Mit Blick auf die von ihm geplanten Massenmorde fragte Hitler am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“
Der Völkermord an den Armeniern war einer der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts. Er geschah während des Ersten Weltkrieges unter Verantwortung der Regierung des Osmanischen Reichs. Bei den von Türken und Kurden mit Duldung durch das verbündete Deutsche Reich verübten Massenmorden und Todesmärschen 1915 und 1916 kamen etwa 1,5 Millionen Menschen um.
Wer die aktuellen Entwicklungen in der Türkei verstehen will, muss sich auch mit dieser Geschichte auseinandersetzen.
von Bernd Drücke
Bis heute wird der Genozid an den Armeniern von den Herrschenden in der Türkei geleugnet. Wer diesen Massenmord als Völkermord bezeichnet, macht sich in der Türkei strafbar und muss mit Repression rechnen. Kurz nachdem ich 1993 mit einer Menschenrechtsdelegation durch das türkisch-kurdische Kriegsgebiet reiste (1), wurde unsere deutsch-kurdische Dolmetscherin Nilüfer in der Türkei verhaftet. Sie wurde gefoltert und kam erst nach einer internationalen Protestkampagne frei, an der sich auch die damalige CDU-Politikerin Rita Süssmuth, der Rektor der Uni Bremen und der Bremer Bürgermeister beteiligten. Sie berichtete anschließend, dass einer ihrer Folterer damit geprahlt hat, dass er in Deutschland in „modernen Verhörmethoden“ ausgebildet worden sei. Während der Folterungen und Scheinhinrichtung wurde Nilüfer als „armenische Schlampe“ beschimpft.
Für türkische Faschisten sind Armenier das, was für deutsche Nazis Juden sind: „Untermenschen“, die man aus faschistischer Sicht demütigen und töten darf.
Worin sich türkische und andere Faschisten einig sind, ist zudem ihr Hass auf Homosexuelle. Nachdem das Internetportal MünsterTube am 24. Januar 2018 ein Statement von mir zum Afrin-Krieg veröffentlicht hat (siehe auch hier und hier), kommentierte das der homophobe „Graue Wolf“ Orhan Göksoy wie folgt:
„Ich hoffe diese Terroristen löschen deine ganze Familie aus damit ihr SCHWUCHTELN merkt das das ein Angriff auf Terroristen gerichtet ist. Du bist nur ne Lachnummer.“ [Original]
Wer, wie der türkische Staat, die Geschichte des Genozids an den Armeniern leugnet, der droht indirekt auch mit weiteren Massakern. Seit vielen Jahren richtet sich diese türkisch-nationalistische Drohung vor allem gegen Kurden und Eziden.
Am 20. Januar 2018 begann der unter anderem mit Leopard-2- Panzern aus deutscher Produktion geführte Angriffskrieg der türkischen Armee gegen den bis dahin vom Krieg in Syrien weitgehend verschonten Kanton Afrin in Rojava/Nordsyrien. Afrin ist ungefähr so groß wie das Saarland. Hier leben unter kurdischer Selbstverwaltung etwa 800.000 Menschen, davon viele Eziden und etwa 400.000 Geflüchtete aus den syrischen Kriegsgebieten.
Unter Verhöhnung eines bekannten Friedenssymbols nennt das türkische Regime seinen Bombenterror „Olivenzweig Offensive“. Die türkische Armee wird bei dieser Invasion von Dschihadisten und Söldnern der sogenannten „Freien Syrischen Armee“ unterstützt. Tatsächlich wird bei diesem gegen die basisdemokratische Selbstverwaltung in Afrin gerichteten Angriffskrieg eine Symbiose aus extremem Nationalismus und Islamismus sichtbar. Auf Fotos zeigen türkische Soldaten sowohl den faschistischen „Wolfsgruß“ der „Grauen Wölfe“ als auch „Rabia“, das islamistische Handzeichen (siehe Titelbild dieses Artikels, Original). Diese Symbiose kommt nicht von ungefähr. Das AKP-Regime hat eine in der früher laizistischen Türkei unvorstellbare Islamisierung vorangetrieben, schreckt aber auch nicht davor zurück den extremen Nationalismus, wie er auch von der faschistischen MHP verbreitet wird, zu füttern. Erdoğan träumt von der Wiederauferstehung des Osmanischen Reiches unter seiner Führung. Er sieht sich als Sultan in der Tradition derjenigen, die auch den Genozid an den Armeniern zu verantworten haben.
Dafür braucht er eine gleichgeschaltete Presse, eine willfährige Justiz, sowie deutsche Panzer und andere Waffen. Die 400 Leopard-1-Panzer und 352 Leopard-2-Panzer, die Deutschland in den letzten Jahren seinem NATO-Partner verkauft hat, sind nur die Spitze des Eisbergs. Das AKP-Regime plant u.a. den Bau einer deutschtürkischen Rheinmetall-Fabrik, in der direkt in der Türkei über 1000 Panzer (für weitere Invasionspläne) gebaut werden sollen. Die Türkei unterhält nach den USA die zweitgrößte NATO-Armee, die insbesondere für die Kurden in der Türkei und Syrien eine existentielle Bedrohung darstellt.
Türkische Nationalisten hetzen für den Krieg: „Syrien soll brennen, Afrin soll zerstört werden“
Durch die Bodenoffensiven und Luftangriffe sind seit Beginn der Invasion bereits Hunderte Menschen, vor allem Frauen und Kinder, ums Leben gekommen und verletzt worden. Tausende Menschen wurden traumatisiert und sind auf der Flucht.
Abgesehen von der linken kurdischen HDP unterstützen dennoch alle Parteien des türkischen Parlaments diesen Angriffskrieg. Durch die vom Regime weitgehend gleichgeschalteten Medien wird ein extremer Nationalismus und Hass auf die kurdischen „Terroristen“ propagiert. Ismail Küpeli beschreibt im Neuen Deutschland vom 13.2.2018:
„Wer in einer solchen politischen Atmosphäre dennoch versucht, Kritik am Krieg zu üben, muss mit einer Festnahme oder sonstigen repressiven Reaktionen rechnen. Das türkische Innenministerium gab jetzt bekannt, dass 474 Menschen wegen kritischen Äußerungen in Sozialen Medien und 192 Menschen bei Protesten gegen den Krieg festgenommen wurden. Selbst sehr zurückhaltende Kritik am Krieg, wie etwa die Äußerung der Ärztevereinigung TBB, dass der Krieg ein ‚Problem für die öffentliche Gesundheit‘ sei, führte zu der Festnahme der Führungsspitze der TBB. Inzwischen wird über die Zerschlagung der TBB debattiert und der Verband als ‚antitürkisch‘ diffamiert.“
Umfragen zu folge, begrüßen angeblich über 80 Prozent der türkischen Bevölkerung die Militäroperation.
Der Politikwissenschaftler Küpeli beschreibt wie in den Sozialen Medien Kampagnen initiiert werden, die dazu dienen, sich mit den türkischen Soldaten zu solidarisieren und die in Afrin lebenden Menschen als „Terroristen“ zu verunglimpfen.
In den letzten Tagen habe sich herausgestellt, dass die türkische Armee bei der Afrin-Offensive deutlich höhere Verluste erleide, als bisher bekannt gegeben. Daraufhin sei eine Social-Media-Kampagne ins Rollen gekommen, die den Glauben an eine Bevölkerungsmehrheit, die eigentlich gegen den Krieg sei, erschüttere. Küpeli: „Das Kampagnen-Hashtag #YansınSuriyeYıkılsınAfrin (‚Syrien soll brennen, Afrin soll zerstört werden‘) erreichte auf Twitter weltweit Platz zwei und blieb in der Türkei recht lange stabil auf Platz eins. Eine der häufigen Forderungen bei dieser Twitter-Kampagne ist: ‚Taş üstünde taş omuz üstünde baş kalmamalı‘ (‚Keinen Stein auf dem anderen, keinen Kopf auf den Schultern lassen‘); also die totale Zerstörung und Tötung aller Menschen in Afrin.
„Wenn solche Forderungen nach Massenmord so breit öffentlich akzeptiert werden, dann fehlt nicht viel bis zum Genozid.“
Wer darauf setze, einen gerechten und nachhaltigen Frieden in der „kurdischen Frage“ zu erreichen, müsse sich laut Küpeli mit dem zentralen Problem auseinandersetzen, dass derzeit in der türkischen Bevölkerung keine Mehrheit für einen Frieden existiert.
„Vielmehr erstarken jene Stimmen, die Tod und Vernichtung fordern – wieder einmal, wie vor 100 Jahren. Ziya Gökalp, der Chefideologe der türkischen Nationalisten, dichtete 1912: ‚Kein Stein soll auf dem anderen liegen, warte nicht, zerschlag sie. Mit [abgeschlagenen] Köpfen sollen die Wege geebnet werden Vergiss nicht, du bist der Sohn von Attila [Herrscher der Hunnen]‘
„Drei Jahre später folgte der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich unter der Führung türkischer Nationalisten. (…) Den Weg dorthin haben auch solche Texte geebnet.“
Es sei sicher kein Zufall, dass das Gedicht von Ziya Gökalp jetzt immer wieder unter dem Hashtag #YansınSuriyeYıkılsınAfrin („Syrien soll brennen, Afrin soll zerstört werden“) zitiert wird, so Küpeli. „Die Ideologie, die für die Taten damals verantwortlich war, ist nicht verschwunden. Sie wirkt auch heute und ebnet wieder den Weg für Tod und Vernichtung.“
Krieg gegen Frauen
Die feministisch-pazifistische Kampagne „Frauen und Frauenorganisationen für einen Frieden in Afrin/Nordsyrien“ schreibt in einer der GWR vorliegenden Presseerklärung (2) vom 23. Februar 2018, dass die Türkei – wie in all ihren Angriffen gegenüber der kurdischen Bevölkerung und Andersdenkenden – psychologisch wie militärisch einen besonderen Krieg gegenüber Frauen und Mädchen führe: „So wurde Barîn Kobanê, die in die Hände der türkischen Armee und ihrer Verbündeten fiel, von Mitgliedern jihadistischer Truppen gefoltert, ihre Brüste abgeschnitten und ihr entblößter Leichnam durch Videoaufnahmen auf sozialen Medien verbreitet.“
Mittlerweile habe die Türkei auch angefangen, andere Städte Nordsyriens anzugreifen. Neben ZivilistInnen würden vor allem auch kulturelle und historische Stätten bombardiert wie Kirchen, Moscheen, heilige ezidische Stätten oder die über 3000 Jahre alte hethitische Tempelanlage Ain Dara. Zudem würden tausende Olivenbäume, die ein Symbol und die Lebensgrundlage der Region sind, durch den Besatzungsversuch zerstört.
Insbesondere seien ezidische Dörfer nahe der türkischen Grenze von den Angriffen betroffen: „Die ezidische Gemeinschaft betrachtet diesen Angriff als einen weiteren Genozid, den somit 74. in ihrer Geschichte. Der 73. Genozid vom 3.8.2014 in Shengal dauert, auch laut einem UN Bericht, noch an. Dabei wurden hunderte EzidInnen hingerichtet, Tausende Frauen und Kinder verschleppt. Von vielen von ihnen fehlt bis heute jegliche Spur. Die Bundesregierung schweigt zu den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei.“ Der Bundesrepublik komme aufgrund ihrer politischen Rolle in der EU und der internationalen Gemeinschaft, durch ihre langjährige Partnerschaft mit der Türkei eine besondere Verantwortung zu, so die Feministinnen.
Frauen hätten sowohl den Kampf gegen den IS angeführt, als auch in der Arbeit zur Stabilisierung der Gesellschaft eine Vorreiterinnenrolle gespielt.
„Sie haben hunderte von Ezidinnen, tausende Frauen und Kinder aus der IS-Gefangenschaft befreit oder davor bewahrt und sind zum Symbol des Widerstandes geworden. (…) Sie haben Versorgungssysteme für Flüchtlinge und von Armut betroffene Familien eingerichtet, ein Bildungssystem, eine Gesundheitsversorgung und Frauenkooperativen aufgebaut.“
All dies könne mit dem Angriff der Türkei auf Nordsyrien wieder zerstört werden, so die Pazifistinnen: „Es drohen ein Genozid und die Zerstörung von Lebensbedingungen, die Menschen in die Flucht zwingen werden.“
Die GWR-nahe Pazifistin Dorothee Sölle (1929-2003) bleibt aktuell: „Frei werden wir erst, wenn wir uns mit dem Leben verbünden gegen die Todesproduktion und die permanente Tötungsvorbereitung. Frei werden wir weder durch Rückzug ins Private, ins ‚Ohne mich‘, noch durch Anpassung an die Gesellschaft, in der Generäle und Millionäre besonders hochgeachtet werden. Frei werden wir, wenn wir aktiv, bewusst und militant für den Frieden arbeiten lernen.“
Anmerkungen
(1) Siehe: Bernd Drücke: Serxwebun! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans, Edition Blackbox, Bielefeld 1998.
(2) Die ungekürzte Presseerklärung erscheint voraussichtlich auf www.graswurzel.net/news
Dieser Artikel von Bernd Drücke ist der Graswurzelrevolution Nr. 427, März 2018, entnommen und erschien im Netz zuerst auf Linksnet.
Die Freiheitsliebe bedankt sich recht herzlich bei allen Beteiligten für die tolle Arbeit und sendet die besten Grüße nach Münster zu Bernd und das Team der Graswurzelrevolution – connect critical journalism!