Der 16. April 1945 war ein kühler Tag. Die Temperaturen überstiegen keine 10 Grad. Der Himmel war zumeist bedeckt.
An diesem Tag begann die Schlacht um Berlin. Der Krieg, den Deutschland begonnen und im Osten als Vernichtungskrieg geführt hatte, kehrte als Bumerang an seinen Ursprung zurück. Schon drei Monate zuvor hatten die Zivilistinnen in Ostpreußen hierfür den höchsten Preis aller Deutschen entrichtet.
Die Schlacht um Berlin war verloren, noch ehe sie begann. Mehr noch: Den Durchhalteparolen der Nazis oder Durchhaltefilmen wie Veit Harlans „Kolberg“ zum Trotz war der Krieg schon seit Monaten verloren. Er war verloren gewesen, als am 12. Januar die Ostpreußen-Offensive der Roten Armee begann, die die östlichste deutsche Provinz binnen kürzester Zeit einkesselte. Verloren auch bereits mit den Schlachten von Stalingrad 1942/43 und am Kursker Bogen im Sommer 1943 besiegelt. Schon mit dem Scheitern der Offensive vor Moskau im Winter 1941 hatte sich gezeigt, dass ein Sieg im „Russlandfeldzug“, den 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger mit dem Leben bezahlten, darunter 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten, undenkbar geworden war. Die eigentliche Niederlage lag indes zwölf Jahre zurück: Das Scheitern, den Sieg des Faschismus und die Machtübergabe an Hitler und seine Koalition mit den Konservativen zu verhindern. In seiner „Kriegsfibel“ dichtete Bertolt Brecht:
„Ihr Brüder, hier im fernen Kaukasus/ Lieg nun ich, schwäbischer Bauernsohn, begraben/ Gefällt durch eines russischen Bauern Schuß./ Besiegt ward ich vor Jahr und Tag in Schwaben.“
Die Schlacht um Berlin zögerte das Unvermeidliche hinaus, verlängerte Kriegsmorden, den Holocaust und die Endphaseverbrechen der Nazis, mit denen diese einer Nachkriegsrevolution wie jener nach dem Ersten Weltkrieg vorbeugen wollten, indem sie ihre Gegner systematisch ermordeten. Hunderttausende bezahlten all das mit ihrem Leben; Hunderttausende in den Konzentrationslagern und Gestapogefängnissen ersehnten die Befreiung, die auch für viele Städter durchaus eine Befreiung vom Bombenkrieg war.
Die Befreiung aber kam von außen. Schon 1919, nach dem bis dahin letzten Weltkrieg, hatte Kurt Tucholsky mit Blick auf das Wiedererstarken des deutschen Militarismus in seinem Gedicht „Das Heil von außen“ prophezeit:
„Was wir bereits gestorben glaubten,/ ist, hols der Teufel, wieder da:/ die alten achselstückberaupten/ Kommis der Militaria (…)/ Und haben wir den Krieg verloren:/ die Herren, silberig besternt,/ verschließen ihre langen Ohren –/ sie haben nichts dazugelernt./ Und nur ein Friede kann uns retten,/ ein Friede, der dies Heer zerbricht,/ zerbricht die alten Eisenketten –/ der Feind befreit uns aus den Kletten./ Die Deutschen selber tun es nicht.“
Die Reichshauptstadt Berlin bildete Ground Zero des Kriegsendes. An die Stelle der geplanten Nazi-Hauptstadt Germania rückte hier die ungeplante Hitler-Architektur einer untergegangenen Metropole, deren klassische Blockbebauung über Jahrzehnte aussehen würde wie das Gebiss eines bemitleidenswerten Obdachlosen. Und obdachlos wurden Hunderttausende. Berlin gehört neben Warschau, Stalingrad, Rotterdam und Dresden zu den meistzerstörtesten Städten des 2. Weltkriegs.
1. Das Vorspiel: Flächenbombardements
Die Zerstörung Berlins hatte mit den Flächenbombardements der Alliierten begonnen. Die verheerendsten Bombardements fanden am 3. und 26. Februar 1945 statt, bei denen 939 beziehungsweise 1.184 Flugzeuge jeweils weit über 2.000 Tonnen Spreng- und Brandbomben über den Innenstadtbezirken abwarfen. Fünfeinhalb Jahre zuvor hatte Hermann Göring noch in einer Rundfunkrede gesagt, er wolle Meier heißen, sollte auch nur ein feindliches Flugzeug über dem Himmel von Berlin auftauchen. Jetzt kamen allein am 3. Februar innerhalb des nur 50-minütigen Bombardements bis zu 50.000 Berlinerinnen und Berliner, Kriegsflüchtlinge und Zwangsarbeiter ums Leben. Allein in den Kellergewölben des U-Bahnhofs Weberwiese, wo die Menschen Schutz gesucht hatten, starben in kürzester Zeit mehrere Hundert, weil der U-Bahnhof unter der Bombenlast zusammenbrach. Spaziert man heute etwa über den Georgen-Parochial-Friedhof an der Friedenstraße, findet man viele der Opfer, darunter viele Kinder, die heute alle um die 80 Jahre alt wären. Insgesamt verloren an diesem Tag 120.000 Menschen ihre Wohnung.
Die Flächenbombardements wurden fast ausschließlich von britischen und US-Luftstreitkräften ausgeführt. Die sowjetische Luftwaffe war im Blitzkrieg der Nazis fast vollständig zerstört worden und nachdem sie wiederhergestellt wurde, diente sie eher dem Transport. Die Bombardierten lernten die Amerikaner und Briten dadurch zu unterscheiden, dass jene nachts und diese tagsüber flogen.
In Berlin waren es wiederum die Arbeiterbezirke, die am meisten litten. Die Alliierten bombardierten sie besonders, weil sie zum einen daraufsetzten, dass die – historisch gegen die Nazis stehenden – Arbeiter angesichts der Bedrängungen durch den Bombenkrieg einen Volksaufstand nach dem Vorbild der Revolution von 1918/19 durchführen würden und zum anderen, weil hier auch die Rüstungs- und Munitionsfabriken standen.
Wer heute die Karl-Marx-Allee bestaunt, die im Rahmen des Nationalen Wiederaufbaus der DDR entstand und vor dem Berliner Mietendeckel internationalen Immobilienspekulanten als letzter europäischer Boulevard angepriesen wurde, sollte sich überlegen, was hier vorher stand: Die alte Große Frankfurter Straße mit imposanten Bauwerken wie der Kirche St. Markus. Die Große Frankfurter wurde besonders stark zerstört, weil sie den Alliierten als Bodenmarkierung und -orientierung in Richtung Stadtmitte diente. Von hier flogen die Flugzeuge außer Reichweite der Flak-Geschütze bis zum Alexanderplatz. Zugleich wurde das Gebiet nördlich der heutigen Frankfurter und Karl-Marx-Allee besonders stark getroffen, weil man bei Oranienburg Hitlers Werkstätten für die Atombombe vermutete.
„Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen“, sang Hildegard Knef 1966. Tatsächlich aber dominierten auch seinerzeit noch die Zahnlücken, die vielfach erst heute in Gestalt von Baulückenschließungen durch mehr oder weniger goldene Zähne gefüllt werden.
Der Ostberliner Arbeiter John Stave erlebte den 3. Februar im Keller seines Arbeitsplatzes in der Wassertorstraße: „Plötzlich erfüllt ein Sirren die Luft. Ein Pfeifen ist es nicht, auch kein Zischen. Und dann sieht man die silbernen Punkte, wohlgeordnet gestaffelt, sich deutlich vom Himmelsblau abheben. Los, untertauchen! Hier im Keller hat das große Hangen und Bangen angefangen. Sind wir wirklich eingeschlossen? Soll das das Ende sein? So klanglos? Ob man vorher ohnmächtig wird? Oder ob man einfach losbrennt? Ob dann alle schreien?“ Der Schriftsteller Johannes R. Becher, der lange an der Warschauer Brücke im Berliner Osten gewohnt hatte, dichtete in „Bombenkeller“:
„So fuhren sie dahin, als wär’s ein Wagen,/ Darin die Koffer sich und Schachteln stauten./ In Decken und in Mänteln eingeschlagen,/ So fuhren sie, und ihre Augen schauten/ Im Dunkel aus, um nach der Zeit zu fragen,/ Und draußen pochte es mit dumpfen Lauten,/ Bis sie so tief im Schlaf daniederlagen,/ Daß atemlos sie schwiegen und ergrauten./ In Decken und in Mänteln eingemummt,/ Sie hielten sich noch fest an ihren Sachen,/ Als würden sie ein jedes Stück bewachen,/ Und haben manchmal auch im Schlaf genickt./ Die Hände aber lagen wie verstummt./ So fuhren sie dahin, im Schlaf erstickt.“
Den Glücklichen, die aus den Bombenkellern wieder hervorzukriechen vermochten, bot sich ein Bild, wie Stave es beschreibt: „am Ende des schwarzen Hausflurs das Flammenmeer. Eine einzige rote Wand. Die Hitze verschlägt einem den Atem. Und ich laufe. Ich laufe, so schnell ich kann. Immer geradeaus. Ich laufe schnell, aber es kommt mir unheimlich langsam vor. Wie in einem Alptraum. – Ich laufe durch eine Unwelt. Sie ist nur rot. Und heiß. Und rot. Und heiß. Ich glaube, ich kann nicht mehr atmen“.
„Berlin“, so schreibt der Berliner Schriftsteller und Autor der als Dokumentarroman verfassten Kriegstrilogie „Moskau – Stalingrad – Berlin“ Theodor Plivier, „blutete aus tausend Bränden. Wo der Rauch den Blick eine freie Fläche öffnete, zeigten sich unter den Tragflächen der Maschine in Quadrate und Reihen geordnete und von der Schwärze des Brandes überzogene Steinskelette. Keine Dächer mehr – und die Unterteilungen in Etagen waren verschwunden“. Der Betrachter am Boden bekam „fensterlose Fassaden“ zu sehen, die „im Schein der Detonationen aufleuchteten“. Das alles hätte er schon einmal gesehen, (…) „vor zwei Jahren im Osten (…). Die umkämpfte Stadt vor zwei Jahren hieß Stalingrad, diese hier Berlin“. Bertolt Brecht dichtete in seiner „Kriegsfibel“:
„Das sind die Städte, wo wir unser Heil!/ Den Weltzerstörern einst entgegenröhrten./ Und unsre Städte sind auch nur ein Teil/ Von all den Städten, welche wir zerstörten.“
Die Bombardierung vom 3. Februar machte nicht nur auch den Allerletzten klar, dass der Krieg endgültig verloren war und ein Hoffen auf Hitlers „Wunderwaffe“ sinnlos. Sie war auch ein Symbol. Am Tag darauf begann die achttägige Konferenz von Jalta, auf der Winston Churchill, Franklin Delano Roosevelt und Josef Stalin die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen beschlossen. Gut eine Woche zuvor, am 27. Januar, hatte die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz befreit und fünf Tage zuvor, in den frühen Morgenstunden des 31. Januar bei Kienitz im Oderbruch die letzte natürliche Barriere vor Berlin überquert und hier einen Brückenkopf gebildet – bis Berlin waren es jetzt nur noch 70 Kilometer Luftlinie. Und zwei Tage nach Abschluss der Konferenz von Jalta, als die Rote Armee auf ganzer Länge bis zur Oder vorgerückt war, fand in der Nacht vom 13./14. Februar die Dresden-Bombardierung mit Phosphorbomben statt, die einen Feuersturm auslösten. Von diesem blieb wenigstens Berlin verschont; und trotzdem: wenn man heute vom Halleschen Tor aus die Wilhelmstraße, Kochstraße und Oranienstraße entlangläuft, kann man sehen, wie dramatisch die Zerstörungen waren.
Der zweite Teil des Beitrags erscheint morgen.
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