Russland und das Gas – Panikmache durch Desinformation

"Nord Stream 2 Rügen 181007 369.jpg" by juergen.mangelsdorf is licensed under CC BY-NC-ND 2.0.

Nachdem Russland Mitte Juni die Gaslieferungen über Nord Stream 1 reduziert hat, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht politische Würdenträger und mutmaßliche Experten mit neuen Albtraumszenarien für den kommenden Winter aufwarten. In all diesen Horrorszenarien steht eines von vornherein fest: Der Schurke ist Putin. Off-Limits ist in der veröffentlichten Meinung die Frage, ob nicht die westliche Sanktionspolitik und das Festhalten an der Vorstellung, dass es in diesem Krieg kein anderes Ergebnis als eine militärische Niederlage Russlands geben darf, ein wichtiger Grund für die sich nun aufschaukelnden Probleme sein könnte.

Teil 1 eines Dreiteilers um den Konflikt um die russischen Gaslieferungen unseres Autoren Paul Michel vom Netzwerk Ökosozialismus.

Am 14. Juni hatte Gazprom erklärt, es müsse den Gasdurchfluss in Nord Stream 1 reduzieren, weil wichtige Komponenten für den Gastransfer nicht zur Verfügung stünden. Daraufhin traten Politiker und Medien in einen Überbietungswettbewerb um die düsterste Prophezeiung. Von CDU bis zu den Grünen, von BILD bis zur Süddeutschen Zeitung – alle waren sich einig: Wir steuern auf eine Megakatastrophe zu. Den Vogel schoss wohl das Handelsblatt ab. „Im schlimmsten Fall drohen Deutschland Katastrophenmonate, wie es sie seit dem sogenannten Hungerwinter 1946/1947 nicht mehr gegeben hat. Damals starben Zehntausende Deutsche an Kälte und Unterernährung.“

Behauptung ist genug Beweis!

Zur Wirklichkeit pflegen die Schöpfer dieser alarmistischen Stimmungsmache ein recht kreatives Verhältnis. Ein beliebtes Muster zeigt ein vierseitiger Artikel im STERN mit dem Titel „Auf Sparflamme“. Darin wird mit großer Detailliebe und einer gewissen Neigung zum Drama ausgemalt, welche Auswirkungen ein völliger Ausfall der Gaslieferungen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche haben könnte. Zum Thema Putin gibt es lediglich zwei Sätze: „In einer quasi wirtschaftskriegerischen Auseinandersetzung sieht Vizekanzler Robert Habeck die Republik. Mit Energie als Waffe, so Kanzler Scholz.“ Mehr an Beweisführung dafür, dass Putin an allem schuld ist, liefert der Artikel nicht. Dennoch ist eine der Kernbotschaften des Artikels, dass Putins Erpressungspolitik für das ganze Schlamassel verantwortlich ist.

In einem Klima, in dem Putin von vorherein die Inkarnation allen Bösen ist, sehen die Verbreiter der Einheitsmeinung offenbar keine Notwendigkeit, Belege und Beweise für ihre Behauptungen zu liefern. Eine Behauptung ist Beweis genug! Alles ist zulässig! Freie Bahn der Phantasie! Der veröffentlichte Diskurs ist davon geprägt, dass man Teilwahrheiten berichtet und Dinge weglässt, die nicht ins gewünschte Bild passen wollen. Im Zweifelsfall wird die Wirklichkeit passend gemacht. Das ist eigentlich eine Provokation für jeden mit Verstand ausgestatteten Menschen. Aber in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der die Mehrheit der Menschen darauf eingeschworen ist, dass Putin der Böse und die eigenen Herrschenden die Guten sind, nimmt an solch billigen rhetorischen Manövern offenbar kaum jemand Anstoß.

In der Haltung zum Ukrainekrieg ist es den Herrschenden gelungen, ein Ausmaß von Gleichschaltung herzustellen, wie das in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, nicht der Fall war. Noch ist nicht erkennbar, wie das möglich wurde. Fest steht allerdings: Es wurde nicht vornehmlich mittels Repression hergestellt. Es gibt zwar die weitgehende Ausschaltung Russland naher Medien durch administrative Maßnahmen. Aber es gibt kaum Fälle, wo Stellungnahmen etwa aus der Friedensbewegung oder der Linken mit Strafverfahren abgestraft worden wären. Oberflächlich betrachtet könnten wir von einer freiwilligen Selbstgleichschaltung in den Medien sprechen. Es ist auffällig, dass auch kritische Magazine im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wie monitor, die etwa beim Jugoslawienkrieg oder beim Irakkrieg für ein gewisses Maß an Gegenöffentlichkeit sorgten, in Bezug auf den Ukrainekrieg „embedded journalism“ betreiben. Hingegen wird kritischen Stimmen schlicht kein Raum gegeben.

Ein Artikel von Wolfram Wette, einen der renommiertesten Militärhistoriker Deutschlands, mit dem Titel „Ukraine-Krieg und Diplomatie: Kriegslogik versperrt den Weg“ erscheint nicht, wie es eigentlich zu erwarten wäre, in einem Organ der vermeintlichen Qualitätsmedien wie der Zeit, sondern in KONTEXT, einer Online-Zeitung für den schwäbischen Raum. In den vermeintlichen „Qualitätsmedien“ gibt es so gut wie keine Artikel, die aus der Reihe tanzen. Sie versagen sich eigenständiges Denken und Recherchieren. Stattdessen plappern sie das, was von der Regierung kommt, einfach nach – auch wenn das offenkundig falsch ist. Man kann sich vorstellen, dass Journalist*innen, die versuchen, aus der Reihe zu tanzen, abgestraft werden, indem man ihnen signalisiert, dass das für ihr weiteres berufliches Fortkommen äußerst nachteilig wäre. Es sind aber bisher kaum solche Fälle bekannt geworden, wo Journalisten für abweichende Meinungen abgestraft wurden.

In den späten 1980er Jahren schrieben Noam Chomsky und Edward G. Herman ein Buch mit dem Titel „Manufacturing Consent“ (Deutsch: Die Konsensfabrik). Darin untersuchen sie, wie die politischen und ökonomischen Eliten ein Propagandasystem durch die Massenmedien aufbauen, durch das die öffentliche Meinung gelenkt und gesellschaftlicher Konsens zugunsten einer Oberschicht produziert wird, wobei gleichzeitig die Illusion von freien Medien und demokratischer Meinungsbildung gewahrt wird. Um das zu begreifen, was gegenwärtig in diesem Land geschieht, könnte es hilfreich sein, sich diese Untersuchungen wieder zu Gemüte zu führen.

Die Kampagne rund um die Reduzierung der Gasfördermenge

Werfen wir den Blick auf jene Woche, in der die inszenierte Empörungskampagne Fahrt aufnahm. Am 14. Juni hatte Gazprom erklärt, es müsse den Gasdurchfluss in Nord Stream 1 reduzieren, weil wichtige Komponenten für den Gastransfer nicht zur Verfügung stünden. An einer Gasverdichterturbine, die das Gas durch die Nord-Stream-1-Pipeline pumpen soll, mussten vom Provider, Siemens Energy, Wartungsarbeiten durchgeführt werden. Die Wartung der Turbinen fand aus technischen Gründen in Kanada statt. Kanada weigerte sich dann aber, die Turbine nach der Überholung an Gazprom zurückzugeben und berief sich dabei auf eigene Sanktionen gegen den russischen Öl- und Gassektor. Seither liefen nur noch 40 Prozent der vorher üblichen Liefermenge über Nord Stream 1. Siemens Energy bestätigte in einer eigenen Pressemeldung die Aussage von Gazprom. Aber weder für die Bundesregierung noch für die Medien war das „kanadische Problem“ ein Thema. Robert Habeck erklärte, hier handele es sich um einen „ökonomischen Angriff“ auf Deutschland. An den Folgetagen schlugen die Wellen der Empörung hoch.

Am 11. Juli wurde die in Kanada festgehaltene Gasverdichterturbine plötzlich doch in den bundesdeutschen Medien ein Thema. Nun hieß es: Die Bundesregierung sei erleichtert, dass Kanada den Weg für die Lieferung der Siemens-Turbine für die Gaspipeline Nord Stream 1 frei gemacht hat. Die Regierung in Ottawa hatte zuvor erklärt, man werde eine Ausnahme von den Russland-Sanktionen machen und die in Kanada gewartete Turbine nach Deutschland zurückschicken. Faktisch war das der Beweis, dass die vorherige Aussage der russischen Regierung korrekt gewesen war. Aber so ein Eingeständnis hätte ja die eigene Position geschwächt. Also sucht man danach vergebens.

Immerhin wurde jetzt in den Medien wahrheitsgemäß berichtet, dass am 11. Juli wegen der jährlich wiederkehrenden Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 die Ostseepipeline für zehn Tage abgeschaltet werden würde. Die Erklärung Moskaus, man wolle die Gaslieferungen danach wieder hochfahren, schaffte es allerdings nicht in die deutschen Medien. Stattdessen gehörten die Schlagzeilen abermals dem grünen Wirtschaftsminister. „Alles ist möglich. Alles kann passieren. Es kann sein, dass das Gas wieder fließt, auch mehr als davor. Es kann sein, dass gar nichts mehr kommt“, erklärte Habeck fast hilflos im Interview mit dem Deutschlandfunk. In der veröffentlichten Meinung ging man allerdings davon aus, dass Russland den Gashahn auch nach Abschluss der Wartung nicht mehr aufdrehen wird.

Nach Ablauf des Wartungsfenster am 21. Juli trat nicht ein, was die Bundesregierung zuvor als das Wahrscheinlichste angekündigt hatte, nämlich dass der Gashahn geschlossen bleiben würde. Aber lediglich die DIW-Energiespezialistin Claudia Kempfert wollte dem etwas Positives abgewinnen. „Dass Russland wieder Gas liefert – wenn auch gedrosselt –, schafft für den deutschen Gasmarkt Entspannung. Es ist aber auch ein Ausdruck davon, dass Russland den Bogen nicht überspannen kann.“ Am 25. Juli kündigte Gazprom an, die Gaslieferungen durch Nord Stream 1 ab 27. Juli von zu dem Zeitpunkt 40 Prozent auf nur noch 20 Prozent der Kapazität zu drosseln. Als Grund gab der Konzern die Wartung einer weiteren Turbine an. Die Bundesregierung reagierte mit Unverständnis. Im Vergleich zu einem Monat vorher war das noch eine moderate Reaktion. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Gazprom die bei Nord Stream 1 ausfallenden Gaslieferungen nach Europa durch eine Erhöhung der Lieferungen über eine andere Leitung ausgleichen will, die von Russland über die Ukraine in die Slowakei und nach Österreich und Deutschland führt.

Insgesamt wäre festzuhalten: Obwohl in Bezug auf die russischen Gaslieferungen die Lage einigermaßen unübersichtlich und verwirrend ist – Fakt ist: Bis Mitte Juni hat sich Russland ziemlich vertragstreu verhalten. Das ist schon einigermaßen erstaunlich angesichts der Tatsache, dass in den Wochen und Monaten davor die deutsche Seite in öffentlichen Erklärungen immer wieder in schneidigem Ton verkündet hatte, dass man so schnell wie möglich die Gasimporte auf null herunterfahren wolle. Ihr Motto: Verträge hin oder her – wenn die Bundesregierung der Meinung ist, dass sich die Folgen für die deutsche Volkswirtschaft in einem als erträglich eingeschätzten Ausmaß halten, kickt sie die abgeschlossenen Verträge in die Tonne und stellt die Abnahme von russischem Gas (und vor allen die Zahlungen) sofort ein. Für die Befürworter von Sanktionen hat der Erfolg der eigenen Erpressungsbemühungen einen höheren Stellenwert als die Einhaltung der mit Gazprom vereinbarten Verträge. Diese offenkundige Doppelmoral in Sachen Vertragstreue ist damit offizielle Staatsdoktrin.

Wenn Russland sich vor diesem Hintergrund nur noch bedingt an Vereinbarungen gebunden fühlen würde, wäre das zumindest nachvollziehbar. Auf Seiten der Bundesregierung ist in der Frage der Energieimporte aus Russland „Spielchen spielen“ ein ganz normaler Bestandteil der Politik. Es braucht schon ein beträchtliches Maß an selektiver Wahrnehmung, wenn sich die Bundesregierung demonstrativ darüber empört, dass die russische Seite möglicherweise ähnliche „Spielchen“ zu spielen beginnt wie sie selbst.

Es geht hier nicht darum, das Verhalten der russischen Seite schönzureden. Es gilt aber festzuhalten: Für die mit großem moralischem Impetus zu Schau gestellte deutsche Empörung angesichts des Verhaltens der russischen Seite gilt schlicht und einfach eine alte Sponti-Weisheit: Die schärfsten Kritiker der Elche sind selber welche!

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2 Antworten

  1. „Es geht hier nicht darum, das Verhalten der russischen Seite schönzureden.“

    Schade, dieser Dreh zum Ende. Das klingt doch so als wäre der russischen Seite überhaupt etwas vorzuwerfen. Dafür habe ich aber bis jetzt noch keine überzeugenden Belege gesehen.

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