Die Dystopie einer Welt, die in Unordnung geraten ist, in der unsere Gesellschaft durch das Fremde und dunkle Mächte bedroht wird, ist aktuell wirkmächtig, führt dazu, dass nicht nur in Europa Parteien Zulauf haben, die mit Abschottung und Ausgrenzung vermeintlich einfache Antworten auf die Probleme unserer Zeit geben. Die Erzählung von Angst und Hass ist eine Reaktion auf das Versagen der politischen und ökonomischen Eliten, die mit ihrer Behauptung von der Alternativlosigkeit der Unterwerfung alles Menschlichen unter das Primat der allseitigen Verwertung aller Lebensbereiche grandios gescheitert sind. Der Kaiser ist nackt.
Es gibt kein Zurück in die „gute alte Zeit“ der „Sozialpartnerschaft“, die eher ein Burgfrieden war. Die sozialen Errungenschaften vor 1989 waren immer auch dem Umstand geschuldet, dass sich das Kapital angesichts der Blockkonfrontation als besseres System beweisen musste. Die Stagnation unter Helmut Kohl war mit ihrem Mehltau vielleicht das letzte Festhalten am in Auflösung befindlichen Klassenkompromiss. SPD und Grüne haben die alte Ordnung mit aller Kraft zerschlagen, den Krieg nach Innen gegen die eigene Bevölkerung mit gnadenloser Lohnkonkurrenz und Sanktionsregime auf der einen, Steuersenkungen für Besitzende und Großkonzerne auf der anderen an seine Stelle gesetzt.
Joschka Fischers Vision einer „sanften Hegemonie“ Deutschlands über Europa ist so sanft nicht ausgefallen, innereuropäisch bedeutet sie Durchsetzung des Neoliberalismus in Form der Austeritätspolitik, ohne Rücksicht auf die Menschen besonders in den Staaten in Europas Süden. Nach außen bedeutet sie Abschottung der „Festung Europa“ und Durchsetzung wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen im Zweifelsfall mit militärischer Gewalt. Der Rechtsradikalismus geriert sich mit der Nestwärme des homogenen Nationalstaats als Gegenentwurf zum kalten Neoliberalismus. Er ist nichts anderes als der alte Kaiser in muffigen Kleidern, an denen noch die Mottenkugeln der Vergangenheit hängen.
Was tut die Linke in dieser Situation? Sie ist zerstritten wie eh und je, vielleicht noch viel ernsthafter als zuvor. Da sind die Kräfte der Vergangenheit, die glauben, es gäbe ein Zurück in die goldene Zeit Kohls mit dem Spitzensteuersatz von 53 Prozent, und alles wäre gut. Weil es dem Neoliberalismus gelungen ist, Feminismus und offene Grenzen für sich zu vereinnahmen, fallen sie auf diesen Taschenspielertrick herein. Sie denunzieren verbissen in der Vergangenheit gegen den Staat und gegen Herrschaft erkämpfte Rechte, anstatt zu sehen, dass der neoliberale Feminismus nur instrumentell in den modernen Staaten genutzt wird, auch Frauen in die kapitalistische Maschinerie zu integrieren und die Verknüpfung mit sozialen Rechten zu kappen. Denn noch immer ist der überwältigend große Teil des weltweiten Kapitals im Besitz des Patriarchats, wird Macht von Männern ausgeübt. Und offene Grenzen und Freihandel gelten immer nur dort, wo Humankapital verwertbar ist. Wo die Elenden dieser Wirtschaftsordnung an die Tür klopfen, wird mit aller Macht der Riegel davorgeschoben.
Statt sich also zu verbünden mit allen fortschrittlichen Kräften, die sich der kapitalistischen Verwertungslogik widersetzen, wird auch hier dem neoliberalen Heilsversprechen auf dem Leim gegangen, die Sphäre des Nationalstaats wird geradezu zu einem Fetisch erhoben. Nicht zuletzt wird der Kampf gegen Klimawandel und für ein Ende des Raubbaus an den Lebensgrundlagen als grünes Klimbim abgetan, eine „Entgrünung“ gefordert. Dabei wäre es an der Tagesordnung, dieses Zukunftsthema von links zu besetzen: Nicht als Entscheidung über einen individuellen Lebensstil, sondern als soziale Frage. Der Kampf um Klimagerechtigkeit ist Klassenpolitik, nicht weniger: Das haben die verstanden, die mit ihrer Ausbeutung um den Erdball rasen, selbst das Abschmelzen des arktischen Eises als Chance sehen. Vielmehr sollten wir erkennen, dass unsere Chance darin besteht, dass sich alle Kräfte, die sich dieser globalen Ausbeutung widersetzen, zusammenschließen, über alle Grenzen hinweg.
Für Solidarität einzutreten, hieße für eine Gesellschaft zu kämpfen, die das Primat des Menschen und seiner Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt stellt. Das hieße zu erkennen, dass es nicht darum ginge, unterschiedliche Kämpfe gegen Herrschaft zu priorisieren oder gar gegeneinander auszuspielen. Die Kämpfe gegen das Patriarchat und für Gleichstellung aller Lebensweisen, gegen Rassismus und für eine grenzenlose Welt, gegen Krieg und für friedliche Konfliktlösungen, gegen Ausbeutung und für eine gerechte Gesellschaftsordnung, gegen die Kohlelobby und für Klimagerechtigkeit gehören allesamt zusammen. Das Verbindende ist, dass sich Menschen zusammenschließen, um Kontrolle über ihre eigenen Lebensumstände zu erlangen, dass sie sich Herrschaft und Ausbeutung ganz konkret entgegenstellen.
Aufgabe linker Politik ist es aktuell, kein romantisiertes Bild einer Vergangenheit, die es nie gab, als rückwärtsgewandten Zukunftsentwurf zu präsentieren, sondern eine konkrete Utopie zu entwickeln, die taugt als Gegenentwurf gegen die längst widerlegte Alternativlosigkeit des Neoliberalismus auf der einen, des brutalen Rechtsrucks auf der anderen Seite. Das wird nur in der konkreten Praxis gelingen, als Teil realer Bewegungen, wie sie gerade in Deutschland am Entstehen sind, wenn ganz konkret überall Zehntausende auf die Straße gehen. Diese konkrete Utopie findet sich dann, wenn wir ganz konkret benennen, wie ein sozial-ökologischer Umbau gelingen kann, wie eine nachhaltige Landwirtschaft funktionieren kann, wie Wohnen für alle finanzierbar und lebenswert wird, wie soziale Gerechtigkeit gegen das Kapital erkämpft werden kann, wie Homophobie und Antifeminismus der Boden entzogen werden kann. Wir haben Ideen, jede*r in ihrem Bereich, wir müssen nur den Mut haben zu sagen, dass es uns um eine ganz andere, neue Gesellschaft der Freien und Gleichen geht, dass wir Hass und Angst nur mit grenzenloser Solidarität und dem Traum eines ganz anderen Zusammenlebens besiegen werden.
Wer heute Zeit hat zum Lesen, dem empfehle ich sehr den wunderbaren Essay „The soul of man under socialism“ von Oscar Wilde. Darin hat er die Utopie als zentralen Motor gesellschaftlicher Entwicklung definiert:
„Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre es nicht wert, das man einen Blick auf sie wirft, denn in ihr fehlt das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet.“
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