Ein Meilenstein für die gewerkschaftliche Debatte

Das Gewerkschaftshaus in Salzgitter war bis auf den letzten Platz besetzt, als Mitte Juli die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die IG Metall Salzgitter-Peine zur inzwischen dritten „Gewerkschaftskonferenz für den Frieden“ einluden. Mit 250 auffallend jungen Teilnehmenden vor Ort und über 1.000 im Stream war sie auch in diesem Jahr ein nachgefragter Ort nach gewerkschaftspolitischer Debatte und Orientierung. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Stimmung war gut, die Debatten auf einem hohen Niveau – und die Konferenz muss – in aller Bescheidenheit – als Meilenstein für die gewerkschaftliche Debatte über Krieg und Frieden eingeordnet werden.

Kriegsvorbereitung und ihre Auswirkung auf die Welt der Arbeit

Eine große Stärke der Konferenz war ohne Zweifel, dass sie thematisierte, wie sich das Niveau der Militarisierung in den letzten drei Jahren verändert hat. Die Zeit des behäbigen Zeitenwendeumbaus sei vorbei, hieß es. Die Militarisierung unseres Alltags durch Bundeswehrwerbung auf Straßenbahnen, Pizzakartons oder auf Brötchentüten sei harmlos im Vergleich zu dem, was uns nun erwartet. Unbegrenzte kreditfinanzierte Aufrüstung einerseits und ein Finanzierungsvorbehalt für den Sozialstaat andererseits würden Verteilungskonflikte anheizen und die Bundesrepublik nahhaltig verändern. Hinzu kämen die einseitige mediale Berichterstattung, die Militarisierung des Gesundheitswesens und die Mobilmachung einer ganzen Generation über Wehrpflichtdebatte und Bundeswehr an den Schulen – all das zeige: Die Bundesregierung ist zu einer Politik offener Kriegsvorbereitungen übergegangen.

Ein Rückblick in die Geschichte und ein Blick in die Gegenwart zeigen: Eine solche Politik ist immer ein Frontalangriff auf die Klasse der Lohnabhängigen. Kriegsvorbereitungen und vor allem der Krieg selbst gehen mit nicht nur minimalen, sondern stets mit enormen Eingriffen in Arbeits- und Gewerkschaftsrechte einher. In allen Kriegen wurden bislang Arbeitszeiten ausgeweitet, Umverteilungskämpfe erschwert und das Streikrecht außer Kraft gesetzt. Es sei deshalb wichtig, so eine zentrale These der Konferenz, den in Kriegen angelegten Klassencharakter zu erkennen und zu verstehen. Kriege vorzubereiten oder durchzuführen, geschehe niemals klassenneutral, sondern im Einklang mit Angriffen auf die Welt der Arbeit, hieß es mehrfach auf der Konferenz.

Der Sozialstaat wird ruiniert

Vor diesem Hintergrund wurde auch darüber diskutiert, wie die verteilungspolitische Prioritätensetzung der Bundesregierung dazu führt, dass das Fundament der Nachkriegsgesellschaft aus sozialen Errungenschaften und Aushandlungsprozessen im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit buchstäblich zu bersten droht. Unser Sozialstaat wird nicht etwa ein bisschen angegriffen oder abgetragen. Nein, der Sozialstaat wird durch die Fünf-Prozent-Verpflichtung der NATO regelrecht ruiniert. Dabei zeigt die öffentlich geführten Diskussionen über die Streichung von Feiertagen, die Angriffe auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die beabsichtigte Abschaffung des Acht-Stunden-Tages oder die gezielten Vorbereitungen zur Einschränkung des Streikrechts, dass es dieses Mal an die Grundfeste sozialstaatlicher und gewerkschaftlicher Errungenschaften geht.

Eigentlich ist es eine verteilungspolitische Binse, dass mit dem Primat der Zeitenwende die Umverteilung von unten nach oben weiter voranschreiten und die Armut zunehmen wird. Ver.di Chef-Ökonom Dierk Hirschel führte nachvollziehbar aus, dass sich die verteilungspolitischen Auseinandersetzungen infolge von Sondervermögen und kreditfinanzierter Aufrüstung zuspitzen werden, weil jeder Euro, der in dem riesigen Rüstungshaushalt versenkt wird, für gute Bildung, eine funktionierende Daseinsvorsorge oder den ökologischen Umbau der Industrie fehlt. Der Umweg über Sondervermögen und kreditfinanzierte Aufrüstung soll dabei den frontalen Angriff auf den Sozialstaat ebenso wie den Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Sozialabbau verschleiern. Gegenprotest insbesondere aus den Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden solle auf diese Weise verhindert werden, analysierte Hirschel. Früher oder später aber werde dieser Freifahrtschein für grenzenlose Rüstungsausgaben Fragen der Gegenfinanzierung aufwerfen, und die Verteilungsfrage werde sich weiter zuspitzen.

Verschiebung im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit

Dass sich unter diesen Bedingungen auch das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit verändert, weil in einer gesellschaftlichen Atmosphäre aus realen Deindustrialisierungserfahrungen, Inflation und Sozialabbau ein Klima des Verzichts entsteht, das nicht Rückenwind für die Forderungen der Gewerkschaften nach Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen mit sich bringt, sondern – im Gegenteil – Auftrieb für die Forderungen der Arbeitgeber nach Lohnverzicht, Arbeitszeitverlängerungen und Abweichungen vom Flächentarifvertrag, zeigt das neue Selbstbewusstsein der Arbeitgeber. Ungeniert greifen sie in die aktuellen politischen Debatten ein, fordern eine kompromisslose Kappung des Sozialstaates und beauftragen Anwälte mit dem Verfassen eines Gesetzentwurfs zur Einschränkung des Streikrechts.

Der Angriff der Zeitenwende auf die Welt der Arbeit wurde aber auch deutlich, als Nonni Morisse (ver.di), Mark Ellmann (GEW) und Lena Fuhrmann (IG Metall) miteinander diskutierten und zahlreiche Beispiele für die Einschränkung der Daseinsvorsorge durch die Unterordnung von öffentlichen Versorgungsleistungen unter die Logik des Militärischen anführten. Ver.di-Gewerkschaftssekretär Nonni Morisse schilderte die Situation im Bremer Hafen und den unterfinanzierten Kommunen. GEW-Bildungskoordinator Mark Ellmann berichtete vom Bayrischen Bundeswehrförderungsgesetz, das Lehrer dazu verpflichtet, Soldaten in den Unterricht einzuladen. Und Salzgitter Flachstahl-Betriebsrätin Lena Fuhrmann verwies auf die zwingende Notwendigkeit, den Transformationsprozess der Stahlproduktion öffentlich zu unterstützen, wenn der nachhaltige Umbau von Industrie und Gesellschaft gelingen soll.

Krise des Kapitalismus identifizieren

Wollen die Gewerkschaften diese Angriffe wirksam abwehren – und wer außer ihnen hätte die Stärke, dies zu tun – müssen sie verstehen, dass die wachsende Kriegsgefahr Ergebnis einer kapitalistischen Krisenentwicklung ist, die weit über die konjunkturellen Krisen der Vergangenheit hinausgeht und als eine systemische Krise des Kapitalismus eingeordnet werden muss. Darauf ging der Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ingar Solty, mit seiner Einordnung des aktuellen Krisengeschehens in den Kontext einer Sechs-Dimensionen-Krise ein. Es handele sich um eine systemische Krise des Kapitalismus, die deshalb so komplex ist, weil sie sich auf verschiedenen Ebenen zeige – als tiefe Verwertungskrise des Kapitals ebenso wie durch die Zunahme der sozialen Widersprüche, in der Zuspitzung geopolitischer Konfliktkonstellationen ebenso wie im drohenden Klimakollaps. Und schließlich zeige sie sich im weltweiten Aufstieg rechtsautoritärer Führer und Bewegungen als Ergebnis einer tiefen Repräsentationskrise.

Diese unterschiedlichen Krisenebenen existieren nicht losgelöst nebeneinanderher. Sie verschränken sich ineinander und verstärken sich gegenseitig. Dabei verschärfen die vermeintlichen Krisenlösungen in einer Krisensphäre die Krise in einer anderen Sphäre. Die Veränderung der Weltbeziehungen, bei denen der globale Süden an ökonomischer Stärke und politischem Selbstbewusstsein gewinnt und der globale Norden zunehmend gegen Deindustrialisierung und den politischen Bedeutungsverlust ankämpft, steht als Ursache hinter den sich zuspitzenden geopolitischen Konflikten. Sie löst eine dramatische Hochrüstungsdynamik aus, welche wiederum nur durch erhebliche Sozialkürzungen sichergestellt werden kann und dadurch das Vertrauen der Menschen in die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie weiter erschüttert. Über allem steht der fortschreitende Klimawandel, dessen Bearbeitung durch die Militarisierung blockiert und durch reale Kriegsführung beschleunigt wird. Mit dieser komplexen Krisendynamik müssen sich die Friedensbewegung ebenso wie die Gewerkschaften auseinandersetzen, wenn sie eine Dynamik für eine dauerhafte Friedenssicherung ebenso wie eine dauerhafte Einkommenssicherung in Gang setzen wollen.

Die Gewerkschaften vor der strategischen Herausforderung

Aus der Geschichte wissen wir, dass Umbrüche mit dem Potential weltkriegerischer Auseinandersetzungen nicht nur mit erheblichen Angriffen auf die Welt der Arbeit einhergingen, sondern die Arbeiterbewegung stets in die Krise stürzten. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges zeigte sich das an der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten und an der Burgfriedenpolitik der Gewerkschaften. Und weil es kämpfende und streikende Arbeiter waren, die den Ersten Weltkrieg beendet hatten, saß dem herrschenden Block vor Beginn des Zweiten Weltkrieges die Angst vor den großen und mächtigen Klassenorganisationen noch im Nacken. Der Aufstieg des Faschismus war daher kein Zufall, sondern die aus Sicht der Herrschenden logische Konsequenz, um die zugespitzten Klassenauseinandersetzungen in der Weimarer Zeit durch die Zerschlagung der Arbeiterbewegung zu entscheiden.

Auch heute steht die Welt der Arbeit mit ihren großen, mächtigen und stolzen Klassenorganisationen vor der Herausforderung, diese Angriffe abzuwehren. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, die Einbindung der Arbeiterbewegung in eine Politik aus Aufrüstung und Kriegsvorbereitung zu verhindern – der Klassenprotest darf nicht still gestellt werden. Denn die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter die militaristische Prämisse der aktuellen Außen- und Sicherheitspolitik ist ein direkter Angriff auf die Klasse der Lohnabhängigen. Gewerkschaftliche Strategiebildung darf sich also um die Frage von Krieg und Frieden nicht herumdrücken, sondern muss die „Zeitenwende“ als scharfen Klassenangriff identifizieren und die Auseinandersetzung um die Abwendung der Auswirkungen führen.

Ein Meilenstein für die gewerkschaftliche Debatte

Mit all diesen unterschiedlichen Perspektiven und Sichtweisen wurde die Konferenz zu einem Meilenstein für die gewerkschaftliche Debatte. Sie war einerseits ein großes Wiedersehen für diejenigen, die sich als friedensbewegte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter seit drei Jahren darüber austauschen, wie die Diskussion über Krieg und Frieden in ihren Gewerkschaften geführt werden kann. Es sind die Arbeitgeber, die die Perspektive des Krieges in die betrieblichen Realitäten tragen: Indem sie die Produktion von der Automobilproduktion auf Rüstungsproduktion umstellen. Indem sie Lehrer verpflichten, Soldaten in den Unterricht einladen. Indem sie Straßenbahnfahrer auffordern, die Tarnfleck-Bahnen durch die Innenstädte zu fahren. Indem sie den Sachbearbeiter in der Arbeitsagentur mahnen, Menschen ohne Arbeit in die Bundeswehr zu vermitteln. Oder indem sie Pflegekräfte in gemeinsame Katastrophenschutz-Seminare mit der Bundeswehr schicken. Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, dieser Perspektive des Krieges die Perspektive des Friedens entgegenzusetzen.

Mit der Debatte über diese Entwicklungen und Herausforderungen wurde die Konferenz zu einem Ort, an dem die Argumente entwickelt und abgewogen wurden – so müssten auch die Gewerkschaften als Antwort auf die systemische Krise wieder stärker über gesellschaftsverändernde Transformationen diskutieren. Die Hoffnung und das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Menschen ohne Kriegsangst, ohne aufreißende soziale Widersprüche und ohne den drohenden Klimakollaps frei und gleich miteinander leben können, ist etwas, was die Arbeiterbewegung immer stark gemacht hat. In 150 Jahren Gewerkschaftsgeschichte hatten in dieser Diskussion Argumente ebenso ihren Platz wie Irrtümer. Wichtig war, die Diskussion zu führen – vereint und gemeinsam, im Interesse der Stärkung der eigenen Handlungsfähigkeit und über parteipolitische Präferenzen hinweg.

Debatten und Begegnungen, Kollegialität und Begeisterung

Wer könnte das besser als Gewerkschafter, Betriebsräte und Vertrauensleute? Sie ringen tagtäglich darum, über Meinungsunterschiede und Standortinteressen hinweg die Einheit herzustellen, die eigenen Gremien zusammenzuhalten und trotz aller Widersprüche handlungsfähig zu machen. Weil die Konferenz den Raum eben dafür öffnete, mit ihren Debatten und Begegnungen, mit ihrer Kollegialität und Begeisterung, muss sie als Meilenstein für die gewerkschaftliche Debatte über Krieg und Frieden eingeordnet werden. Nicht nur weil es gelang, Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Parteibüchern in einen solidarischen Austausch über gewerkschaftliche Strategie und gesellschaftliche Zukunft zu bringen – so diskutierte der Sozialdemokrat Dierk Hirschel mit seinem kommunistischen Kollegen Mark Ellmann, der SPD-Bundestagsabgeordnete Jan Dieren mit der Linken Ulrike Eifler oder die sozialdemokratischen Urgesteine Petra Erler und Ralf Stegner mit der linken Europa-Abgeordneten Özlem Demirel und dem parteilosen Podcaster Ole Nymoen. Vor allem aber war die Motivation zu spüren, die Konferenz zum Ausgangspunkt der gewerkschaftlichen Debatte in den vielen Orten zu machen, aus denen die Konferenzteilnehmer angereist waren.

Dabei ist keine Zeit zu verlieren. Die Welt steht am Rande eines Dritten Weltkrieges und unsere politischen Repräsentanten sehen ihre Aufgabe nicht darin, diesen durch Diplomatie und Abrüstungsverpflichtungen zu verhindern. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Der Krieg wird als Ausweg aus der wirtschaftlichen Krisenspirale und dem Kampf um die Weltmacht ernsthaft in Erwägung gezogen und aktiv vorbereitet. Der Aufbau einer gewerkschaftlich verankerten Friedensbewegung als einzigem Bollwerk gegen die organisierte Fahrlässigkeit des herrschenden Blocks bleibt also ohne Alternative. Wenn die Konferenz tatsächlich einen Beitrag dazu leisten konnte, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.

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