Der Sechstagekrieg zwischen Israel einerseits sowie Ägypten, Syrien und Jordanien andererseits begann am 5. Juni und endete am 10. Juni 1967. Seine Folgen wirken bis heute nach – als stetig wiederkehrende Kriege, die Besetzung ganz Palästinas durch Israel und den bis heute andauernden völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in den eroberten Gebieten. Unter Premierminister Benjamin Netanjahu hat die israelische Regierung ein Klima geschaffen, in dem das „Wort Frieden zum Schimpfwort mutierte“.
von Heiko Flottau
Als Bundesaußenminister Sigmar Gabriel Ende April anlässlich seines Antrittsbesuches in Israel auch Vertreter der NGOs Breaking the Silence und B’Tselem traf, kam es zum Eklat: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte kurzerhand ein geplantes Gespräch mit Gabriel ab. Er empfange „keine Diplomaten anderer Länder, die Israel besuchen und sich dabei mit Organisationen treffen, die unsere Soldaten Kriegsverbrecher nennen“.[1] Die 2004 gegründete Organisation Breaking the Silence veröffentlicht Erlebnisberichte israelischer Soldaten, die ihren Dienst in den besetzten Gebieten verrichten; B’Tselem deckt seit 1989 Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen und in der Westbank auf.
Offensichtlich will die Regierung Netanjahu – unmittelbar vor dem 50. Jahrestag des Sechstagekrieges – Debatten über die Folgen der israelischen Besatzungspolitik um jeden Preis verhindern. Der Sechstagekrieg zwischen Israel einerseits sowie Ägypten, Syrien und Jordanien andererseits begann am 5. Juni und endete am 10. Juni 1967. Seine Folgen wirken bis heute nach – als stetig wiederkehrende Kriege, die Besetzung ganz Palästinas durch Israel und den bis heute andauernden völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in den eroberten Gebieten.
Nassers Panarabismus
Krieg gebiert Krieg. Das ist die bittere Lehre, welche die nahöstliche Geschichte seit 1948 lehrt. Da die Gründung Israels in jenem Jahr ohne die Zustimmung der einheimischen Palästinenser die Landkarte im Nahen Osten nachhaltig und vor allem gewaltsam veränderte, war eine Reihe von Kriegen schon damals absehbar. Der erste zwischen Israel und Ägypten, Jordanien und Syrien begann gleich am 14. Mai, dem Tag der Staatsgründung. Er dauerte bis zum 24. Februar 1949.
Eine regionale Folge des Waffenstillstands von 1949 war der Staatsstreich einer Gruppe „freier Offiziere“, wie sie sich nannten, in Ägypten. In der Nacht vom 22. auf den 23. Juli 1952 schickten diese Militärs unter der Leitung von General Mohammed Naguib und Oberst Gamal Abdel Nasser den von Großbritanniens Gnaden regierenden König Farouk ins römische Exil.
Erste Konsequenz des Putsches: Oberst Nasser wurde zum Schöpfer eines neuen arabischen Nationalismus, des Panarabismus, unter dessen Banner er in den politischen Kampf gegen Israel und dessen Schutzpatron, die alte Kolonialmacht England, zog. In London wollte man dieser politischen Wende nicht tatenlos zusehen. Als ein Beamter des Foreign Office, Anthony Nutting, im März 1956 dem damaligen britischen Premierminister Anthony Eden riet, Nasser diplomatisch zu isolieren und dadurch zu schwächen, rief Eden ins Telefon: „Was soll all dieser Unsinn, Nasser zu isolieren oder ihn zu neutralisieren, wie Sie es nennen? Ich wünsche ihn ermordet, können Sie das nicht verstehen?“[2] Doch ein solcher Regimewechsel erwies sich als schwierig. Denn Nasser suchte für seinen Panarabismus auch internationale Stützpfeiler. Er fand sie in der Bewegung der sogenannten Blockfreien: Zusammen mit dem Jugoslawen Josip Broz Tito, dem Indonesier Sukarno, dem Inder Jawaharlal Nehru, dem Kubaner Fidel Castro und dem Chinesen Tschu-en-Lai sowie Delegierten aus insgesamt 23 asiatischen und sechs afrikanischen Staaten gründete er 1955 im indonesischen Bandung die Gruppe der Blockfreien, die weder dem Kapitalismus noch dem Kommunismus anhing. Israel stand nun einem international gestärkten Nasser gegenüber.
Und der ägyptische Präsident nutzte seine Chance. Im Oktober 1956 verstaatlichte der arabische Führer den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal; England, Frankreich und Israel intervenierten militärisch, Nassers Armee wurde geschlagen und Eden wähnte sich vor seinem Ziel. Doch der US-amerikanische Präsident Dwight Dean Eisenhower entzog den drei Aggressoren jedwede diplomatische Unterstützung.
Zeitgleich zur Suezinvasion schlug die Rote Armee den ungarischen Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzung des Landes nieder. Das brachte den Westen in ein Dilemma: Wie konnte er gegen das russische Eingreifen protestieren, wo er sich doch selbst im Nahen Osten auf Kriegspfad befand? Der erste Versuch, Nasser zu stürzen, war somit gescheitert. Nun mussten Israel und seine Alliierten auf eine zweite Chance warten.
Allerdings feierte Israel im Geheimen doch einen Erfolg – einen Erfolg, der das Land einst unverwundbar machen sollte: Schimon Peres, damals Generaldirektor des Verteidigungsministeriums, erhielt in den Verhandlungen, die zur Suez-Intervention führten, die Zusage seiner Verbündeten, beim Aufbau des israelischen Atompotentials behilflich zu sein.
Nasser versuchte derweil, den von ihm proklamierten Panarabismus mit Inhalt zu füllen – mit wechselndem Erfolg. Im Unabhängigkeitskrieg Algeriens gegen Frankreich (1954-1962) versorgte er die Aufständischen mit Waffen. Zum Menetekel indes wurde sein militärisches Engagement im jemenitischen Bürgerkrieg (1962-1970), in dem er zur Unterstützung der Republikaner gegen den zaiditisch-schiitischen Imam 20.000 ägyptische Soldaten schickte. Im Sechstagekrieg fehlten ihm viele dieser Soldaten – ein militärischer Nachteil, der maßgeblich zur arabischen Katastrophe im Juni 1967 beitrug.
Guerillakrieg gegen Israel: Jassir Arafat und die Fatah
Inzwischen formierte sich in der Region weiterer politischer und militärischer Widerstand gegen die durch die Gründung Israels geschaffene neue Ordnung. Im Oktober 1952 gründete Jassir Arafat zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen in Kuwait seine Fatah-Organisation. Sie setzte sich damals die Vernichtung Israels zum Ziel und begann einen Guerillakrieg gegen das Land. Guerilla-Attacken gegen Israel und Vergeltungsschläge des neuen Staates waren allerdings auch ohne Arafats Fatah schon damals an der Tagesordnung. Sie wurden zum Muster jener kriegerischen Konflikte, die schließlich zum Sechstagekrieg von 1967 führten. Anfang Oktober 1953 etwa fielen aus dem kleinen palästinensisch-jordanischen Ort Kibia palästinensische Rebellen nach Israel ein und töteten eine Mutter und ihre zwei Kinder. Die Vergeltungsaktion der Israelis fiel harsch aus: Unter dem Kommando von Ariel Scharon drangen israelische Truppen in Kibia ein und töteten 71 Palästinenser.
Von offizieller israelischer Seite wird der Sechstagekrieg bis heute als „Krieg der Selbstverteidigung“ (Menachem Begin) bezeichnet. Tatsächlich hatten die arabischen Staaten und die Palästinenser massive Truppenverbände an den israelischen Grenzen zusammengezogen und noch am 27. Mai 1967, also kurz vor Kriegsausbruch, verkündete Präsident Nasser, wiewohl er insgeheim um einen Ausgleich mit Israel bemüht war: „Unser grundlegendes Ziel ist die Vernichtung Israels. Das arabische Volk will kämpfen.“ Dennoch ging die israelische Führung nicht von einem bevorstehenden Angriff aus, sondern ergriff ihrerseits die Gelegenheit zum Krieg.
Einen entscheidenden Faktor bildete dabei das spannungsgeladene syrisch-israelische Verhältnis. Offizieller, von Israel propagierter Lesart zufolge waren es die Syrer, die Israel immer wieder von den angrenzenden Golanhöhen mit Artilleriefeuer angriffen. Den Vorhang vor dieser Darstellung lüftete ausgerechnet Moshe Dayan, während des Sechstagekrieges erstmals Israels Verteidigungsminister. Demnach hat das israelische Militär etwa 80 Prozent der syrischen Angriffe bewusst provoziert. In einem privaten Gespräch mit dem israelischen Journalisten Rami Tel gab Dayan im Jahre 1976 Folgendes zu Protokoll: „Wir [die Israelis, Anm. H.F.] haben gewöhnlich einen Traktor in die demilitarisierte Zone [der Golanhöhen] geschickt […], und wir wussten im Vorhinein, dass die Syrer schießen würden. Wenn sie nicht schossen, haben wir den Traktor weiter nach vorne beordert, und schließlich waren die Syrer so verärgert, dass sie schossen. Und dann haben wir unsere Artillerie und auch die Luftwaffe benutzt – und so war es.“[3] Der israelische Historiker Avi Shlaim zieht aus dieser Aussage den Schluss, dass „Israels Strategie der Eskalation an der syrischen Front“ vermutlich der „wichtigste Faktor“ gewesen sei, der den Mittleren Osten im Juni 1967 in den Krieg gezogen habe.
In der sich aufheizenden Atmosphäre im Frühjahr 1967 stieß Nasser an die Grenzen seiner Politik – und machte entscheidende Fehler: So forderte er etwa UN-Generalsekretär U Thant auf, die UN-Truppen (UNEF – United Nations Emergency Force) vom Sinai abzuziehen, schickte selbst jedoch weitere ägyptische Truppen auf die Halbinsel und schloss zudem die Straße von Tiran für die israelische Schifffahrt. Zwar war diese Blockade für Israel nicht lebensbedrohlich – alle seine Mittelmeerhäfen blieben weiterhin offen. Doch Nasser wusste um den psychologischen Effekt der Maßnahme: Israels Strategie war es immer gewesen, seinen Feinden seinen eigenen Willen aufzuerlegen und nicht auf einseitige Schritte dieser zu reagieren. „Indem er die Straße von Tiran für die israelische Schifffahrt schloss, ließ sich Nasser auf ein fürchterliches Spiel ein – und er verlor“, so Avi Shlaim. Im Grunde sei es Israel nicht um die Straße von Tiran gegangen, sondern um sein Überleben.[4] Diesen Reflex, durch den Holocaust tief in die jüdische Seele eingegraben, hatte Nasser allerdings nicht einkalkuliert.
1967: Die Geburt des politischen Islam
Am Kulminationspunkt der immer wieder aufbrechenden politischen und militärischen Konflikte sah Israel 1967 – neunzehn Jahre nach seiner Gründung – abermals eine große Chance gekommen, durch einen militärischen Schlag Nasser entscheidend zu schwächen. Am Morgen des 5. Juni 1967 vernichtete die israelische Armee – in einem völkerrechtlich zweifelhaften Präventivkrieg – die ägyptische Luftwaffe. Unter dem Befehl von Ariel Scharon eroberte sie zudem den Suezkanal und die Halbinsel Sinai, auch der arabische Ostteil Jerusalems wurde besetzt (und 1980 annektiert). Am 10. Juni war der Krieg zu Ende. Und anders als 1948/49, als die Araber ihre Niederlage gegen Israel ihren eigenen korrupten Regierungen anlasten konnten, war die Katastrophe von 1967 eine Niederlage der Araber selbst. Der von Nasser geschaffene arabische Nationalismus – dahin. Der von Nasser praktizierte Sozialismus arabischer Spielart – dahin. Nasser, der Herausforderer der alten Kolonialmächte England und Frankreich sowie des von ihnen geschaffenen Staates Israel, war zwar nicht, wie von Anthony Eden einst gefordert, getötet worden, aber politisch entscheidend geschlagen.
Letztlich war diese arabische Niederlage ein Erfolg der englischen Kolonialpolitik. Ihr war es gelungen, die arabische Welt nach dem Ersten Weltkrieg in kleine Parzellen einzuteilen: Irak, Syrien, Jordanien, Libanon, das Mandatsgebiet Palästina – alles Gebilde, die es bis dato nicht gegeben hatte. Diese Zerteilung und die mit ihr verbundene Übertragung des europäischen Nationalstaatsgedankens auf eine von Stämmen geprägte Region, die 1916 erstmals im englisch-französischen Sykes-Picot-Geheimabkommen geplant worden war, raubte den Arabern die Chance, sich in einem gemeinsamen Staat oder einem Staatenbund zu organisieren.
Noch gravierender war die Niederlage von 1967 für die arabische Psyche. Der palästinensische Nasser-Biograph Said K. Aburisch schreibt, die arabische Jugend sei nicht in Schützengräben untergegangen, in denen sie heroisch gegen die Kolonialmächte und gegen die Zersplitterung ihrer Heimat durch das Sykes-Picot-Abkommen gekämpft hätte. Im Gegenteil: „Sie wurde zu einer verlorenen Generation, weil sie ihre Ehre verlor und weil sie genauso [für die Niederlage] verantwortlich war wie ihre Führer und die Regierungen, an deren Spitze ihre Führer standen.“ Daher, so Aburisch, sei diese Niederlage „unerwartet in ihrer Totalität und betäubend in ihrer Proportion sowie seelenzerstörend in ihrer Auswirkung die größte Katastrophe der Araber im 20. Jahrhundert“.[5]
Letztlich war die Niederlage von 1967 auch die Geburtsstunde des politischen Islam. Nachdem alle europäischen Importideologien wie Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus im arabisch-muslimischen Kulturraum gescheitert waren, gewann das Schlagwort „Islam ist die Lösung“ – zu lesen an Taxis, Kleinbussen und Hauswänden – zunehmend an Zustimmung. Nachdem der Revolutionär und Geistliche Ajatollah Khomeini 1979 im Iran die Macht vom korrupten Schah-Regime übernommen und damit den anglo-amerikanischen Putsch gegen den iranischen Premierminister Mohammed Mossadegh von 1953 in sein Gegenteil verkehrt hatte, wurde der politische Islam endgültig zu einer festen Größe in der Region, aber auch auf der weltpolitischen Bühne.
Der Beginn des Siedlungsbaus
Die Besetzung des Westjordanlandes, Ostjerusalems und des Gazastreifens im Juni 1967 brachte erstmals das gesamte historische Palästina unter israelische Kontrolle. Der Staat Israel und die Bewegung des Zionismus standen vor der Frage, was zu tun sei mit den eroberten Gebieten. Der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad verhandelte unmittelbar nach dem Sieg mit palästinensischen Vertretern über die Zukunft der Gebiete. Die Empfehlung der Geheimdienstler: Israel solle unter der Kontrolle seiner Armee und in Übereinstimmung mit der palästinensischen Führung „einen unabhängigen palästinensischen Staat“ schaffen.[6] Die israelischen Autoren Idith Zertal und Akiva Eldar kommentieren diesen „revolutionären Vorschlag“, wie sie schreiben, mit den Worten, dass die Annahme dieses Ratschlages „die Geschichte Israels und des gesamten Mittleren Ostens“ in eine andere Richtung hätte lenken können. Aber, schreiben sie, „die Stimme der Klugheit und der Voraussicht“ der Mossad-Leute sei im „Geschrei und in der Euphorie jener Tage“ verloren gegangen.
Es war vor allem der Rabbi und Politiker Hannan Porat, der die Regierung drängte, an einem Ort wie Kfar Etzion südlich von Jerusalem eine Siedlung zu bauen – in Erinnerung an den 13. Mai 1948, dem Tag vor der offiziellen Gründung Israels. Damals fielen mehr als 129 Kämpfer der Haganah[7] sowie Kibbutzbewohner im Kampf gegen Palästinenser. Die Anhänger Hannan Porats, die dem national-religiösen Lager zuzuordnen sind, sahen den Sieg vom Juni 1967 als „Big Bang“, als Urknall, der dem religiösen Zionismus die Möglichkeit schenke, durch den Bau jüdischer Siedlungen in den eroberten Gebieten „am nächsten Schritt der Erlösung“ teilzunehmen.
[8]Frühzeitig setzte sich so der Gedanke ain den Köpfen israelischer Politiker fest, die eroberten Gebiete durch den Bau von jüdischen Siedlungen immer enger an Israel zu binden. Schon im September 1967 empfahl ein Komitee unter Leitung Schimon Peres’, rund um Jerusalem Siedlungen zu bauen. Auch sollten Orte, die man im Krieg von 1948/49 hätte verlassen müssen, darunter Hebron, neu besiedelt werden.
In Hebron wurde denn auch der Grundstein der israelischen Siedlerbewegung gelegt. Im Frühjahr 1968 verblieb eine Gruppe von Israelis unter Führung des Rabbi Moshe Levinger nach der Feier zum Pessachfest in Hebron. Im Vorfeld hatte sie dem palästinensischen Bürgermeister zugesagt, am Tag darauf wieder abzureisen. Doch dies geschah nicht. Stattdessen entstand oberhalb Hebrons die Siedlung Kirjat Arba. Sie wurde zu einem berüchtigten Ort: 26 Jahre später, am 25. Februar 1994, drang Baruch Goldstein, Siedler aus Kirjat Arba, in die Patriarchengruft von Hebron ein, ermordete 29 betende Palästinenser und verwundete 150 weitere. Goldstein wurde getötet, die Siedler von Hebron bauten ihm ein Heldendenkmal.
Der andauernde Bruch internationalen Rechts
Mit dem Bau der Siedlung Kirjat Arba begann ein Bruch internationalen Rechts, der bis heute fortdauert. Denn nach der vierten Genfer Konvention von 1949 ist es einer Besatzungsmacht nicht erlaubt, ein erobertes Gebiet mit eigenen Staatsangehörigen zu besiedeln. Da die „internationale Gemeinschaft“ diesen Bruch des Völkerrechts schon ein halbes Jahrhundert lang hinnimmt, wohnen heute in den 1967 eroberten Gebieten inklusive des arabischen Ostteils von Jerusalem etwa 500.000 Siedlerinnen und Siedler.
Ihre Wohnblöcke reichen weit in die besetzten Gebiete hinein, so dass die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates unmöglich ist – zumal diese Siedlungen über eine eigene, vom palästinensischen Umland unabhängige Infrastruktur verfügen. Nach Angaben des „Office for the Coordination of Humanitarian Affairs“ (OCHA), einer UN-Organisation, gab es bereits im Jahr 2008 im Westjordanland insgesamt 1.661 Straßen; sie verbinden viele der Siedlungen miteinander und führen oft direkt nach Jerusalem. Diese Straßen dürfen nur von Siedlern und deren Angehörigen benutzt werden. Zudem verfügen sie zu beiden Seiten über eine Pufferzone von bis zu 75 Metern, deren Betreten Palästinensern ebenfalls verboten ist. Zum Bau dieser „Nur-für-Israeli-Straßen“ wurden ungerechnet etwa 168 Quadratkilometer palästinensischen Landes konfisziert.
Um möglichst viel Land für Israel zu requirieren, wurden nach Angaben des „Israeli Committee Against House Demolitions“ – einer von Jeff Halper, einem aus New York eingewanderten Juden, gegründeten Organisation – seit 1967 knapp 50.000 palästinensische Häuser von den israelischen Behörden abgerissen.
In einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat vom 28. Dezember 2016 beklagte der damals noch amtierende US-Außenminister John Kerry, dass es in dem von Israel allein kontrollierten Teil des Westjordanlandes in den Jahren 2014 und 2015 nur eine einzige Baugenehmigung für Palästinenser gegeben habe; im selben Zeitraum dagegen seien Hunderte neuer Siedlungshäuser errichtet worden. Auch seien im Jahr 2016 1.300 Palästinenser, darunter 600 Kinder, durch Zerstörungen ihrer Häuser obdach- und heimatlos geworden. In seiner Rede fasste erstmals ein US-Außenminister die schreckliche Lage der Palästinenser so zusammen: „Derzeit leben 2,75 Millionen Palästinenser unter militärischer Besatzung. […] In ihren täglichen Bewegungen sind sie durch ein Netz von Kontrollposten erheblich eingeschränkt. Ohne israelische Erlaubnis dürfen sie in die Westbank weder ein- noch ausreisen. Wenn es nur einen [israelischen] Staat gäbe, würden Palästinenser in der Mitte der Westbank in voneinander getrennten Enklaven leben, ohne wirkliche politische Rechte […], unter permanenter militärischer Besatzung, die sie der fundamentalen Freiheiten berauben würde. […] Würde irgendein Israeli so leben wollen? Würde irgendein Amerikaner so leben wollen?“
Die Mauer und die Enteignung der Palästinenser
Wie schon in den Jahren von 1936 bis 1939, als die Palästinenser im sogenannten Großen Arabischen Aufstand gegen die jüdische Einwanderung und gegen die britische Mandatsmacht kämpften, riefen sie auch unter rein israelischer Besatzung zum Widerstand auf: in der ersten Intifada von 1987 bis 1993 sowie – nachdem die mit der PLO abgeschlossenen Friedensverträge von Oslo nicht zur Gründung eines eigenen Staates geführt hatten – von 2000 bis 2005.
Die politische Erfolglosigkeit der PLO führte zur Gründung radikalerer Widerstandsgruppen wie der Hamas und des Islamischen Dschihad. Um sich vor palästinensischen Selbstmordattentätern zu schützen – die etwa in der Stadt Netanja zwischen 1995 und 2005 siebzig israelische Zivilisten getötet und Hunderte verletzt hatten –, baute Israel einen Sperrwall. Aber auch er dient weiterer Landnahme und der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Palästinenser.
Während etwa die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland nur 314 Kilometer zählt, beträgt die Länge der Mauer etwa 700 Kilometer. Allein Städte wie der überwiegend von Palästinensern bewohnte Ostteil Jerusalems sind von rund 166 Kilometer Mauer umzingelt; die im Norden gelegene Stadt Qalqiliya ist vollständig von der Mauer eingekreist und nur durch einen Tunnel zu erreichen, dessen Zugang das israelische Militär leicht kontrollieren kann.
Für den Bau der Mauer wurden 35 Quadratkilometer palästinensischen Landes entschädigungslos enteignet. Von den insgesamt neun Millionen Olivenbäumen im Westjordanland sind gut eine Million nach dem Mauerbau nur noch schwer oder gar nicht für die palästinensischen Besitzer zugänglich. Knapp eine halbe Million Olivenbäume ließen die israelischen Behörden zwischen 2000 und 2005 fällen.[9]
Der Kampf gegen den palästinensischen Widerstand
In den fünf Jahrzehnten seit dem Sechstagekrieg von 1967 versuchten alle israelischen Regierungen, den palästinensischen Widerstand gewaltsam zu unterdrücken. Maßgeblich beigetragen zu dieser politischen und militärischen Unerbittlichkeit – so die tragische Ironie der Geschichte – hat der Mord an Premierminister Jitzchak Rabin am 4. November 1995. Der Täter, Jigal Amir, war ein kompromissloser Gegner der Rabinschen Friedenspolitik. Und die Kronzeugen für die Verschärfung der israelischen Politik nach dem Mord an Rabin sind keine anderen als die ehemaligen Direktoren des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet.
In dem Film „Töte zuerst“ des israelischen Dokumentarfilmers Dror Moreh[10] äußern sie sich über diesen Mord und über ihre militärischen Angriffe auf palästinensische „Terroristen“, wie sie sagen – etwa über die Ermordung von Hamas-Führer Scheich Jassin am 22. März 2004 und die Liquidierung des Bombenbauers Jahja Ajasch am 5. Januar 1995. Die Schlussfolgerungen, welche die Geheimdienstleute aus dieser Politik der Vergeltung ziehen, sind überraschend: Nach Jahren der Kriegführung gegen die Palästinenser räumen die Interviewten ein, dass all ihre Gewalt zu keiner friedlichen Lösung geführt habe. Mehr noch: Der Mord an Rabin durch einen radikalen Siedlerfreund wie Jigal Amir habe allmählich zu immer größerer Unnachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern geführt.
So gibt Ami Ajalon (Schin-Bet-Chef von 1996 bis 2000) zu Protokoll: „Im Nachhinein hat das meine ganze Welt verändert. Plötzlich sah ich Israel mit anderen Augen. Mir war das ganze Ausmaß von Hetze und Hass gar nicht bewusst gewesen. Die Kluft in unserer Gesellschaft, wie wir unsere Zukunft sehen, […] oder warum wir überhaupt hierhergekommen sind.“ Ähnlich sieht es Ajalons Nachfolger, Avi Dichter. Er war von 2000 bis 2005 Direktor des Schin Bet und ist überzeugt, dass der israelische Ansatz, palästinensischen gewaltsamen Widerstand mit Ermordung der Anführer zu beantworten, nichts als weitere Aufstände provoziert: „Es lief klar auf eine neue Intifada hinaus, auf den Aufstand eines Volkes, das glaubt, es habe nichts mehr zu verlieren.“ Und Dichter fügt hinzu: „Wir wollen Sicherheit und bekommen Terror, sie wollen einen Staat und sehen immer mehr Siedlungen.“ Karmi Gillon, Schin-Bet-Direktor von 1994-1996, fordert daher ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern: „Israel kann sich den Luxus nicht leisten, nicht mit dem Feind zu reden.“
Eine Geschichte verpasster Chancen
Wie oben bereits festgestellt, hatte der Auslandsgeheimdienst Mossad schon unmittelbar nach dem Sechstagekrieg die Gründung eines palästinensischen Staates empfohlen. Knapp ein halbes Jahrhundert später forderte auch der Inlandsdienst Schin Bet, Israel müsse mit seinen Feinden sprechen. Die Oslo-Verträge zwischen der PLO und Israel von 1993 und 1995 weckten zwar vorübergehend die Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Aber, wie Ami Ajalon sagt, der Mord an Jitzchak Rabin habe die israelische Haltung massiv verschärft: „Ein kleiner elender Angreifer mit einer kaum tauglichen Pistole“ habe alle Hoffnungen auf eine politische Wende zunichtegemacht.
Selten in der Geschichte hat die überlegene Partei politisch klug gehandelt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte sich der Westen zum Sieger der Geschichte, sprach vom „Triumph westlicher Werte“[11] – und verpasste so die Chance, zusammen mit dem Unterlegenen ein gemeinsames Sicherheitssystem in Europa aufzubauen. Stattdessen dehnte man die Nato bis zur russischen Grenze aus. Ähnlich kurzsichtig handelte Israel: 1967 ging der weise Ratschlag, einen palästinensischen Staat zu gründen, in der blinden Euphorie des Sieges unter. Heute, fünfzig Jahre später, ist in Israel eine Regierung an der Macht, die ihre militärische Überlegenheit dazu nutzt, das gesamte historische Palästina unter israelische Kontrolle zu bringen, die Palästinenser in winzigen Enklaven zu isolieren und damit einen israelischen Staat zu schaffen, der Parallelen zum einstigen südafrikanischen Apartheidstaat und dessen Bantustans aufweist.
Doch auch Besatzung ist Gewalt. Und Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das ist das fatale Muster des vergangenen halben Jahrhunderts. Indem Israel erst allmählich, dann immer schneller das eroberte palästinensische Land besiedelte, hat es den Sechstagekrieg von 1967 mit Landenteignungen, Bulldozern, Kränen, Betonmischern bis heute fortgesetzt. Und eine Aussicht auf Entspannung gibt es derzeit nicht. Die israelische Regierung leistet sich den „Luxus“, nicht mit dem Feind zu reden. Stattdessen hat sie unter Premierminister Benjamin Netanjahu ein Klima geschaffen, in dem das „Wort Frieden zum Schimpfwort mutierte“.[12] Damit ist die Region – 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg – von einem Frieden weiter entfernt denn je.
Dieser Artikel von Heiko Flottau erschien zuerst in der Juni-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, online hier verfügbar. Die Freiheitsliebe bedankt sich vielmals bei den Blättern und natürlich bei Heiko Flottau für das Recht zur Übernahme des Artikels – connect critical journalism!
Anmerkungen und Quellen:
[1] Vgl. www.zeit.de, 28.4.2017.
[2] Das berichtet die britische Historikerin Alex von Tunzelmann in ihrem 2016 erschienenen Buch „Blood and Sand. Suez, Hungary and Eisenhower‘s Campaign for Peace“.
[3] Avi Shlaim, The Iron Wall. Israel and the Arab World, London 2000, S. 235.
[4] Avi Shlaim, a.a.O., S. 237 f.
[5] Said K. Aburisch, Nasser – The Last Arab, New York 2004, S. 249.
[6] Idith Zertal und Akiva Eldar, Lords of the Land. The War over Israel‘s Settlements in the Occupied Territories, 1967-2007, New York 2007, S. 7.
[7] Die Haganah war eine zionistische paramilitärische Untergrundorganisation in Palästina während der Zeit des britischen Mandats (1920-1948).
[8] Vgl. Zertal-Eldar, a.a.O. S. 4 f., S. 7 f.
[9] Saree Makdisi, Palästina. Innenansicht einer Belagerung, Hamburg 2011, S. 55. Makdisi, libanesisch-palästinensischer Herkunft, ist in den USA als Literaturkritiker und als Kommentator arabischer Politik tätig.
[10] Originaltitel „The Gatekeepers“, 2012. Koproduktion von Arte-Frankreich u.a. mit dem NDR.
[11] Bernd Stöver, United States of America – Geschichte und Kultur. Von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart, München 2013, S. 520.
[12] Peter Münch, Kollision mit Bibistan, in: „Süddeutsche Zeitung“, 26.4.2017, S. 4.
(aus: »Blätter« 6/2017, Seite 73-81)
Themen: Naher & Mittlerer Osten, Geschichte und Krieg und Frieden