Bei Olaf Scholz‘ Rede am vergangenen Sonntag konnte einem angst und bange werden. Das Gejohle und die Standing Ovations zur angekündigten Aufrüstungsspirale waren mehr als befremdlich. Die Rede stellt den vorläufigen Höhepunkt einer Mark erschütternden Entwicklung der letzten Wochen dar: Anschaffung von Kampfdrohnen und atomwaffenfähigen Kampfjets, nukleare Teilhabe, Multimilliardenexporte von Kriegsgerät bereits in den ersten Wochen, Tornados kreisen demnächst über Polen, weitere Marine in die Ostsee, massive Verschiebung von Truppen und schwerem Gerät nach Osteuropa, Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, Übererfüllung der NATO-Vorgabe, zwei Prozent des BIP ins Militär zu stecken, und ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr mit einem Fingerschnipp – der deutsche Militarismus wirft seine Fesseln ab. Und die Rechtfertigung für alles: Russland. Was der 11. September für den US-amerikanischen Militarismus war, ist der 24. Februar für den deutschen.
Am 24. Februar – Donnerstag vergangener Woche – überfiel die russische Armee völkerrechtswidrig die Ukraine. Tausende Menschen sind bereits gestorben, mehr als 1,5 Millionen vertrieben, ganze Stadtviertel liegen in Schutt und Asche. Dieser Bruch mit dem Völkerrecht ist durch nichts zu rechtfertigen und in aller Schärfe zu verurteilen. In einer Bundestags-Sondersitzung am Sonntag instrumentalisiert Kanzler Scholz dieses Verbrechen in einer wahrlich historischen Rede über die Zukunft deutscher „Verteidigungspolitik“, die durch die antimilitaristische Brille kaum zu ertragen war.
Ein Multimilliardengeschenk an die Rüstungsindustrie
Scholz kündigte ein „Sondervermögen Bundeswehr“ an – 100 Milliarden Euro zusätzlich fürs Militär, einfach so, via Neuverschuldung aus dem Hut gezaubert. 100 Milliarden: Das entspricht weit mehr als dem Doppelten von dem, was im letzten Jahr für Hartz-IV-Bezüge gezahlt wurde – und den Budgets der Ministerien für Justiz, Umwelt, Kanzleramt, Auswärtiges, Landwirtschaft, Finanzen, Wirtschaft, Entwicklung, Familie, Inneres und Bildung zusammengerechnet. Mit 100 Milliarden Euro hätte den 5,4 Millionen in Deutschland beschäftigten Pflegekräften, Putzkräften, Kassiererinnen und Kassierern – den „Helden der Pandemie“ – ein 13. Monatsgehalt in Höhe von 1.500 Euro gezahlt werden können: über zwölf Jahre hinweg. Doch während Pflegekräfte in der Coronakrise nach eineinhalb Jahren kräftezehrender und entwürdigender Diskussionen nur einen Bonus von 1,5 Milliarden erhielten, lassen die Manager in den Chefetagen der Rüstungskonzerne die Champagnerkorken knallen. Auch Aktionäre und Lobbyisten der Rüstungsindustrie können sich über das 100-Milliarden-Euro-Geschenk freuen.
Soll das „Sondervermögen Bundeswehr“, wie von Scholz erbeten, tatsächlich den Weg ins Grundgesetz finden, braucht es dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament – und damit die Stimmen der Union. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz zeigt sich dafür mehr als offen – will für die Unionsstimmen im Gegenzug künftig jedoch de facto bei der Ampel mitregieren. Das „Sondervermögen“ wurde laut mehreren Mitgliedern der Regierungsparteien ohne Abstimmung von höchster Stelle einfach diktiert und im Vorfeld nicht einmal den eigenen Fraktionen unterbreitet. So erklärt Kevin Kühnert am Dienstag im Morgenmagazin: „Im Laufe des Samstags … hat dann in den Kreisen der Regierung ein Meinungsbildungsprozess stattgefunden, und ja, die Informationen sind dann allen anderen erst am Sonntag wirklich zugänglich gewesen“ – innerparteiliche Demokratie: Fehlanzeige. Doch Kühnert rudert sofort zurück und nimmt Kanzler Scholz und seine Aufrüstungsoffensive in Schutz; auf die Frage, ob sich Scholz „einer geschlossenen Unterstützung der SPD-Fraktion für den Kurs sicher sein“ kann, antwortet der SPD-Generalsekretär mit einem knappen und vielsagenden: „Ja.“ Auch aus dem vielbeschworenen „linken“ Flügel der SPD ist also kaum Widerstand zum Aufrüstungsirrsinn der Ampel zu erwarten.
Zwei Prozent fürs Säbelrasseln
Die zweite verheerende Ansage in Scholz‘ Rede war die Ankündigung, „von nun an“ die berüchtigte Vorgabe der NATO, zwei Prozent des BIP ins Militär zu investieren, nicht nur einzuhalten, sondern gar überzuerfüllen. Zur Erinnerung, in der Abschusserklärung des NATO-Gipfels in Wales 2014 hieß es: „Die Verbündeten … streben danach, sich innerhalb eines Jahrzehnts der Zwei-Prozent-Richtlinie anzunähern“. Hier wurde keine rechtliche Verpflichtung verbrieft, sondern lediglich das „Streben“ nach einer „Annäherung“ kundgetan. Auch ist dies kein völkerrechtlich bindender Vertrag, sondern lediglich eine Erklärung, aus der sich keinerlei Handlungszwänge für den Bundestag – der final den Bundeshaushalt verabschiedet – ableiten lassen.
Durch Umsetzung von Scholz‘ Zwei-Prozent-Zusage wird der Verteidigungshaushalt damit über Nacht um über 20 auf dann 71,4 Milliarden in die Höhe schießen. Doch einen Zusammenhang zwischen der russischen Invasion der Ukraine und dem Zustand der Bundeswehr konstruieren zu wollen entbehrt jeder Grundlage: Oder würde ernsthaft jemand argumentieren, eine weiter hochgerüstete Bundeswehr hätte Putins Invasion verhindert? Doch Forderungen nach der Hochrüstung der Bundeswehr sind nicht neu. So machte erst kürzlich Generalleutnant Alfons Mais Schlagzeilen mit der von allen großen Medien wiedergekäuten Behauptung, die Bundeswehr „steht mehr oder weniger blank da“ – Musik in den Ohren all jener Falken, die seit Jahren die ungezügelte Aufrüstung der Bundeswehr fordern. Doch Mais liegt falsch. Denn die Bundeswehr erhöht bereits die Anzahl der Streitkräfte von aktuell rund 175.000 stetig auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten bis 2025. Zudem liegen die jährlichen Ausgaben aus dem Bundeshaushalt für den Neuerwerb von Waffen schon jetzt über dem der Instandsetzung. Auch hat sich der Verteidigungsetat seit 2005 (24 Milliarden Euro) bereits mehr als verdoppelt und wird sich in diesem Jahr auf das Dreifache erhöhen – zusätzlich zu den 100 Extramilliarden.
Wird die Welt, Europa dadurch sicherer oder friedlicher? Im Gegenteil: Ein dogmatisches Festhalten am Zwei-Prozent-Ziel der NATO setzt Aufrüstungsspiralen in Gang, die zur weiteren Militarisierung des europäischen Kontinents und damit zu immer neuen Konfrontationen führen werden. Wir müssen endlich aus den eingestaubten Logiken militärischer Abschreckung ausbrechen, die Strategie des Säbelrasselns überwinden und Verhandlungen über eine gesamteuropäische Abrüstungsoffensive unter Einbindung Russlands in die Wege leiten.
Doch die Bundesregierung geht nun den exakt falschen Weg. Die Ampel räumt jetzt auf, setzt den Schlussstrich unter 16 Jahre Merkel, macht Tabula rasa und schreibt die Zukunft bundesdeutscher Politik neu: Setzt gleichzeitig auf Windräder und Kampfjets, auf Minderheitenrechte und Truppenaufmärsche, legalisiert Cannabis und bewaffnet sich bis an die Zähne – liberale Taube nach innen, machtpolitischer Falke nach außen.
Zeitenwende
Gleich im ersten Satz seiner Rede betonte Scholz, der 24. Februar markiere eine „Zeitenwende“ – ein Narrativ, das ihm offensichtlich besonders wichtig ist, verwendet er das Wort noch weitere vier Male und meint damit, so scheint es, nicht etwa eine beschreibende Analyse der Ereignisse oder eine Prognose für die Zukunft, sondern vielmehr eine Agenda, an der von nun an offensiv gearbeitet werden soll. Er hat Recht: Der 24. Februar markiert eine Zeitenwende. Doch nicht in dem Sinne, wie es dieser Tage von nicht wenigen geschichtsvergessenen Politiker:innen und Journalist:innen kolportiert wird. Demnach sei ein Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Neuartiges. Haben sie tatsächlich Srebrenica vergessen, NATO-Streumunition auf jugoslawische Innenstädte, Bundeswehr-Bomben auf Belgrad? Auch neue Grenzziehungen, so hören wir es dieser Tage unisono aus dem politischen Berlin genau wie aus dem bundesdeutschen Blätterwald, seien ein Unding und das sinistre Werk von Despoten. Doch Deutschland gehörte zu den ersten Ländern, die 2008 final den Kosovo anerkannten, und war gar das zweite Land überhaupt, das 2011 den Südsudan offiziell als jüngstes Mitglied in der Staatengemeinde begrüßte. Das stellt in keiner Weise eine Rechtfertigung für Putins Anerkennung der zwei ukrainischen „Volksrepubliken“ dar – die ich klar verurteile –, sondern soll lediglich Doppelstandards offenlegen: Berlin ist nicht per se ein Verfechter „territorialer Integrität“, sondern lehnt neue Grenzziehungen ab oder befürwortet sie je nach eigener Interessenlage.
Nein, wir erleben eine Zeitenwende vielmehr in Hinsicht auf das Selbstverständnis Deutschlands, der Bundesregierung und ihres Militärs. Mit der ins Rollen gebrachten Aufrüstungsorgie der kommenden Jahre und Jahrzehnte soll der historische Transformationsprozess der Bundeswehr abgeschlossen werden: der Paradigmenwechsel weg von einer vermeintlichen Verteidigungsarmee hin zu einer robusten Interventionsarmee.
Nach der Gründung der Bundeswehr 1955 und einer Vielzahl an Auslandseinsätzen zur Katastrophenhilfe in den 1960er bis 90er Jahren bewies die Kohl-Regierung im Golfkrieg 1990/91, dass sie skrupellos genug ist, um gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung einen US-Angriffskrieg finanziell, politisch und militärlogistisch zu unterstützen; samt deutschem Jagdbombergeschwader in der Türkei und der Deutschen Marine im Persischen Golf. In Jugoslawien in den 1990ern warf sie dann – wie heute mit Kanzleramt und Verteidigungsministerium in SPD-Hand und einem grün besetzten Außenministerium – erstmals selbst Bomben auf zivile Infrastruktur und dicht bewohnte Innenstädte ab; auf europäische wohlgemerkt, was, wie uns heute täglich richtigerweise erklärt wird, ein absolutes Tabu ist. In Afghanistan, Mali und auch Irak demonstrierte die Bundeswehr, dass sie imstande ist, eigene Kontingente und Basen in weit entfernten Ländern aufzubauen und über viele Jahre hinweg zu unterhalten.
So beteiligte sich Deutschland nach Ende des Kalten Kriegs an vielen heißen Kriegen, stets jedoch „nur“ als Juniorpartner unterstützend tätig, außerstande, ohne „Schutzmacht“ zu agieren, wie Afghanistan bewies und in Kürze wohl auch Mali beweisen wird.
Großmachtfantasien
Dies wird sich nun alles ändern. Deutschland will wieder Global Player werden – wieder Großmacht werden. Was in Domänen wie Wirtschaft, Handel, Technologie und Forschung schon lange der Fall ist, soll nun auch auf dem politischen und vor allem militärischen Parkett zur neuen Realität werden. Deutschland schielt immer fokussierter auf einen Platz als sechste Vetomacht im UN-Sicherheitsrat. Um dies mittelfristig zu erreichen, muss Berlin sich unentbehrlich machen. Als viertgrößter Finanzier der UN ist diesem Anspruch in dieser Hinsicht Genüge getan. Die Bundeswehr zur unentbehrlichen Truppenstellerin in „Friedensmissionen“ zu machen ist nun folgerichtig der nächste Schritt; engagieren müsse man sich, so heißt es, Verantwortung übernehmen. Deswegen sind „wir“ in Mali.
Lange vor der russischen Invasion in die Ukraine kündigte die Ampel im Koalitionsvertrag eine „abrüstungspolitische Offensive“ an, nur um wenige Absätze später das Multimilliardenprojekt der Tornado-Nachfolge, eine europäische Rüstungsoffensive sowie die Beschaffung von Kampfdrohnen anzukündigen. Es wurden „verbindlichere Regeln“ für eine „restriktive Rüstungsexportpolitik“ versprochen, nur um dann auf beispiellosem Rekordniveau allein in den ersten sieben Wochen Waffen im Wert von über 2,2 Milliarden Euro zu verkaufen, wie aus der Antwort auf meine schriftliche Frage vom Januar hervorgeht. Die Ampel versprach, nichtbindende Exportvorgaben auf Bundesebene, die Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete untersagen, endlich in bindendes Recht zu überführen – nur um jetzt 4.200 schwere Waffen in das Kriegsgebiet Ukraine zu liefern und sich für das 450 Millionen Euro schwere EU-Waffenpaket für Kiew stark zu machen. Auch rief die Ampel ein „Deutschland frei von Atomwaffen“ als Ziel aus, nur um Verteidigungsministerin Lambrecht als eine ihrer ersten Amtshandlungen die Beschaffung Dutzender F-18-Kampfjets aus den USA einfädeln zu lassen, mit denen im Kriegsfall Bundeswehr-Soldaten US-Atombomben auf andere Länder abwerfen können.
Die Ampel ist bereits nach 89 Tagen die Koalition der Täuschung und des Wortbruchs, sie macht sich die aktuelle Lage in der Ukraine zunutze, um einen entfesselten Militarismus durchzuprügeln. Sie leitet final die Ära ein, in der Deutschland nicht nur ökonomisch, sondern zunehmend auch militärisch seinen Status als erstarkende Großmacht in Europa und der Welt sichern soll. Der 24. Februar leitet in der Tat eine Zeitenwende ein: Er markiert den vollständigen Bruch mit der bisherigen außenpolitischen Linie Nachkriegsdeutschlands – die Phase der Zurückhaltung ist vorbei.