Als wäre bei den Koalitionsverhandlungen das Wort Corona tabu gewesen: So agierte die angehende Ampel-Regierung in den letzten Wochen. 70.000 Neuinfektionen pro Tag scheinen Normalzustand zu werden, die Krankenhäuser sind am Limit. Obwohl aus Kreisen der Wissenschaft diese Szenarien vorhergesagt wurden, drang wohl nichts zu den Verhandlungen durch. Während sich die geschäftsführende Bundesregierung bedeckt hielt, wollte die sich bildende Ampel-Koalition die Gute-Laune-Selfies nicht durch Infektionseindämmung gestört wissen – und zieht daraus auch keine entscheidenden Lehren für die Gesundheitspolitik. Dabei wurde Corona bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages als eines der Kernthemen der kommenden Wochen und Monate benannt.
Statt bundesweit die Impfangebote auszuweiten, damit zuerst besonders vulnerable Gruppen die Auffrischungsimpfung bekommen können und niedrigschwellige Angebote geschaffen werden können für Menschen, die sich nun doch für eine Impfung entscheiden, wurde ein Windhundrennen auf die verbliebenen Impftermine gestartet. Die neue Koalition hat hingenommen, dass mit der Schließung der Impfzentren in den meisten Kommunen die entsprechende Infrastruktur zusammengebrochen ist und unternimmt nichts, um diesen Mangel zu beheben. Auch die in Fachkreisen schon länger bekannte Notwendigkeit einer dritten Impfung und die damit verbundenen logistischen Probleme wurden schlicht ignoriert. Senioreneinrichtungen, Schulen, Kitas und andere Orte, an denen sich Menschen treffen, werden noch immer nicht durch Luftfilteranlagen und andere technische Vorkehrungen sicherer gemacht. Es liegen nicht mal Konzepte der Ampelparteien vor, wie und wann dies geschehen soll.
Nun wird über Impfplicht, Lockdown und Triageverfahren nachgedacht. Bei den jetzigen Zahlen wird alles kommen. Insbesondere das Triagieren ist in diesem System eine perverse Debatte: Schon jetzt kann keine gute Versorgung gewährleistet werden. Triagiert wird jedoch gegenwärtig weniger wegen Betten- und Geräte-, sondern aufgrund Personalmangel. Eine ‚echte‘ Triage lässt sich nämlich durch eine noch extremere Überlastung und noch krassere Ausbeutung des Personals kurzfristig herauszögern. Schon sonst dauerhaft am Limit, werden nun wieder Höchstarbeitszeiten ausgesetzt und Urlaubssperren eingeführt. Diese Menschen haben ihren Job gewählt, weil sie Menschen retten möchten: Die Belastung führt aber dazu, dass sie es irgendwann physisch und psychisch nicht mehr können. So sind im Winter weitere menschliche Tragödien abzusehen – bei Patientinnen, Patienten, Angehörigen und Beschäftigten.
Es braucht also ein Systemwechsel im Gesundheitsbereich: Für die vierte Welle käme auch dieser – wie die Impfpflicht übrigens auch – zu spät. Aber im Koalitionsvertrag ist auch über die Pandemie hinaus kein Lerneffekt festzustellen: Die Latte für „Fortschritt“, von dem die Ampel laut dem Titel des Koalitionsvertrags mehr wagen will, hängt nach 16 Jahren unionsgeführter Regierung schon verdammt niedrig. Zur Gesundheits- und Pflegepolitik finden sich im Koalitionsvertrag zwar einige blumige Versprechen. Die politischen Maßnahmen, die benannt werden, sind aber größtenteils halbherzige Andeutungen, die an den grundsätzlichen Problemen und Strukturen nichts ändern. Es ist wie in vielen anderen Bereichen auch: Mit mächtigen (Kapital-)Interessen will sich diese Koalition nicht anlegen. Die Versorgungs- und Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegesystem und seine Finanzierung lassen sich auf diesem Weg nicht verbessern.
Eine Ausnahme gibt es allerdings: Mit der „Pflegepersonalregelung 2.0“ (PPR 2.0) wird eine gesetzliche Personalbemessung in den Krankenhäusern eingeführt. Seit fast zehn Jahren wird diese Forderung von ver.di und der LINKEN erhoben. Sie stand im Zentrum von Protesten, Petitionen, Tarif- und Streikbewegungen. Dass sie jetzt eingeführt werden soll, ist ein Erfolg der Kämpfe und des langen Atems, den die gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen bewiesen haben.
Für die Krankenhäuser hält die Ampel aber am System der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRGs) fest. Aber die DRGs als Finanzierungssystem sind gescheitert. Wenn es überhaupt noch einen Beweis dafür brauchte, hat ihn die Coronakrise erbracht. Ohne Finanzierungsinstrumente außerhalb des DRG-Systems wäre die Krankenhausversorgung zusammengebrochen. Als Folge drohen in den nächsten Jahren ein zunehmendes Krankenhaussterben und eine weitere Privatisierungswelle. Die DRGs sollen zwar jetzt um sogenannte Vorhaltekosten ergänzt werden, die nicht über Fallpauschalen, sondern nach der Versorgungsstufe des Krankenhauses berechnet werden. Nach dem 2019 eingeführten Pflegebudget, mit dem die Personalkosten des Pflegepersonals auf den Stationen („am Bett“) aus den DRGs herausgenommen wurden, ist dies der nächste Sargnagel für die Fallpauschalen. Denn das Finanzvolumen, das über die Fallpauschalen ausgezahlt wird, sinkt damit weiter. Ausgestaltung und Höhe dieser Vorhaltekosten sind allerdings noch unklar. Der bürokratische Aufwand, den die Marktgläubigen so gerne geißeln, ist bei den Fallpauschalen gigantisch und wird mit der Einführung von Vorhaltekosten weiter zunehmen. Es bedarf deshalb keiner weiteren Sargnägel, sondern einer Beerdigung: Ein Finanzierungssystem, das derart krisenuntauglich und gegen die Interessen der Patientinnen und Patienten wie der Beschäftigten ausgerichtet ist, muss abgeschafft werden. Jetzt ist die Zeit für eine grundlegende Neuausrichtung der Krankenhauspolitik, Gemeinwohl statt Kostendruck und Profite muss die Orientierung dafür sein.
Eine Neuausrichtung, die auch in der Altenpflege nötig wäre, über die sich aber nichts im Koalitionsvertrag finden lässt. Die versprochene Prüfung der Eigenanteile bedeutet aktuell für tausende Familien, dass sie weiterhin Monat für Monat finanziell überfordert werden. Der Eigenanteil für einen stationären Pflegeheimplatz liegt momentan im Durchschnitt bei 831 Euro, wobei es starke regionale Unterschiede gibt. Die Gesamtkosten, die für einen solchen Platz getragen werden müssen, liegen im Mittel bei mehr als 2.000 Euro. Das liegt weit über der durchschnittlichen gesetzlichen Rente, die in Deutschland ausgezahlt wird. Doch auch hier möchte die Ampelkoalition mit kleinen Korrekturen ein überkommenes System der Pflegefinanzierung am Leben halten, das SPD und Grüne im Wahlkampf noch schnellstmöglich ablösen wollten. Eine wirkliche Pflegereform, die umfassende Verbesserungen für Menschen mit Pflegebedarf genauso enthält wie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte, ist mit diesem Koalitionsvertrag in weite Ferne gerückt.
Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass mit versprochenen kleinen Verbesserungen wie einem Ausbau der Kurzzeitpflege wichtige Details benannt wurden. Aber damit wird die Ampel den Pflegenotstand nicht beenden! Wir brauchen eine Pflegevollversicherung für gute Pflege im Alter und eine gemeinwohlorientierte Finanzierung der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die dem profitorientierten Geschäftsmodell der privaten Krankenhaus- und Pflegeindustrie ein Ende setzt. Dafür werden wir uns weiter stark machen, zusammen mit Patientinnen, Patienten, Pflegebedürftigen, Beschäftigten und ihren Gewerkschaften.
Was das Papier der Ampel besonders bitter macht: Für die Finanzierung des Gesundheitssystems liegen gute und umsetzbare Konzepte auf dem Tisch. Sie werden von SPD, Grünen und FDP schlichtweg ignoriert. Dabei würden sich mit einer soliden und solidarischen Finanzierung viele Probleme, wie die an ihre Grenze stoßenden Kapazitäten der Krankenhäuser, lösen lassen.
Als Beispiel sei hier nur die Solidarische Gesundheitsversicherung genannt. Wir haben es durchrechnen lassen: Durch die Einführung werden Zusatzbeiträge abgeschafft, Arbeitgeber zahlen wieder die Hälfte der Beiträge ihrer Beschäftigten auf Löhne und Gehälter. 90 Prozent der Bevölkerung werden so entlastet, auf Arbeitseinkommen unter etwa 6.250 Euro brutto pro Monat sinkt der Beitrag. Man muss es nur wollen. Die Ampel hat trotz Ankündigung im Wahlkampf ihre Pläne für eine Bürgerversicherung wieder begraben, obwohl vor der Wahl 73 Prozent der SPD-Anhängerinnen und -Anhänger die Idee sehr gut oder gut fanden, 84 Prozent der Grünen-Anhängerinnen und -Anhänger und erstaunliche 62 Prozent der FDP- Anhängerinnen und -Anhänger. Für DIE LINKE liegt als einzig linke Opposition viel Arbeit vor uns: Aber wir müssen und werden vor allem in diesem Bereich weiterhin Druck machen und für ein gutes und gerechtes Gesundheits- und Pflegesystem kämpfen.