Kein Misserfolg, aber auch nicht ausreichend!

Auch in diesem Jahr war der 3. Oktober wieder ein wichtiger Tag für die Friedensbewegung. Gemeinsam wurde demonstriert für Friedensverhandlungen mit Russland, gegen den Genozid in Gaza und gegen die Kriegsvorbereitungen der Bundesregierung.

Mit der Wahl von zwei Kundgebungsorten – Berlin und Stuttgart – hatten die Organisatoren in diesem Jahr insbesondere den Friedensaktivisten aus Süddeutschland eine Teilnahme etwas einfacher gemacht. Im Ergebnis waren 20.000 Menschen in Berlin und noch einmal 15.000 in Stuttgart dem Demo-Aufruf gefolgt. Ein Misserfolg ist das nicht, aber ein Grund zur Zufriedenheit auch nicht. Denn natürlich hätten es angesichts der zugespitzten Weltlage mehr Teilnehmer sein müssen.

Friedensarbeit ist kein Wunschkonzert

Doch sich Zahlen herbeizuwünschen ist voluntaristisch. Wir machen Politik unter den Umständen, die wir vorfinden. Die Teilnehmerzahl spiegelt die realistische Stärke der Friedensbewegung wider. Ihre Mobilisierungsfähigkeit charakterisiert sich durch eine objektive strukturelle Schwäche. Mehr als 500 Organisationen hatten für den 3. Oktober aufgerufen. Das war beachtlich, doch ein infrastrukturelles Rückgrat ist das nicht. In den 1980er Jahren hatten Großorganisatoren wie die Gewerkschaften, Teile der SPD und vor allem die Grünen die Abrüstungsproteste getragen. Heute lastete die Mobilisierung überwiegend auf den Schultern von Individuen – erfahrene und engagierte Kolleginnen und Kollegen, aber ohne das infrastrukturelle Rückgrat von Großorganisationen. Warum ist das so? Weil die relevanten Großorganisationen wie die SPD und die Grünen entweder längst ins Lager der Bellizisten gewechselt sind. Oder weil sie – wie im Falle der Partei Die Linke – noch um ihre Friedensposition ringen.

Vor diesem Hintergrund wirkten die vielen Demonstrationsangebote in diesem Friedensherbst eher zersplitternd als zusammenführend. Erst die Kundgebung des Bündnis Sahra Wagenknecht, das jenseits der klassischen Friedensproteste zu einer eigenen Aktion aufgerufen hatte. Dann die große „All eyes on Gaza“-Demonstration in Berlin, die bundesweit 100.000 Menschen mobilisierte. Und schließlich die Demonstration der traditionellen Friedensbewegung am 3. Oktober, die wohl am breitesten getragen schien und auch die größte thematische Spannweite hatte – von Ukraine über Gaza bis hin zu den Kriegsvorbereitungen der Bundesregierung. Vor dem Hintergrund ihrer strukturellen Schwäche muss die Friedensbewegung ein derartiges Vorgehen künftig vermeiden.

Gaza als Ausdruck des westlichen Abstiegsszenarios

Vor allem aber muss sie verstehen, warum die stärkste Mobilisierungsfähigkeit aktuell von der Palästina-Frage ausgeht. Sie ist Ausdruck der sich verändernden Weltbeziehungen. Die Dominanz der globalen Verhältnisse durch den Westen neigt sich dem Ende. Während der Norden gegen den ökonomischen Abstieg und den politischen Bedeutungsverlust ankämpft, wächst der Anteil des Südens an der Weltwirtschaft und führt zu einer Stärkung des politischen Selbstbewusstseins.

Der Genozid in Gaza ist nicht nur zum Lackmustest für die westlichen Werte geworden, sondern auch zum aktuell stärksten Ausdruck des Abstiegsszenarios des Westens. Und die westlichen Funktionseliten zeigen, wie weit sie bereit sind zu gehen, um den wachsenden Bedeutungsverlust aufzuhalten. Doch damit stoßen sie zunehmend auf Widerstand. Weltweit werden die Auswirkungen der neoliberalen Mobilisierung abgelehnt. Weltweit nehmen die Proteste und Revolten zu. Weltweit wächst die Zahl derjenigen, die in Solidarität und an der Seite der Menschen in Palästina stehen.

Im Süden demonstrieren sie, weil sie wissen, wie sich die Unterdrückung durch den Westen anfühlt. Im Norden, weil die Menschen spüren, dass die Weigerung eines palästinensischen Staates auch etwas mit ihnen zu tun hat: Es sind die gleichen Regierungen, die Israel unbeirrbar mit Waffen versorgen und den Genozid an den Palästinensern möglich machen, die auch sie mit Sozialabbau, Deregulierung und Rassismus niederzudrücken versuchen.

Aufgabe der Friedensbewegung

Wichtigste Aufgabe der Friedensbewegung muss es daher sein, ihre unterschiedlichen Teile zusammenzuführen und zu einer schlagkräftigen Manifestation auf der Straße zu bündeln. Der Frieden wird nicht einfach am Verhandlungstisch herbeiverhandelt werden können. Er muss vielmehr gegen die Bellizisten, Militaristen und Kriegstreiber durchgesetzt werden, denn die Lösung der systemischen Krise, die hinter der wachsenden Kriegsdynamik steht, erweist sich immer weniger als friedenskompatibel. Bekämpft werden muss nicht nur der Krieg selbst, sondern auch seine Auswirkungen – die wachsende Ungleichheit, die Privilegien weniger, der Demokratieabbau, der drohende Klimakollaps. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg!

Entscheidend wird dabei sein, dass es gelingt, die Arbeiterbewegung für diesen Weg zu gewinnen und aus der Umklammerung einer Regierung herauszulösen, die ihre Kriegsvorbereitungen über Austerität und Klassenangriffe finanziert. Die Generalstreiks in Italien in der vergangenen Woche haben gezeigt, dass das möglich ist. Ausgehend von den Dockarbeitern im Hafen hat sich eine Streikwelle Bahn gebrochen, die weite Teile des Landes erfasste. Möglich war das, weil zueinander fand, was zueinander gehört: die soziale und die Friedensfrage. So weigerten sich die Hafenarbeiter die Rüstungsgüter, die für Israel bestimmt waren, zu verladen – weil sie sich nicht zu Komplizen des Genozids machen lassen wollten, aber auch, weil die Arbeit an mit Sprengstoff gefüllten Containern elementare Fragen der Arbeitssicherheit aufwarf.

Fakt ist: Die Herrschenden kommen immer weiter in Bedrängnis. Keine Regierung kann es sich noch leisten, nicht über den Genozid in Gaza zu sprechen. Auch in Deutschland lehnen über 80 Prozent der Bevölkerung das verbrecherische Vorgehen Netanyahus ab. Diese Meinung muss einen Ausdruck in wirksamen Protesten finden, damit der Genozid gestoppt wird. Der 3. Oktober ebenso wie der 27. September waren dafür ein wichtiger Meilenstein, denn sie haben die gemeinsame Erfahrung geschaffen, dass wir mit unserer Sorge vor einer Ausweitung des Krieges nicht allein sind. Sie geben uns aber auch die Möglichkeit, Bilanz zu ziehen und abzuschätzen, wo die Friedensbewegung steht.

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