Erdoğans Wahlsieg und die Risse im System

Die Mehrheit sagt "ja" zu ihrem autokratischen Präsidenten. Foto: Dani Logar, licensed under CC BY 2.0, Erneuter Wahlsieg, via flickr.com

Er hat es wieder geschafft. Bei den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei wurde Präsident Recep Tayyip Erdoğan erneut im Amt bestätigt, auch die islamistisch-nationalistische Wahlallianz aus regierender AKP und verbündeter MHP holt die meisten Stimmen. Der Wahlausgang ist wenig überraschend, trotzdem sind aus dem undemokratischen Wahlkampf wichtige Erkenntnisse zu ziehen: Erdoğan ist zwar am Zenit seiner Macht, diese steht aber auf tönernen Füßen. Außerdem ist durch die Wahl klargeworden: In einer Diktatur wird der Wandel nicht über Wahlen kommen. Dafür hat Erdoğans Herrschaftselite bereits gesorgt, nur eine innerstaatliche Implosion wird das System zum Fallen bringen können.

Die Hoffnung war gering, trotzdem engagierten sich unzählige Menschen und kamen ihrer Bürgerpflicht nach und nahmen an einer historischen Wahl teil. Im April 2017 votierte eine dünne Mehrheit für die Einführung eines präsidentiellen Systems, das dem Staatschef auch zum Regierungschef macht und ihm außerordentliche Kompetenzen zugesteht. Diese diktatorischen Vollmachten hatte Erdoğan als türkischer Alleinherrscher ohnehin schon, er brauchte allerdings noch eine weitere formale Bestätigung der autokratischen Herrschaft. Die Wahl, die er mit über 52% schon im ersten Wahlgang für sich entschied, stärkt ihn weiterhin, den Weg eines Staates ganz nach seinen Interessen zu gestalten. Die Gewaltenteilung ist längst Geschichte. Justiz, Parlament und Medien sind gleichgeschaltet und müssen einer dem Autokraten völlig loyalen Riege aus Islamisten und Nationalisten dienen. Auch Polizei und Militär sind dem Präsidenten untergeben, sodass ein zweiter Putsch unzufriedener Militärs nicht zu erwarten ist. Der Umbau des Systems Erdoğan ist weit fortgeschritten, seit bald 10 Jahren bestimmen Repression den politischen Alltag der Türkei. Spätestens seit den Gezi-Protesten 2013 spürt auch die Zivilgesellschaft, was es bedeutet, die Regierung zu kritisieren. Der Krieg, den die AKP mit ihren allgegenwärtigen Anführer gegen Teile der pluralen türkischen Gesellschaft und mittlerweile auch im Ausland führt, kostete zigtausenden Menschen das Leben. Er zerstört Tag für Tag das Leben derer, die nicht einfach „ja“ sagen, sondern zu einer der vielfältigen politischen und sozialen Minderheiten des Landes gehören. Ganz nebenbei diskreditierte und isolierte Erdoğan sein Land international in gefährlichem Ausmaße, mehr als diplomatische Störfeuer sind allerdings nicht erzeugt worden. Dem schlechten demokratischen Gesamtzustand ist sich der Diktator zwar bewusst, um sich und seine Gefolgschaft aber zu schützen, bleibt dem Autokraten eben nichts anderes übrig, als die Unterdrückung und Verfolgung als Staatsfeinde deklarierte Menschen und Gruppen weiterzuführen. Ein Machtwechsel wäre für den stärksten Staatschef seit Kemal Atatürk lebensbedrohlich.

Im Vorfeld der Wahl, die wieder nur für eine Demokratie unwürdigen Bedingungen durchgeführt wurde, lagen die Hoffnungen vieler Kritiker*Innen auf den Kandidaten der kemalistischen CHP, Muharrem Ince. Zwar trat dieser couragiert und angriffslustig auf, die solide Wählerbasis der AKP, die vor allem aus sozial konservativen, islamistischen und im Verbund mit der MHP und ihrem bewaffneten Arm „Graue Wölfe“ nationalistischen Kräfte besteht, konnte er nicht ernsthaft herausfordern. Der Wahlkampf fand erneut im Rahmen des Ausnahmezustandes statt, Demonstrationen und Kundgebungen aller nicht zum rechten Regierungsblock gehörenden soziopolitischen Akteuren praktisch außer Kraft gesetzt. Medien sind vollends unter Kontrolle Erdoğan-naher Konsortien, die im Gegenzug lukrative Aufträge in Energie und Infrastruktur erhalten. Korruption und Vetternwirtschaft ist eine der Hauptgründe für die existenzielle Angst, die den Präsidenten zum Schritt der vorgezogenen Neuwahlen bewogen hat. Immer wieder fallen Namen, die zum direkten Umfeld des Machthabers gehören, auch er stand oft im Fadenkreuz unangenehmer Ermittlungen, die – das ist das heutige System Erdoğan – nicht zu seinem Sturz geführt haben. Über Wahlen abgelöst zu werden, muss sich der Präsident nach dem Staatsumbau in eine diktatorische Präsidialrepublik noch viel weniger fürchten. Seit vielen Jahren ist der gesamte Staatsapparat in Hand der Erdoğan-Clique, die das Überleben der dazu gehörigen Vertreter garantiert. Das Parlament ist entmachtet, dort hätte das rechte religiös-nationalistische Bündnis ohnehin eine satte Mehrheit. Viel mehr wird die Generalversammlung der türkischen Republik zu einer strategischen Plattform werden, die großen Entscheidungen trifft der Präsident seit über zwei Jahren sowieso durch selbstentwickelte Dekrete.

Die Erdoğan-Gegner geben nicht auf. Foto: Jan Maximilian Gerlach, licensed under CC BY-SA 2.0, DSC_6596, via flickr.com

Widerspruch zwar wird gewaltsam unterdrückt, trotzdem behauptet sich mit der linken HDP eine politische Alternative in der politischen Landschaft. Trotz aller Versuche, die politische Stimme vieler Kurd*Innen durch Repression und Gewalt zum Schweigen zu bringen, die HDP schaffte mit 11,7 % erneut den Einzug ins Parlament. Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş sitzt, sowie weitere 6000 Parteimitglieder, in Haft. Auch hier zeigt sich der völlig illegitime Charakter der Wahl. Dennoch erhielt er bei der Präsidentschaftswahl mehr als 8 %, sogar vor der nationalistischen Grauen Wölfin Meral Akşener von der neugegründeten Iyi-Partei, der größere Chancen zugerechnet wurden. Sie hat durch die Kandidatur für das Präsidentschaftsamt keinen Sitz in Ankara, ein klarer Nachteil für sie. Sie wird nun weniger Chancen haben, sich als Frontfrau ihrer Partei präsentieren zu können. Inwieweit sie für die nächsten Jahre Zugpferd der rechtsnationalistischen Iyi sein kann, muss sich zeigen. Auch die Konkurrenz der MHP, ideologisch identisch mit Iyi, wird für die Partei schwierig werden. Immerhin ist die MHP höchstpersönlich von Erdoğan, der die Partei als Mehrheitsbeschaffer und Stimmenfängen braucht, protegiert. Schon bei der Wahl verlor Iyi und seine Anführerin überraschend viel in der Wählergunst. Wodurch die MHP ihren unerwarteten Stimmenzuwachs erzielen konnte, ist nicht ganz klar. Wahlbetrug zugunsten der Pro-Erdoğan-Allianz ist angesichts zahlreicher Unregelmäßigkeiten und Berichte alles andere als abwegig. Bereits das April-Referendum 2017 zur Einführung des Präsidialsystems ist auf Wahlbetrug zurückzuführen, genutzt hat es nichts. Auch dieses Mal sind Menschen, vor allem im kurdisch geprägten Südosten, bedroht und angegriffen worden, wenn die Sympathien zur HDP ausgemacht waren. Wahlbüros im Osten und Südosten des Landes wurden „sicherheitshalber“ zusammengeführt, was für viele kurdische Wähler*Innen eine logistische Herausforderung war. Paramilitärische Sicherheitskräfte von AKP und Grauen Wölfen sowie den berüchtigten vom Staat installierten Dorfschützern, Söldner, die die kurdische Zivilbevölkerung terrorisiert, sollten einen „geregelten“ Wahlablauf im Sinne des Regimes sicherstellen. Wie immer, wollte man hier den „terroristisch motivierten“ Wunsch nach pluralistischer Demokratie und nationaler Emanzipation unterdrückerisch entgegentreten.

Der Weg in die Autokratie: Wie geht’s weiter?

Erdoğans Alleinherrschaft ist dennoch eingeführt worden. Der uneingeschränkte Machtanspruch zementiert sich immer weiter, auch weil die internationale Gemeinschaft, teils mit selbsterklärten „europäischen“ Werten, die AKP-Regierung bis heute nicht ernsthaft in Bedrängnis bringen möchte. Zu wichtig ist die Türkei als Abnehmer von Waren und Waffen und geostrategischer Dreh- und Angelpunkt zwischen Europa, Eurasien und dem Nahen Osten. Diese besondere Stellung, die so gut wie kein politischer Akteur zu ändern wagt, schützte jede türkische Regierung, auch die des social engineers Tayyip Erdoğan, der die Türkei 2023, 100 Jahre nach der Gründung, zu seinem Land machen will. Um diesem Ziel näher zu kommen, wird er sein engmaschiges repressives Netz weiterspannen, im entmachteten Parlament gibt es eine klare 2/3-Mehrheit aus rechten Kräften, die den türkischen Nationalismus, die konservativ-islamistische Linie und den auf Erdoğan zugeschnittenen repressiven Klientelismus unterstützen. Erwartet wird, dass die Regierungsallianz ihren Kampf gegen Systemgegner*Innen weiter ausbaut, der Krieg gegen Kurd*innen im In- und Ausland wird womöglich bis in die Kandilberge im irakischen Kurdistan ausgeweitet werden. Wie in Syrien befinden sich im Irak – völkerrechtswidrig – auf Boden eines souveränen Nachbarstaates. Hier soll die kurdische Arbeiterpartei PKK, die im Kandilgebirge ihren Rückzugsort hat, durch weitere militärische Operationen geschwächt werden. Nichts hat sich in der jüngsten Vergangenheit in allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Schichten als populärer herausgestellt, als einen Krieg gegen die Kurd*Innen, ob militant oder zivil, loszutreten. Nach Eroberung und Auslöschung der kurdischen Spuren in deren angestammten Gebieten, beabsichtigt Ankara die Ansiedlung sunnitischen Araber und Turkmenen in Syrien und dem Irak, die die kurdische Bevölkerung dort ethnisch ersetzen soll. Nur einige kurdische Zivilorganisationen, Medien, Parteien und Aktivist*Innen treten der nationalen Aggression weiterhin entgegen, ihnen ist es in den letzten Jahren durch Repression immer schwerer gemacht werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich die prokurdische HDP nach ihrem beachtlichen Wahlerfolg im politischen Parlamentsbetrieb einer rechtslastigen und populistischen Republik behaupten kann.

Meral Akşener schnitt überraschend schlecht ab. Foto: Yıldız Yazıcıoğlu (VOA), licensed under Public Domain Mark 1.0, Meral Akşener İYİ Party 1.jpg, via wikimediacommons

Während die MHP an Bedeutung gewann und auch in Zukunft Zünglein an der Waage der gnadenlosen AKP-Herrschaft spielen wird, muss sich Iyi neu positionieren. Bleibt sie Gegenkraft der Regierungsallianz rund um den Präsidenten und betont sie ihre Abgrenzung oder schließt sie sich aufgrund ihrer programmatischen Nähe der autoritären, nationalistischen und islamistischen Agenda an? Mit Linken, Liberalen, Säkularen, Intellektuellen, Kurd*Innen oder sonstigen Oppositionellen hätten diese Lager zumindest einen gemeinsamen Feind, den sie in ihrem Sinne bekämpfen können. Hier rechnen Beobachter*Innen mit einer ideologischen Annäherung, wenn auch die die personalistische Herrschaft Erdoğans der große Streitpunkt bleiben wird. Die zentristische CHP spricht nach dem enttäuschenden Wahlausgang erneut von einen Neuanfang, der wohl auch mit der Ablösung des bisherigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu einherkönnte. Zwar präsentierte sich der Präsidentschaftskandidat Ince auffällig offensiv, der Stimmenanteil blieb aber sogar noch hinter den der letzten Wahlen zurück. Dennoch konnte sich Ince in der politischen Mitte profilieren, eine ernstzunehmende liberale Gegenkraft zur autoritären Führerschaft Erdoğans wird sich der Nationalist allerdings auch kaum eignen. Für viele genuin linke und kurdische Wähler*Innen kommt Ince mit der Atatürk-Nachfolgepartei, die noch immer eine unversöhnliche Kurden- und Minderheitenpolitik befürwortet, kaum in Frage. In diesen Fragen besteht von der CHP in der politische Mitte bis hin zur äußeren Rechte um Iyi, MHP und AKP absoluter Konsens. Die soziopolitischen Gräben, die die eigentlich pluralistische Türkei heute noch prägen und lähmen, haben ihren Ursprung im vergangenen Jahrhundert. Weder die prowestlichen kemalistischen Militärregimes noch die nun regierende religiös-orientierte neoliberale AKP hatten sich um sozialen Ausgleich in aller Hinsicht bemüht. Soziale Gerechtigkeit spielt in den politischen Debatten so gut wie nie eine Rolle, dagegen werden viele soziale Konflikte nationalistisch aufgeladen, befeuert und gewaltsam ausgetragen.

In den nächsten Jahren wird vor allem die wirtschaftliche Entwicklung des Landes für die türkischen Bürger*Innen von Bedeutung sein. Hier wird sich der allgegenwärtige Diktator messen lassen müssen, nicht an der demokratischen Qualität, dem Zustand der Bürgerrechte, der Frage von Krieg und Frieden oder dem Umgang mit Kritiker*Innen. Die Menschenrechtslage ist desaströs, für die Bevölkerungsmehrheit in ihrem Alltag und entsprechend ihrer politischen Überzeugung auch nicht von Relevanz. Erst wenn die bislang loyalen Bürokrat*Innen der Staatspartei ihrem unumstrittenen Führer die Unterstützung versagten oder die Wähler*Innen begreifen, welche Entfremdung von den eigentlichen Bürgerinteressen vollzogen ist und welche Gefahr vom wirtschaftlichen Abschwung ausgeht, wird das System ins Schlingern geraten. Gerade hiervor hat Erdoğan Angst, denn die Mehrheit der Türk*Innen verlangt keine ausgleichende und respektvolle Politik gegenüber andersdenkenden politischen und sozialen Gruppen, sie wollen ihren Wohlstand gesichert sehen und erst wenn die AKP das nicht mehr liefern kann, wird die Situation brenzlig. Der menschenverachtende Populismus, der in der nationalistischen türkischen Staatsideologie Tradition hat, wird auch in den nächsten Jahren seine Kontinuität erfahren. Eine demokratische Erneuerung durch Wahlen ist – das hat sich zumindest seit 2015 manifestiert – nicht mehr möglich. Das System Erdoğan wird implodieren, die Frage ist nur wann. Aus der internationalen Gemeinschaft, der Europäischen Union und der NATO wird die Kritik am fatalen Staatszerfall, der dem absoluten Machtanspruch des Autokraten geschuldet ist, weiterhin ausbleiben. Der feste Kontrollgriff, der von Erdoğan seit Jahren auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens und im Staate selbst ausgeübt wird, ist trotzdem nicht fest genug, um alles und jeden zu kontrollieren. Hier bieten sich Schlupflöcher und kleinste Spielräume, die nicht nur von Regimegegner*Innen ausgenutzt werden können. Machtspiele finden auch in erdoğannahen Lagern statt, nur wenn alle Zahnrädchen ineinander greifen, ist der erste Mann im Staate geschützt. Erdoğan wird seine autokratische, tödliche Herrschaft institutionalisieren können, doch nur auf Kosten einiger Risse im System. Diese werden früher oder später sein Ende einläuten, diesen Optimismus will sich trotz der aussichtslosen Lage keiner nehmen lassen.

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