegen den Neoliberalismus und die Elite stellte. Die Praxis des Regierens und die Widerstände, auf die er so stieß, halfen ihm sich politisch weiterzuentwickeln und zu radikalisieren.
Nach der Einführung einer neuen Verfassung im Jahre 1999, die die demokratische Partizipation der Bevölkerung durch Räte und Volksabstimmungen auf allen Ebenen erweiterte, die die natürlichen Ressourcen des Landes zum Eigentum aller Venezolaner erklärte und zum ersten Mal Rechte zum Schutz von Armen, Frauen, Kinder, Familien und der Umwelt festsetzte, erhöhte die nationale Oligarchie ihren Druck.
Putsch 2002 – Machtprobe zwischen Oligarchie und Revolution
Die Rückgabe sozialer Rechte an eine übergroße entrechtete Schicht innerhalb Venezuelas bedeutete gleichzeitig den Entzug von Privilegien für eine sehr kleine Schicht von sehr reichen Menschen, die sich dem mit aller Kraft widersetzten. Das würde Präsident Chávez bald zu spüren bekommen. Global gesehen verdient an der Ausbeutung Lateinamerikas, seiner Arbeiterschaft und seiner Ressourcen zwar vor allem der globale Norden – allen voran die USA – jedoch gibt es immer eine kleine Gruppe von Menschen, die an diesem Ausverkauf des eigenen Landes ein Vermögen „verdient.“ Diese soziale Klasse, die durch Korruption und Gewalt ihre Macht sichert, stellte sich historisch immer gegen jede Form echter Demokratisierung, sozialer Umverteilung und politischer Teilhabe der Mehrheit – Chile unter Salvador Allende, Nicaragua nach der sandinistischen Revolution 1979 und Bolivien unter Evo Morales sind einige von dutzenden Beispielen. Sie widersetzen sich dem, obwohl die eigene nationale Elite objektiv von einer Entwicklung des Landes mehr profitieren würde als von einem Ausverkauf.
Seit seinem Amtsantritt hatte der neue Präsident von den alten Eliten Gegenwind abbekommen: Auf die stärkere staatliche Kontrolle über den Ölkonzern PDVSA folgte ein Managerstreik, und auf die Verabschiedung einer Bodenreform reagierten Großgrundbesitzer mit Protesten und juristischen Blockaden. Alles dies flankiert durch eine nicht endende Kampagne der Privatmedien.
Am 11. April 2002 erreichte die Auseinandersetzung der demokratisch gewählten Regierung Chávez und der unteren sozialen Klassen gegen die nationale Elite mit ihren Medien und der Opposition ihren Zenit. Der Unternehmerverband, Medien und Opposition riefen zu einer Demonstration vor dem Präsidentenpalast Miraflores in der Hauptstadt Caracas auf. Bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften kam es zu Schüssen und Toten. Bis heute gibt es keine Klärung, wer diese Schüsse letztendlich abgab, ob die Pro-Chávez Demonstranten, durch die Opposition eingeschleuste Paramilitärs oder die Sicherheitskräfte selbst. Klar ist jedoch, dass dieser Tag zum darauffolgenden Putsch führte. Ranghohe Militärs forderten in der Folge den Rücktritt des Präsidenten, als sich dieser zunächst weigerte, wurde er durch das Militärs entführt.
Der Unternehmer und Chef der Industrie- und Handelskammer Pedro Carmona wird zum Präsidenten ernannt, nimmt augenblicklich 49 Gesetze der Regierung zurück und löst das Parlament, sowie den Obersten Gerichtshof auf. Die USA, Spanien und rechte Regierungen Lateinamerikas unterstützen den Putsch, der im Privatfernsehen als Befreiung gefeiert wurde. Als Reaktion auf diesen von langer Hand geplanten Staatsstreich folgten 48 Stunden der Dauermobilsierung auf den Straßen durch Hunderttausende Menschen in Unterstützung der legitimen bolivarischen Regierung, bis die Leibgarde des Präsidenten sich auf die Seite der Protestierenden stellte, den Regierungssitz unter seine Kontrolle brachte und Chávez wiedereingesetzt wurde.
Diese 48 Stunden des Putschts sind in einer einzigartigen Dokumentation eines irischen Filmteams verewigt worden, die sich zufällig zum Zeitpunkt des Staatsstreichs im Palast Miraflores befanden, Inside the Coup aus dem Jahre 2003 zeigt eindrucksvoll den Putsch innerhalb des Präsidentenpalasts, die spätere Absetzung der Putschisten, die Proteste der Venezolaner auf den Straßen, sowie die heldenhafte Rückkehr des rechtmäßigen Präsidenten mit einem Militärhubschrauber in den Regierungssitz. Erstaunliche Aufnahmen, die die Erzählung der Opposition eines angeblich rebellierenden Volkes widerlegten.
Dieser Putsch oder Putschversuch markierte einen Wendepunkt des bolivarischen Prozesses mit den Privatmedien, der Opposition und dem Unternehmertum.
Konsolidierung des Projekts – Tod von Hugo Chávez
Die darauffolgenden Jahre waren durch eine Vertiefung und Radikalisierung des Projekts der bolivarischen Revolution gekennzeichnet. Es wurde versucht demokratische Strukturen gegen den Staat im Staat zu stärken, korrupte oder ineffiziente Funktionäre in Politik und Verwaltung regelmäßig abzusetzen und der Umbau der Wirtschaft wurde vorangetrieben. Das Ganze geschah im Windschatten des Rohstoffpreisboom von 2003 bis etwa 2014, als z.B. der Preis für ein Barrel Öl auf bis zu 140$ stieg. Dies ermöglichte dem bolivarischen Venezuela, die Sozialprogramme für Arme und internationale Projekte zu finanzieren.
Man könnte hunderte Beispiele für die Erfolge der Sozialprogramme – „Misiones“ – anführen so z.B. die Misión Vivienda, die bis heute in Venezuela mehr als 3 Millionen Wohnungen an Menschen übergab, in denen es fließendes Wasser, Strom und Co. gibt. Ebenso könnte man die Misión Milagro betrachten, als in Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Kuba und ihrer einzigartigen Ärztemission in ganz Lateinamerika mehr als 4 Millionen Patienten an den Augen operiert oder behandelt wurden. Ein Sozialprojekt, das in der jüngeren Geschichte des Kontinents seines gleichen sucht.
Parallel dazu bemühte sich die bolivarische Führung intensiv darum, eine breite Allianz mit sozialen Bewegungen, Basisorganisationen und Gewerkschaften zu schmieden. Dieses Bündnis arbeitete Hand in Hand bei wichtigen Projekten wie Verstaatlichungen, Landreformen und der Umsetzung sozialer Programme, um die gesellschaftliche Transformation voranzutreiben.
Außenpolitisch stärkte Venezuela die Zusammenarbeit Lateinamerikas ohne USA und Kanada, setzte sich für eine multipolare Welt ein und war Kritiker globaler Ungerechtigkeit. Ob durch rhetorische Attacken gegen die USA und Israel oder durch konkrete Maßnahmen zur Durchsetzung der Souveränität des globalen Südens unabhängig von Weltbank, IWF und Co.
Mit dem Tod des Anführers der bolivarischen Revolution 2013 endete auch zeitnah der Preisboom bei Rohstoffen und damit auch die Blütezeit des Chavismus. Das Land befindet sich seitdem in einer nicht enden wollende Krise. Unter dem ständigen Druck von außen durch Sanktionen, dem Druck von innen von Seiten der Opposition und wegen der nun lahmenden Wirtschaft sah sich die Regierung von Chávez Nachfolger Nicolás Maduro gezwungen von dem sozialistischen Projekt abzukehren und die Transformation der Wirtschaft zu stoppen – obwohl Venezuela selbst in der Hochphase eher ein halb-sozialistisch Modell mit starker staatlicher Kontrolle über Schlüsselindustrien war.
Auch die Kritik der Basis wird wegen der bitteren sozialen Realität der Hyperinflation lauter, auch von Seiten ehemaliger Verbündeter wie der Kommunistischen Partei Venezuelas oder der neuen Basis-nahen Partei Comunes. Statt einer Vertiefung des sozialistischen Charakters der Revolution bemühe sich die Regierung eher um internationales Kapital zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, ist eine immer wiederkehrende Kritik.
Wie viel Chávez noch in der bolivarischen Revolution steckt, ist also Teil einer lebhaften Debatte. Trotz aller Entwicklungen und Widersprüchen bleibt der Chavismus aber noch immer ein wichtiger Bezugspunkt. An dieser Stelle könnte noch viel mehr gesagt werden – etwa über die finanzielle Unterstützung der Opposition aus den USA, die US-Sanktionen, die inzwischen sogar gezielt gegen die Nahrungsmittelversorgung gerichtet sind, oder die Gründung der PSUV als Partei zur Einigung der sozialistischen Bewegung in Venezuela.
Bis heute lohnt sich eine ehrliche Betrachtung des Chavismus – seiner Erfolge sowie seiner Herausforderungen – um daraus für zukünftige Projekte, für eine soziale und demokratische Transformation der Gesellschaft und der ganzen Welt zu lernen.