Regelmäßig kommt es im Zusammenhang mit pro-palästinensischen Protesten zu brutaler Polizeigewalt gegen Demonstrierende. Protestcamps werden geräumt, Versammlungen untersagt und ganze Einrichtungen geschlossen. Befeuert wird dieses Vorgehen durch mediale Diffamierungen und den pauschalen Vorwurf, es handle sich bei den Protestierenden um „gewaltbereite Antisemit*innen“. Der Berliner Strafverteidiger Benjamin Düsberg spricht im Interview darüber, wie er diese Repressionswelle wahrnimmt und welche Aussichten es gibt, sich vor Gericht dagegen zu verteidigen.
Benjamin Düsberg ist Strafverteidiger in Berlin und Mitglied eines Kollektivs palästinasolidarischer Anwält*innen. Das Interview wurde geführt von Katharina Schoenes.
Hast du eine ungefähre Einschätzung, gegen wie viele Menschen aktuell Verfahren laufen, weil sie sich gegen den Krieg in Gaza engagieren? Und kannst du einen Einblick geben, was ihnen vorgeworfen wird?
Die Berliner Staatsanwaltschaft hat dazu kürzlich Zahlen veröffentlicht. Bis Mitte Oktober 2024 gingen dort rund 3.200 Verfahren mit Bezug zu „Nahost-Demonstrationen“ ein. Es dauert aber oft einige Monate, bis die Polizei die Verfahren an die Staatsanwaltschaft weitergibt. Deshalb ist anzunehmen, dass es viele weitere Verfahren gibt, die in dieser Zahl noch nicht berücksichtigt sind. Dann kommen noch hunderte Ordnungswidrigkeitsverfahren dazu, die nicht über die Staatsanwaltschaft laufen. Da geht es um mutmaßliche Verstöße gegen das Versammlungsrecht wegen der Teilnahme an untersagten Versammlungen.
Wenn man alles zusammennimmt, ist von schätzungsweise rund 4.000 Verfahren auszugehen, was mehr als zehn Verfahren pro Tag seit dem 7. Oktober 2023 wären. Und das allein in Berlin. Für andere Städte kenne ich die Zahlen nicht, aber ich gehe davon aus, dass in Frankfurt am Main, München, Duisburg oder Hamburg viele ähnliche Verfahren laufen. Die Vorwürfe betreffen hauptsächlich „klassische“ Demonstrationsdelikte, also Widerstand oder tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte, Gefangenenbefreiung, Landfriedensbruch sowie Hausfriedensbruch bei Besetzungen an den Universitäten. Hinzu kommen, und das ist eine Besonderheit, sehr viele sogenannte Meinungsdelikte. Das betrifft zum Beispiel die Parole „from the river to the sea“.
Häufig schickt die Justiz den Betroffenen einen Strafbefehl. Zur Verhandlung kommt es nur, wenn sie sich entscheiden, die Strafe nicht zu akzeptieren und Widerspruch einzulegen. Kommt es deiner Erfahrung nach häufig vor, dass Personen aus der palästinasolidarischen Bewegung Strafbefehle akzeptieren, weil sie eingeschüchtert sind oder nicht um diese Möglichkeit wissen?
Als Anwalt bekomme ich natürlich in der Regel die Fälle nicht mit, in denen kein Einspruch eingelegt wurde, insofern ist es ein Stück weit Spekulation. Mein Eindruck ist aber, dass die Menschen, die in der Palästinabewegung aktiv sind, im Schnitt eher eine hohe Bildung haben und gut vernetzt sind. Sie haben also die Ressourcen, sich Rat und Unterstützung zu holen. Der Strafbefehl ist ein klassisches Instrument der Armutsbestrafung. Er funktioniert – aus Perspektive der Justiz – immer dann gut, wenn die Betroffenen vereinzelt sind und nicht über ihre Rechte Bescheid wissen. Es passiert in diesem Bereich sehr häufig, dass die Menschen gar nicht verstehen, dass ein Strafbefehl wie ein rechtskräftiges Urteil ist und dass es wichtig wäre, dem zu widersprechen. Er wird – leider auch von vielen Sozialarbeiter*innen – wie eine Zahlungsaufforderung verstanden, wie ein Schuldtitel, den man begleichen muss und bei dem man bestenfalls noch eine Ratenzahlung beantragen kann. Das kann verheerende Folgen haben und aus linker Perspektive muss man dagegen wirklich Widerstand leisten. Aber im Palästina-Kontext stellt es aus meiner Sicht wie gesagt kein größeres Problem dar.
Mein Eindruck ist, dass es in den letzten Wochen vergleichsweise viele Berichte über Freisprüche und Verfahrenseinstellungen gab. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Justiz der ausufernden Kriminalisierung durch Polizei, Medien und Politik wenigstens punktuell Einhalt gebietet?
Ich teile den Eindruck, dass viele der Verfahren, die von der Polizei eingeleitet wurden, nicht zur Verurteilung oder sogar nicht einmal zu einer Anklage geführt haben. Etwa 80 Prozent der 3.200 Verfahren, die die Polizei der Berliner Staatsanwaltschaft übergeben hat, sind bereits abgeschlossen. Nur in 363 Fällen gab es Anklagen, das ist im Verhältnis eine eher geringe Zahl. In nur 20 Fällen gibt es bereits ein rechtskräftiges Urteil. Diese Bilanz ist ein starker Hinweis darauf, dass die Polizei extrem viele Verfahren unberechtigterweise eingeleitet hat. Zugleich deuten die Zahlen darauf hin, dass die Justiz sich zumindest partiell nicht einfach als verlängerter Arm der Polizei begreift, sondern eine gewisse Kontrollfunktion wahrnimmt. So sollte es ja auch sein.
Bei einem Prozess Ende September wurde ein Mandant von dir freigesprochen, weil ihr mit einem Video von der Demo beweisen konntet, dass die Vorwürfe gegen ihn erfunden waren. Welche Rolle spielen Videoaufnahmen als Ressource, um Behauptungen von Polizei und Staatsanwaltschaft widerlegen zu können?
Die Bedeutung von Videos ist gar nicht zu überschätzen. Wenn es keine Videos gibt, die die Angaben der Polizei widerlegen, sind die Chancen vor Gericht häufig sehr gering. Es ist immer noch so, dass die Gerichte den Aussagen von Polizist*innen ein sehr hohes Vertrauen entgegenbringen. Dabei sind Polizist*innen nicht „neutral“: Gerade bei Widerstandsvorwürfen, die sie selbst betreffen, ist offensichtlich, dass sie ein hohes Eigeninteresse am Ausgang des Strafverfahrens haben, schon um ihre eigene Gewaltanwendung im Zuge von Festnahmen zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die Polizei im Ermittlungsstadium sehr viel kontrollieren und das Verfahren in eine bestimmte Richtung lenken kann. Das vor Gericht umzukehren, ist ganz schwierig. Es sei denn, es gibt Videos. Interessanterweise ist es fast immer so, dass die Videos etwas anderes zeigen, und zwar etwas deutlich anderes, als das, was die Polizei behauptet. Deshalb ist es wichtig, dass bei den Palästina-Demonstrationen so viel gefilmt wird. Die Freisprüche, die es in diesem Zusammenhang bislang gab, gingen alle auf Videobeweise zurück.
Du hast es schon angesprochen: Eine Besonderheit bei der Verfolgung der Palästinabewegung besteht darin, dass häufig bestimmte Meinungsäußerungen kriminalisiert werden. Wie gehen die Gerichte mit diesen Verfahren um?
Was etwa die Parole „from the river to the sea“ angeht, ist die Rechtsprechung der Untergerichte bislang völlig uneinheitlich. Es gibt auch noch keine obergerichtlichen Entscheidungen der Strafgerichte. Das Landgericht Mannheim hat zunächst als oberstes deutsches Strafgericht im Juni eine Strafbarkeit der Parole abgelehnt, einige Abteilungen des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten sind dem gefolgt. Trotzdem gehen Polizei und Staatsanwaltschaften bundesweit weiterhin dagegen vor, nehmen reihenweise Menschen auf Demonstrationen fest, durchsuchen Wohnungen und beschlagnahmen Computer. Das alles hat eine extrem einschüchternde Wirkung auf die palästinasolidarische Bewegung, viele Menschen haben inzwischen Angst, auf die Demos zu gehen. Es bleibt abzuwarten, ob die Gerichte diese massive und unberechtigte Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit mittragen werden oder ob sie dem einen Riegel vorschieben. Die zweite Strafkammer des Landgerichts Berlin hat das Benutzen des Slogans laut Medienberichten Anfang November als „Verwenden von Kennzeichen terroristischer Organisationen“ eingestuft. Die schriftlichen Entscheidungsgründe hierzu liegen noch nicht vor. Demnächst steht zu der Parole eine weitere Entscheidung des Landgerichts Berlin an.
Es gibt nicht nur Repression, sondern auch viel Solidarität. Verschiedene Gruppen organisieren Rechtsberatung, vermitteln Anwält*innen, begleiten Menschen ins Gericht, organisieren dort Kundgebungen. Wie nimmst du diese Solidarität wahr, lassen die Richter*innen sich davon beeindrucken?
Ja, definitiv. Das ist nicht spezifisch für Palästinaprozesse, sondern gilt eigentlich immer. Wenn kritische Öffentlichkeit vor Ort ist, verhalten sich die Verfahrensbeteiligten disziplinierter. Je mehr Leute im Publikum sitzen, desto stärker ist das bemerkbar. Richter*innen mögen das nicht gerne und haben auch etwas Angst davor. Die Präsenz von Prozessbeobachter*innen hat im positiven Sinne einen einschüchternden Effekt auf willkürliche Machtausübung der Justiz.
Vor dem 7. Oktober 2023 und der verschärften Kriminalisierung der Palästinabewegung gab es eine krasse Repressionswelle gegen Klima-Aktivist*innen. Auch hier kam es zu massiver Polizeigewalt und sehr harten Urteilen. Parallel dazu sehen wir ein sehr repressives Vorgehen gegen Antifaschist*innen. Ist all das Ausdruck derselben Entwicklung, nämlich eines autoritären Staatsumbaus, der mit einer Zunahme an Repressionen gegen alle Linken einhergeht? Oder siehst du Besonderheiten bei der Verfolgung der Palästinabewegung – etwa im Hinblick darauf, dass diese durch ihre Opposition zur deutschen Staatsräson als größeres „Ärgernis“ oder vielleicht auch als größere Bedrohung wahrgenommen wird?
Ich denke, beides ist richtig. Die Tendenz zum Abbau von Grundrechten und einem autoritäreren Staat gibt es eindeutig. Der größere Kontext ist das Hinarbeiten auf „Kriegstüchtigkeit“. Die Kehrseite der Militarisierung nach außen ist der Ausbau von Repressionsinstrumenten im Inneren. Das betrifft erstmal alle linken Bewegungen. Ein Symptom sehe ich in der gestiegenen Zahl an Demonstrationsverboten. Diese waren früher wirklich selten, weil die Rechtsprechung da sehr hohe Hürden gesetzt hat. Aber in der Corona-Zeit wurde es einfacher, Demonstrationen auch umfassend zu verbieten. Es hat ein Gewöhnungseffekt eingesetzt, und jetzt werden in anderen Kontexten „die Früchte geerntet“. Im Palästinakontext ist es gerade am Anfang nach dem 7. Oktober 2023 sehr häufig zu Versammlungsverboten gekommen.
Wenn ich die Palästinabewegung mit der Klimabewegung vergleiche, sehe ich auch Unterschiede. Klar, in der Springerpresse gibt es Hetze gegen die „Klimakleber“, aber in den Gerichtssälen zeigt sich oft auch ein Rest an Sympathie. Häufig sagen die Richter*innen, das Anliegen sei richtig, nur die Methode falsch, die Aktivist*innen sollten sich lieber in Parteien engagieren oder ähnliches. Das Ausmaß an Gewalt und Repression ist bei der Palästinabewegung viel heftiger, weil deren Anliegen konträr zur Staatsräson stehen: Dass man ungehindert solidarisch mit Israel sein und Waffen liefern will, selbst wenn in Gaza gerade ein Genozid passiert. Die Protestierenden werden nicht als Personen mit einem beachtenswerten Anliegen, sondern als Gegner*innen oder gar als Feind*innen betrachtet und behandelt. Dass der Protest gegen die deutsche Politik der Genozid-Beihilfe von vielen Nichtdeutschen getragen wird, führt dazu, dass die Polizei sich umso mehr ermächtigt fühlt, die Staatsräson „durchzuknüppeln“. Politisch und medial ist das ja auch gewünscht. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Repression auf vielen verschiedenen Ebenen stattfindet, nicht nur im Strafrecht, sondern es geht auch um die Schließung von Einrichtungen, den Entzug von Förderungen, Jobverlust, Exmatrikulation und – ganz wichtig – aufenthaltsrechtliche Maßnahmen. Da geht es schnell an die Existenz, das hat einen sehr einschüchternden Effekt. Die Bewegung ist dadurch enorm dezimiert worden.
Spielen mögliche aufenthaltsrechtliche Konsequenzen eine Rolle dabei, wie du verteidigst?
Ja, das müssen wir Verteidiger*innen ganz stark mitdenken, weil je nach Aufenthaltsstatus schon eine kleine Verurteilung aufenthaltsrechtliche Nachteile mit sich bringen kann. Nicht selten kommt es vor, dass ich eigentlich für das Strafverfahren gute Chancen sehe, meine Mandant*innen sich aber trotzdem entscheiden, auf Nummer sicher zu gehen und einen „Deal“ zu machen. Sie wollen und können das Risiko, dass am Ende eine Verurteilung in einer Höhe rauskommt, die negative aufenthaltsrechtliche Konsequenzen hätte, nicht eingehen. Das Aufenthaltsrecht behindert häufig eine effektive Strafverteidigung.
Benjamin Düsberg ist Strafverteidiger in Berlin und Mitglied eines Kollektivs palästinasolidarischer Anwält*innen. Das Interview wurde geführt von Katharina Schoenes und erschien in gekürzter Form zuerst hier bei ak – analyse&kritik.
Wir bedanken uns bei allen Beteiligten für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung!