Wahlen in Thüringen und Sachsen: Wird die Welt danach eine andere sein?

© Michael Täuber

Noch eine Woche bis zur Landtagswahl in Thüringen und Sachsen. Der Blick auf die Umfragewerte gibt Anlass zur Sorge: In beiden Bundesländern liegt die AfD seit Monaten stabil bei mindestens 30 Prozent. Koalitionsbildungen dürften damit vor schwierige Herausforderungen gestellt werden. Und der polarisierende Politikstil der AfD dürfte an Relevanz gewinnen. Nicht grundlos also schleicht sich das Gefühl einer bevorstehenden Zäsur durch die Gesellschaft: Wird die Welt nach dem 1. September eine andere sein?

Schauen wir zunächst auf die Umfragewerte: In Sachsen liegen CDU und AfD beide bei über 30 Prozent: Die CDU inzwischen bei 32,5 Prozent, die AfD mit 30,5 Prozent knapp dahinter. Damit können beide Parteien jeweils auf mehr Zustimmung verweisen als BSW, SPD und Grüne zusammen. Mehrheiten für das, was die Menschen dieser Tage am meisten brauchen – soziale Sicherheiten und Alltagsstabilität – sind das nicht.

Auch in Thüringen kommt die AfD auf 30 Prozent. Deutlich abgeschlagen dahinter mit 21 Prozent die CDU, das BSW mit 20 Prozent und Die Linke mit 14 Prozent. Alle anderen Parteien laufen „unter ferner liefen“: Während die SPD mit sechs Prozent gefährlich nah an der Fünf-Prozent-Hürde herumkrebst, bewegen sich Grüne und FDP außerhalb des Wahrnehmungsbereichs. Ein politisches Erdbeben also auch hier? Schaut man sich an, wessen Interessen CDU und AfD vertreten, dann sieht es düster aus für den „kleinen Mann“ und die „kleine Frau“.

Denn ein Blick in die Wahlprogramme und auf das politische Agieren verrät: Es sind vor allem CDU und AfD, die durch marktradikale und chauvinistische Positionen auffallen. So ist dort keine Rede von der Stärkung der Tarifbindung etwa durch ein Vergabegesetz, Anstrengungen für ein Verbot von Leiharbeit oder ein Ende der Befristungen. Stattdessen wird die Flexibilisierung der Arbeitszeiten durch Langzeitkonten gefordert. Auch im Hinblick auf die immer erdrückenderen Mietpreise fällt beiden Parteien nicht etwa die Einführung eines Mietendeckels oder der Ausbau bezahlbarer Wohnungen ein, sondern ganz im Gegenteil die Förderung des Immobilienerwerbs. Zur Entlastung des Wohnungsmarktes schlägt die AfD zudem die Abschiebung von Migrantinnen und Migranten vor – eine Forderung, über die mit der CDU große Einigkeit bestehen dürfte. Mit dem Vorschlag, den Anteil nicht-deutschsprachiger Kinder in den Kitas auf maximal zehn Prozent zu begrenzen, forciert die AfD zudem eine durch das Grundgesetz nicht abgedeckte Ungleichbehandlung. Und die Unterlassung beider Parteien, mit dem Ausbau sozialer Sicherheiten die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen, wird kompensiert durch eine Law-and-Order-Politik: Während die CDU die Zahl der Bürgerpolizisten verdoppeln möchte, plant die AfD die Herabsetzung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre.

Den klaffende Widerspruch zwischen dem, was die Menschen in Sachsen und Thüringen am meisten brauchen und ihrer parteipolitischen Präferenz versteht nur, wer einen Blick auf die letzten 35 Jahre wirft. Der Strukturbruch der Nachwendejahre, der mit industriellem Ausverkauf, niedriger Tarifbindung, geringen betrieblichen Mitbestimmungsquoten, exorbitanten Lohnunterschieden und einer dysfunktionalen öffentlichen Infrastruktur einherging, bildet seit 35 Jahren die Grundlage für die sich reproduzierende Erfahrung fehlender Anerkennung. Während die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR in den Reden zum 3. Oktober für ihren Mut gefeiert wurden, strafte man ihre Unbeugsamkeit und ihren Wunsch nach Veränderung durch diese Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unerbittlich ab. Fast gewinnt man den Eindruck, als wollte die westdeutsche politische Klasse den Ostdeutschen den Systemsturz nicht so ohne weiteres durchgehen lassen: Denn wer einmal erfolgreich ein System zu Fall gebracht hat, der wird das auch ein zweites Mal für möglich halten.

Deshalb ist der kontinuierliche Zustimmungszugewinn der AfD vor allem auf die Ignoranz und die Verachtung zurückzuführen, die SPD, Grüne, CDU und FDP in den letzten 35 Jahren für die Menschen in Ostdeutschland übrig hatten und die sich in immer mehr Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung ausdrückte. Und diese Parteien waren es auch, die mit einer immer schärferen Abschieberhetorik, mit einer Politik des „nach-unten-Tretens“, mit Law-and-Order und einem Angriff auf die Grundrechte die Programmatik der AfD vorwegnahmen und ihr dadurch den roten Teppich ausrollten. Einmal ganz abgesehen davon, dass die extreme Rechte, die das organisatorische Fundament des AfD-Erfolges sein dürfte, in Thüringen wie in Sachsen jahrzehntelang mit der Unterstützung der Verfassungsschutzbehörden ihre Strukturen aufbauen konnte.

Nun stehen wir vor der Situation, dass nach dem 1. September die Positionen der AfD Regierungsrang bekommen könnten. Und insbesondere in Thüringen ist die Gefahr groß, dass mit Björn Höcke ein Vertreter der AfD Ministerpräsident werden könnte, der über exzellente Kontakte in die Neonazi-Szene verfügt. Dass der Geschichtslehrer Höcke in seiner Freizeit Goebbelsreden analysiert, ist strange. Aber dass so jemand nicht gewusst haben will, dass der Satz „Alles für Deutschland!“ in die Klingen der SA-Dolche eingraviert war und inzwischen verboten ist, drückt seine gesamte Verachtung für die Fundamente der repräsentativen Demokratie aus. Ebenso wie sein Bestreben, völkisches Denken und den Bezug auf die Zeit des deutschen Faschismus hoffähig zu machen.

Was wird aus der Gedenkstätte Buchenwald unter einem Ministerpräsidenten Höcke, der das Gedenken an die Opfer des Faschismus als „dämliche Bewältigungspolitik“ bezeichnet? Wäre eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik – wie Höcke sie fordert – nicht die Verehrung der Täter und die Verhöhnung der Opfer? Und welche Konsequenz hätte eine solche Erinnerungspolitik für den aktuellen Umgang mit Andersdenkenden? Wird die AfD, die den bestehenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit als Konflikt innerhalb der Klasse anschürt, um Kapitalinteressen zu schützen, betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften dulden? Und wie würden AfD-geführte Ministerien mit politischen Seminaren umgehen, die das Betriebsverfassungsgesetz nach ministerieller Genehmigung möglich macht?

Fest steht: Die AfD plant in Thüringen wie in Sachsen einen reaktionären und gefährlichen Umbau des Landes. „Wir werden einen langen Weg des Aufräumen und des Neuaufbauens gehen“, sagte Höcke im November 2023 beim Landesparteitag in Pfiffelbach. Aus dem Mund eines Politikers, der von „Remigration“ und „wohltemperierter Grausamkeit“ gegenüber Andersdenkenden spricht, klingt ein solcher Satz bedrohlich. Der Soziologe Andreas Kemper bescheinigt Höcke daher eine faschistische Gesinnung – nicht nur wegen dessen ultranationalistischen Positionen, sondern vor allem wegen seiner Umsturzideen, die die Bundesrepublik in einem Zustand der Dekadenz und des Niedergangs sehen, aus dem man sie erwecken muss.

Dass trotz dieser Entwicklung die CDU Thüringen über gemeinsame Abstimmungen und AfD-gestützte Minderheitsregierungen den Weg für eine gemeinsame Kooperation mit der AfD ebnet, zeigt die politische Nähe beider Parteien und macht deutlich: Wir brauchen keine Brandmauern, sondern eine andere Politik! Die Erfolge der AfD gründen sich auf das Versagen herrschender Politik im Umgang mit der Polykrise. Rechtspopulistische Bewegungen haben es daher leicht, die „liberalen Eliten“ und deren „Politik der Globalisierung“ für die aktuelle Krisenentwicklung verantwortlich zu machen. Ihre Antwort ist die Rückkehr zum Primat nationaler Politik – wie sich nicht zuletzt in der Bezugnahme auf das SA-Zitat „Alles für Deutschland“ widerspiegelt.

Die Wahlerfolge der AfD signalisieren aber nicht nur den Zusammenhang zwischen den pessimistischen Zukunftserwartungen der Menschen, dem Vertrauensverlust in die politische Klasse und den Aufschwung rechter Parteien. Die Entwicklung zeigt auch, dass innerhalb des herrschenden Blocks die Bereitschaft wächst, Mehrheiten durch die Öffnung nach rechts zu sichern. Diese geht mit der Aufwertung des Nationalstaates zur Bewältigung der Krise einher. Eklatant ist dabei der Zusammenhang zwischen den innenpolitischen Entwicklungen und der geopolitischen Krise. Denn die Idee des Nationalstaates soll Antworten auf die Dynamiken der Veränderung der Weltordnung geben. Gleichzeitig verstärkt aber die Dauerüberforderung der Regierenden die Tendenz, durch Kriege und militärische Operationen oder auch durch die forcierte Aufrüstung und die dafür notwendige materielle und ideologische Unterstützung vom eigenen Versagen abzulenken.

All das zeigt: Nein, die Welt wird am 2. September keine andere sein. Aber die Krisenentwicklungen werden einen anderen Ausdruck bekommen. Dabei wird sich die Bearbeitung der strukturellen Krise des Kapitalismus im Interesse der Kapitalbesitzer zuspitzen. Die gesellschaftliche Linke sollte darauf vorbereitet sein.

Widerspruch und Widersprüche – eine Kolumne von Ulrike Eifler

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