In wenigen Monaten finden EU-Wahlen statt. Wir haben mit Özlem Alev Demirel, nominiert als Spitzenkandidatin der Linken, über die aktuelle Situation, den Rechtsruck in Europa und Europas Werte gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Du wurdest als Spitzenkandidatin der Linken für die Europawahl nominiert. Welche Entwicklungen siehst du aktuell in der EU und was sind die Ziele der Linken?
Özlem Alev Demirel: Die Schere zwischen arm und reich geht europaweit immer weiter auseinandergeht. Zwar sind die Gewinne der 265 Börsendotierten Unternehmen in der EU um 21% gestiegen, doch nur ein Bruchteil der Bevölkerung profitiert nachhaltig von dem erwirtschafteten Wohlstand. 112,9 Millionen Menschen sind von Armut bedroht, steigende Wohnungslosigkeit, Altersarmut und hohe Jugendarbeitslosigkeit – insbesondere im Süden – greifen um sich. Durch die Deregulierung und Liberalisierung sind elementare Bereiche der Daseinsvorsorge – wie Gesundheit – dem Markt überlassen worden. Dies alles geht auf Kosten der Armen und Mittelschichten. Unser Ziel als LINKE ist es, diese Entwicklung auch auf europäischer Ebene endlich umzukehren.
Die Freiheitsliebe: Welche Möglichkeiten gibt es denn auf europäischer Ebene die soziale Situation zu verbessern?
Özlem Alev Demirel: Die Erzählung, dass der Markt alles regelt, ist von der Realität grandios wiederlegt worden. Wir sagen: nicht die Menschen müssen den Interessen der Wirtschaft dienen, sondern die Wirtschaft muss sich an den Interessen und Bedürfnissen von Mensch und Natur orientieren. Konkret bedeutet das auf europäischer Ebene, dass es flächendeckend armutsfeste Mindestlöhne und als Standard sanktionsfreie Mindestsicherungen, gute Bildung und Gesundheitsversorgung sowie bezahlbarer Wohnraum für alle braucht. Ziel muss es auch sein den Steuerdumpingwettbewerb zu stoppen und Schlupflöcher zu schließen um endlich notwenige Investitionen tätigen zu können.
Die Freiheitsliebe: Aber die EU macht doch gar keine Steuerpolitik?
Özlem Alev Demirel: Indirekt schon, indem ein Steuerdumpingwettbewerb zugelassen wird. Nahezu überall innerhalb der EU wurden in den vergangenen Jahren Konzerne und Superreiche entlastet, Banken mit Steuergeldern gerettet und die lohnabhängige Bevölkerung zur Kasse gebeten. Während es scheinbar kein Problem war die sogenannten Grundfreiheiten – freier Kapital, Waren- und Dienstleistungsverkehr durchzusetzen, gibt es bis heute keine nennenswerten Sozialstandards. Ein großer Binnenmarkt ohne ernsthafte Regulierungen, das ist Neoliberalismus pur. Es ist doch absurd: Jedem abhängig Beschäftigten wird automatisch die Lohnsteuer abgezogen, ein Hartz IV-Betroffener muss sich quasi nackig machen, um elementare Sozialleistungen zu erhalten, aber riesige Konzerne – Google, Amazon, Apple – zahlen so gut wie keine Steuern.
Die Freiheitsliebe: In Portugal zeigt sich, dass es trotz der Eurosanktionspolitik möglich ist eine sozialere Politik durchzusetzen, einige Sozialdemokraten behaupten, dass dies sogar durch die EU möglich gemacht wurde.
Özlem Alev Demirel: Diese These halte ich für gewagt. Denn Portugal hat nicht Dank, sondern trotz der falschen Regelungen der EU versucht, politisch andere Akzente zu setzen. So hat man sich in Portugal dafür entschieden mit einem höheren Mindestlohn die Binnenkaufkraft zu stärken und damit auch die Binnenwirtschaft anzukurbeln. An Griechenland aber haben wir gesehen, worauf die Troika und herrschende Politik in der EU setzt. Nämlich Sozialkürzungen und Privatisierungen, statt notwendiger Investitionen.
Die Freiheitsliebe: Die Medien schreiben, dass sich Griechenland auf einem guten Weg befinde. Wie siehst du das?
Özlem Alev Demirel: Die Troika hat Griechenland erpresst. Die Bundesregierung hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Sowohl direkt, als auch durch den Aufbau des Niedriglohnsektor im Inland, der europaweit Druck auf die Lohnentwicklung aufgebaut. Das Ergebnis in Griechenland ist immenser Sozialabbau und Privatisierungen und damit die Verarmung der Bevölkerung und der Ausverkauf des öffentlichen Eigentums – 35% der Bevölkerung sind von akuter Armut bedroht. Vermögende wurden verschont und das gemeine Volk hat die Zeche gezahlt. Im Übrigen haben die deutsche Wirtschaft und deutsche Banken von dieser Entwicklung profitiert, während die Bevölkerung auch hier unter dem Niedriglohnsektor leidet.
Die Freiheitsliebe: In letzter Zeit hören wir auch immer wieder, dass die EU eine Verteidigerin der Menschenrechte ist.
Özlem Alev Demirel: Die Werte, die die EU für sich deklariert sind positiv, doch spiegelt das nicht ihre reale Politik wieder. Wir beobachten, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken und diejenigen, die gerettet werden nirgendwo in die Festung Europa reinkönnen. Ich habe kein Verständnis dafür, dass die EU mit Autokraten und Despoten paktiert um Geflüchtete aus der Festung Europa fernzuhalten. Damit werden jegliche positive Werte wie Humanismus oder auch Aufklärung zur einer Farce.
Die Freiheitsliebe: Was kritisierst du denn konkret?
Özlem Alev Demirel: Es ist doch grotesk: Aus der Türkei selber fliehen immer mehr Menschen, doch mit Präsident Erdogan wurde ein Flüchtlingspakt ausgedealt. Dabei sind die Geflüchteten eigentlich die Botschafter eines verheerenden Systems das ständig Ungleichgewichte und Ungerechtigkeit produziert und Kriege befördert. Nicht Geflüchteten gehören bekämpft, sondern Fluchtursachen. Ein erster und wesentlicher Schritt hierfür wäre es endlich Waffenexporte insbesondere in Spannungsgebiete und an Diktaturen wie Saudi-Arabien nachhaltig zu unterbinden. Wir lehnen es auch vehement ab, dass die Seenotrettung kriminalisiert wird. Menschen zu retten ist kein Verbrechen, sie ertrinken zu lassen, aber schon.
Die Freiheitsliebe: Was fordert die Linke, um die EU zu einer Verteidigung der Menschenrechte zu bringen?
Özlem Alev Demirel: Die Politik kann sich nur ändern, wenn die Menschen, die unzufrieden sind sich zusammenschließen und für eine andere Politik eintreten. Es gibt Bewegungen wie die Seebrücke, unteilbar und andere. Unsere Aufgabe ist es, diese zu stärken und ihnen die Hand zu reichen. Für mich ist aber auch klar, dass ich eigentlich in einer Welt leben möchte in der niemand zur Flucht gezwungen ist. Doch auch die aktuelle Politik der EU produziert im laufenden Band Fluchtursachen. Dazu zählen Waffenexporte, der Klimawandel sowie die ungerechte Handels- und Wirtschaftspolitik, die ärmere Länder in größere Armut und Abhängigkeit treibt.
Die Freiheitsliebe: Wenn man die aktuellen Umfragen anschaut, deutet wenig daraufhin, dass die EU sozialer wird. Welche Möglichkeiten siehst du für die Linke gegen den rechten Block anzugehen?
Özlem Alev Demirel: Umfragen sind noch keine Wahlergebnisse. Doch tatsächlich ist es besorgniserregend, dass rechte Kräfte in verschiedenen Ländern immer stärker werden. Wir wollen in Bündnissen, mit Gewerkschaften und vielen anderen gemeinsam ein Bollwerk gegen Rassismus und Nationalismus sein. Dafür müssen wir es aber schaffen, uns nachhaltig mit unseren sozialpolitischen, gesellschaftskritischen Alternativen und unserer klaren antirassistischen Haltung in den Stadtteilen, Schulen, Universitäten und Betrieben zu verankern. Nur so können dauerhaft den Rechtsruck stoppen.
Die Freiheitsliebe: In Deutschland fallen die EU-Wahlen auf dasselbe Datum wie viele Kommunalwahlen, welche Möglichkeiten gibt es beides zu verbinden?
Özlem Alev Demirel: Die europäische Politik hat großen Einfluss auf die Kommunen. Ein Beispiel sind europaweite Ausschreibungen. Wir sagen das im Rahmen der Vergabepolitik tarifpolitische, ökologische Standards und gute Mindestlöhne enthalten sein müssen und da hat das EU-Recht in der Vergangenheit eine verheerende Rolle gespielt. Fakt ist, dass die Austeritätspolitik von Athen bis Zwickau soziale Infrastrukturen zerstört. Doch nur wirklich Reiche können sich arme Städte leisten, denn nicht jeder hat einen privaten Swimmingpool oder eine eigene Bibliothek. Also braucht es statt des blinden Sparzwangs nachhaltige Investitionen und den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge. Darüber hinaus ist es ein Skandal, dass die EU regionale Förderprogramme kürzt und gleichzeitig mit dem europäischen Verteidigungsfonds Rüstungsprogramme aufgebaut werden. Das alles wird für uns auch ein Thema im Wahlkampf.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.