Die illegalen Kriege der NATO

Im Zuge ihrer Legitimationskrise 1990 transformierte sich die NATO unter dem Dogma der „humanitären Intervention“ zu einem agressiven Angriffsbündis, das fortan in illegale Kriege verwickelt war – Kosovo 1999, Afghanistan ab 2001, Libyen 2011 als prominenteste Beispiele. Der Teufelskreis der Gewalt muss durchbrochen werden, indem die Politik der Straffreiheit ein Ende findet und sich die Verantwortlichen wegen ihrer Kriegsverbrechen vor internationalen Gerichten verantworten müssen.

Dies ist der zweite Teil eines dreiteiligen NATO-Specials.
Den ersten Teil – Der Imperialismus der NATO – findest Du hier.

Im Interview mit Al-Jazeeras brillantem Mehdi Hasan erklärte der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im April 2015: „Die NATO ist die erfolgreichste Friedensbewegung, die die Welt je gesehen hat.“ –Gelächter im Publikum. In ihrem NATO-Faktencheck erklärt auch die deutsche Bundesregierung, die NATO sei eine „Wertegemeinschaft,“ die „Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“ promotet. Der vorliegende Text wird darlegen, dass die Realität diesem Anspruch Lügen straft, und um eines vorwegzunehmen: keiner der NATO-Kriege hatte die Verteidigung eines Mitgliedsstaats zum Ziel, sämtliche Einsätze sind (mit gewissen Abstufungen) illegal, da völkerrechtswidrig.

Die NATO ist eine kriminelle Vereinigung.

Der Feind ist abhandengekommen

Während der viereinhalb Jahrzehnte des Kalten Krieges kam es zwar zu Kriegen von einzelnen NATO-Mitgliedsstaaten, wie in Vietnam, und zu Proxy-Kriegen, etwa durch die von den USA unterstützten Dschihadisten des späteren Erzfeindes Osama bin Laden in seinem Kampf gegen sowjetische Invasoren, das apokalyptische Szenario eines Endkampfs von NATO vs. Warschauer Pakt blieb jedoch aus und es kam zu keiner militärischen Operation unter NATO-Führung.

Mit dem Untergang der Sowjetunion sollte sich all dies ändern, der rote Feind ist abhandengekommen. Die NATO war obsolet. Sie hätte sich auflösen und die vielversprochene Friedensdividende ausschütten sollen. Sie wählte den entgegengesetzten Weg. Aus ihrer Legitimationskrise heraus wurde das Konzept der „humanitären Intervention“ aus der Taufe gehoben und so wandelte sich die NATO von einem passiven Verteidigungsbündnis schnell in ein imperialistisches und aggressives Angriffsbündnis.

Abbildung der NATO-Osterweiterung nach 1990 und potentielle Beitrittskandidaten. Inkorporation der Krim ins Staatsgebiet der Russischen Föderation. By Jakob Reimann, JusticeNow! licensed under CC BY-ND 4.0.

Die Ursünde auf dem Balkan

Ihren ersten internationalen Auftritt hatte die NATO in den 90er Jahren auf dem Balkan, wo das ehemalige Jugoslawien unter dem Sozialisten Slobodan Milošević zerstückelt wurde – die „Balkanisierung.“ Nach dem Slowenien-, dem Kroatien- und dem Bosnienkrieg lag Ende der 90er der Kosovo im Zentrum des Geschehens. Hier kämpfte die aus Albanern bestehende Befreiungsarmee des Kosovo, besser bekannt als UÇK, gegen die jugoslawische Zentralregierung für eine Abspaltung des Kosovo. Die NATO stieg bald an Seite der UÇK in den Krieg ein und insbesondere deutsche Politiker übten sich in Propaganda, um – mehr als 50 Jahre, nachdem Hitlers Truppen auf dem Balkan wüteten – deutsche Soldaten erneut in einen Krieg in der Region hineinzulügen.

Zentral in der deutschen Kriegseintrittspropaganda war das „Massaker von Rogovo“. Rudolf Scharping präsentierte der deutschen Öffentlichkeit schreckliche Bilder des vermeintlichen Massakers, obwohl bereits während dieser berüchtigten Pressekonferenz Scharpings Verteidigungsministerium wusste, dass es sich keineswegs um ein Massaker an Zivilisten handelte, sondern um ein Gefecht zwischen regulären UÇK-Kämpfern und der serbischen Armee. Ebenso unverschämt war Scharpings Lüge vom vermeintlichen Konzentrationslager in der kosovarischen Hauptstadt Priština, die dem Mürbemachen der deutschen Bevölkerung galt. Die moralische Erpressung lieferte Scharping dann gleich mit: als „zivilisierte Europäer“ dürften wir die Augen nicht weiter verschließen, außer wir wollten „in die Fratze der eigenen Geschichte schauen.“ Ebenso legendär in der Kosovo-Propaganda ist Joschka Fischers „Nie wieder Auschwitz!“

Wie oft ist Hitler nicht schon von den Toten auferstanden?

Heute wissen wir, dass all das gelogen war. Der damals leitende deutsche General bei der OSZE, Heinz Loquai, stellt zweifelsfrei fest:

„Die Legitimationsgrundlage für die deutsche Beteiligung war die so genannte humanitäre Katastrophe. Eine solche humanitäre Katastrophe als völkerrechtliche Kategorie, die einen Kriegseintritt rechtfertigte, lag vor Kriegsbeginn im Kosovo nicht vor.“

Und Norma Brown, US-Diplomatin im Kosovo, ergänzt: „Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, sobald die NATO bombardiert.“

Auf die Farce vermeintlicher Diplomatiebemühungen, die von der NATO derart konstruiert waren, dass sie scheitern mussten, folgten ab März 1999 schließlich 78 Tage, in denen NATO-Kampfjets Serbien und den Kosovo bombardierten – ohne UN-Mandat, ohne Zweifel völkerrechtswidrig also, ein illegaler Krieg.

Die Bundesregierung und die deutsche Presse als willfährige Komplizen zum Mürbemachen der deutschen Bevölkerung. Rudolf Scharping und sein gelogenes „Massaker von Rogovo“ auf der Titelseite des „Kölner Express“ vom 28.4.1999.

Neben militärischen Zielen nahm die NATO als Teil ihrer Kriegsstrategie vorsätzlich zivile Infrastruktur unter Beschuss. Industrieanlagen wurden systematisch bombardiert, ebenso sensible Chemiewerke mit katastrophalsten Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Streubomben wurden in Stadtzentren eingesetzt. Gezielt wurden Kraftwerke zerstört, es kam zum „Kollaps“ des serbischen Stromnetzes und zu Havarien. Flächenbombardements, Landminen, radioaktive und hochgiftige Uranmunition wurden großflächig eingesetzt. Die serbische Rundfunkanstalt in Belgrad wurde mutwillig zerstört, Noam Chomsky spricht hierbei von Terrorismus und vergleicht den NATO-Angriff – auch hier wurden vorsätzlich Journalisten getötet – mit dem Charlie Hebdo-Massaker von Paris. 16 Krankenhäuser und 190 Schulen wurden bombardiert. Hotels, Brücken, Ministerien, Ölraffinerien, Denkmäler, die chinesische Botschaft, Polizeistationen, Bibliotheken, Gefängnisse, Flughäfen, Klöster, Wasserwerke, Bahnhöfe, Kirchen wurden bombardiert. Mehrere Flüchtlingslager wurden angegriffen. Die NATO, so scheint es, wütete in Jugoslawien wie im Rausch.

Amnesty International sprach unzweideutig von Kriegsverbrechen der NATO und forderte, die Verantwortlichen als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen.

Nach mehr als 10.000 Toten endete der Kosovokrieg schließlich im Juni 1999, Slobodan Milošević wurde ein Jahr später gestürzt und an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert, wo er vor seiner Verurteilung verstarb. Der Kosovo blieb formal Teil Serbiens, wurde jedoch von UN und NATO verwaltet und erklärte sich im Februar 2008 für unabhängig.

Aus Angst vor Racheakten verließen viele Serben nach dem Krieg freiwillig den Kosovo, bis zu 350.000 Menschen wurden anschließend gewaltsam von der UÇK vertrieben, Serben, Roma, Juden, Nicht-Albaner. Die Gewalt gegen Minderheiten nahm pogromartige Züge an. „Die humanitäre Intervention der NATO,“ meint Alan J. Kuperman von der University of Texas, „half den extremen Nationalisten des Kosovo bei ihrem langfristigen Ziel einer ethnisch reinen albanischen Provinz.“

Wie sich nur allzu oft bewahrheiten sollte, war es seit der großen Sinnkrise von 1990 eine zentrale Strategie der NATO, mit Terroristen zusammenzuarbeiten. Über den Partner im Kosovo, die UÇK, sagte Bill Clintons Sonderberater für den Balkan ein Jahr zuvor noch: „Ohne jede Frage eine Terrorgruppe.“ Und auch im Bosnienkrieg Mitte der 90er kämpfte die NATO Hand in Hand mit Al-Qaida gegen Miloševićs Truppen – die NATO fungierte de facto als die Luftwaffe der Dschihadisten. Auch der zentrale Player des nächsten Kapitels der illegalen NATO-Kriege trieb in den 1990ern auf dem Balkan sein Unwesen: Osama bin Laden.

Der “Kreuzzug” in Afghanistan

Wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September erklärten die USA ihren War on Terror, der die Welt erneut in zwei Lager einteilen sollte: „Either you are with us, or you are with the terrorists.“ Die erste Etappe war Afghanistan – ein Krieg, den der hochreligiöse George W. Bush als „Kreuzzug“ bezeichnete und der zum längsten Krieg in der Geschichte der USA werden sollte. Osama bin Laden sei der Kopf hinter 9/11, die Taliban gewährten ihm Unterschlupf und deshalb müsse die USA in Afghanistan einmarschieren – so die gängige Lesart des Krieges.

Wenige Tage nach Beginn der Bombardierung boten die Taliban den USA jedoch an, bin Laden an ein Drittland auszuliefern, sollten Beweise für seine Schuld an den 9/11-Anschlägen vorgelegt werden. Bush wies dieses Angebot mit den Worten zurück: „Es gibt keinen Grund, über Schuld und Unschuld zu diskutieren. Wir wissen, dass er schuldig ist.“ Die Ironie dieses Vorfalls ist grotesk: eine dschihadistische Terrororganisation fordert die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien ein, während der „Anführer der freien Welt“ den Weg unilateraler Gewalt geht. Fakt ist: es gibt diese Beweise nicht. Zumindest wurden vom zuständigen FBI nie welche vorgelegt und Osama bin Laden wurde offiziell nie der Anschläge vom 11. September bezichtigt. Und so führt der Westen – zunächst nur die USA und UK, ab August 2003 übernahm schließlich die NATO die Führung, so dass sich die USA auf ihren parallel geführten illegalen Angriffskrieg im Irak konzentrieren konnten – einen mehr als zwielichtigen, bis heute andauernden Krieg, der genau wie die Invasionen Afghanistans durch Alexander den Großen, Dschingis Khan, das British Empire oder die Sowjetunion von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Nicht umsonst wird das Land auch „Graveyard of Empires“ genannt.

Einst gern gesehene Gäste im Weißen Haus wurden die Taliban 2001 durch die USA gestürzt, da sie einem anderen alten Freund der USA – Osama bin Laden – in den Bergen Afghanistans Unterschlupf gewährten. Die afghanischen Mudschaheddin waren die Vorläufer von Taliban und Al-Qaida, hier im Oval Office mit Präsident Reagan, 1983. By Unknown, possibly Tim Clary, Wikimedia Commons, published under public domain.

In der sehr zu empfehlenden wissenschaftliche Studie Dangerous Precedent: America’s Illegal War in Afghanistan der University of Pennsylvania beschreibt Law Professor Ryan T. Williams, dass bereits die US-Invasion 2001 selber völkerrechtlich höchst zweifelhaft war, da der Krieg von Anfang an in erster Linie den Sturz der Taliban-Regierung verfolgte und nicht die Bekämpfung des vermeintlichen 9/11-Attentäters Al-Qaida. Ein bloßes Unterschlupf Gewähren einiger Al-Qaida-Kämpfer durch die Taliban reicht aus Sicht des Völkerrechts keineswegs aus, um eine Invasion zu legitimieren. Auch die UN-Resolution 1368 legitimiere den Überfall der USA nicht in Genüge. „Mehr als ein Jahrzehnt später,“ so stellt Professor Williams unmissverständlich klar, „gibt es kein einziges internationales Gesetz, mit dem der fortwährende Einsatz militärischer Gewalt vereinbar wäre.“ Und so reiht sich der Afghanistan-Krieg ein in die Liste der illegalen NATO-Kriege.

Ein Krieg also, der mit dem offiziellen Ende der NATO-Mission im Dezember 2014 einen Scherbenhaufen zurückgelassen hat, ein zerstörtes Land. Ein Krieg, in dem direkt fast 100 Tausend Menschen gestorben sind, 26 Tausend tote Zivilisten darunter, durch indirekte Kriegsfolgen weitere unaussprechliche 360 Tausend Tote. Statt „Mädchenschulen und Brunnen“ zu bauen, wurde unter der von den USA gekauften Marionetten-Regierung Karzai der zum Sturz der Taliban 2001 nicht vorhandene Opiumhandel reaktiviert – teils mit aktiver Beihilfe der CIA – mit dem Ergebnis, dass heute über 90 Prozent (sic!) des weltweiten Heroins aus Afghanistan stammen. Obwohl ein Taliban-Führer nach dem anderen getötet wurde, ist die Terrororganisation heute stärker als je zuvor und hat mehr Gebiete unter Kontrolle als zu jedem anderen Zeitpunkt seit der Invasion 2001. Al-Qaida ist in Afghanistan ebenfalls wiedererstarkt und pflegt enge Verbindungen zu den Taliban. Auch der Islamische Staat hat eine Afghanistan-Filiale etabliert.

Nach 16 Jahren Krieg steht die afghanische Zivilbevölkerung heute am Rand einer humanitären Katastrophe, ihr Elend ist größer als vor der US-Invasion 2001. Oder mit den Worten des renommierten Middle East-Analysten Anders Corr: „Die Medizin des Westens ist schlimmer als die Krankheit der Taliban.“ Die NATO hat auf ganzer Linie versagt, sie hat keines ihrer Kriegsziele erreicht und den Krieg klar verloren. Dieser Umstand ist den meisten in dieser Klarheit nicht bewusst: die NATO hat den Krieg in Afghanistan verloren.

Libyen – die NATO als „Al-Qaidas Luftwaffe“

Die anfangs friedlichen Demonstrationen zum Arabischen Frühling in Libyen 2011 eskalierten immer öfter zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Gaddafi-Treuen innerhalb des libyschen Militärs einerseits und andererseits von Hillary Clinton und Frankreich massiv hochgerüsteten Dschihadisten, die schnell den friedlichen Protest unterwanderten (die Waffenlieferungen des Westens verstießen gegen das UN-Waffenembargo gegen Libyen und waren demnach illegal). Von der interventionistischen NATO-Führung wurde unter dem Vorwand des Schutzes der libyschen Zivilbevölkerung ein Kriegseintritt der NATO forciert. Insbesondere die UN-Vetomächte Russland und China waren jedoch gegen einen Militäreinsatz, denn sie befürchteten mit Saddams Irak 2003 im Hinterkopf einen erneuten Regime Change eines unliebsamen Diktators durch den Westen. Beide enthielten sich letztlich jedoch ihres Vetos, was zur Verabschiedung der UN-Resolution 1973 führte, die unter anderem die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen vorsah.

Die USS Barry feuert am 19. März 2011 vom Mittelmeer aus einen Tomahawk-Marschflugkörper auf die libysche Küste. By Roderick Eubanks, U.S. Navy, Wikimedia Commons, published under public domain.

Es folgte die monatelange Bombardierung Libyens durch NATO-Truppen, allen voran Frankreich, gefolgt von Großbritannien und den USA, an deren Ende mit der Ermordung Gaddafis eben doch der befürchtete Regime Change stand, und so aus einer völkerrechtsgedeckten Intervention mit UN-Mandat ein illegaler Angriffskrieg wurde. (Neben dem eklatanten Wortbruch der NATO im Zuge ihrer Osterweiterung – die NATO werde sich „nicht einen Inch nach Osten ausdehnen“ – sehe ich übrigens in genau diesem Missbrauch der UN-Resolution 1973 und der Missachtung Russlands und Chinas den zweiten wesentlichen Ursprung für die gegenwärtige Vertrauenskrise zwischen Ost und West.)

Der 2011 verantwortliche NATO-Generalsekretär Rasmussen, vertritt die Ansicht, die NATO habe lediglich ihr UN-Mandat erfüllt und sei daher für den Sturz Gaddafis nicht verantwortlich. Es waren zwar NATO-Geheimdienstler, die den Militärkonvoi, mit dem Gaddafi in die libysche Wüste fliehen wollte, ausfindig machten, auch waren es NATO-Kampfjets, die diesen Konvoi schließlich aus der Luft bombardierten und Gaddafi so zur Weiterflucht per Fuß zwangen, doch diejenigen, die dem 69-Jährigen letztendlich ein Bajonett in den Anus rammten und zu Tode folterten, war ein von der NATO unterstützter Lynchmob aus Islamisten – nicht aber NATO-Truppen selbst. Aus gutem Grund ist Beihilfe zum Mord ebenso ein Verbrechen wie Mord selbst. Rasmussens Abstreiten jeglicher Verantwortung für die Hinrichtung Gaddafis illustriert lehrbuchartig die Verachtung der NATO-Führung für internationales Recht.

Wie oben im Balkan-Kontext bereits erwähnt, wird die NATO auch wegen der Vorgänge in der libyschen Wüste des Öfteren als „Al-Qaidas Luftwaffe“ bezeichnet. So zynisch dieses Label auch klingen mag, so stellt es in letzter Konsequenz eine akkurate Beschreibung der Realität vor Ort dar. Libyen – vor 2011 das fortschrittlichste Land Afrikas – ist heute nach dem Sturz Gaddafis das Sammelbecken für Islamisten aus ganz Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten, auch konnte der Islamische Staat hier nach Irak und Syrien sein drittstärkstes Kontingent etablieren. Und eben dieser Aufstieg des dschihadistischen Terrors in Libyen ist kausal untrennbar von den NATO-Luftschlägen von 2011 – die Bezeichnung der NATO als „Al-Qaidas Luftwaffe“ trifft also zu, wohl nicht in der Intention, in der Konsequenz jedoch allemal.

In der Folge des Kriegs waren staatliche Strukturen in Auflösung begriffen, Libyen ist bis heute in einem blutigen Bürgerkrieg gefangen, Chaos, Gewalt und islamistischer Terror regieren – und dennoch meint der damalige NATO-Generalsekretär Rasmussen rückblickend, die NATO-Intervention wäre ein „großartiger Erfolg.“ Libyen ist jedoch vielmehr das Spiegelbild vom Irak 2003: Ein brutaler Diktator wird durch westliche Militärintervention hinweggefegt, im Anschluss stürzt das Land ins Chaos und dschihadistischer Terror grassiert. So sieht insbesondere auch ein Bericht des britischen Parlaments den NATO-Einsatz und die Inkompetenz der britischen Cameron-Regierung hauptverantwortlich für den „Kollaps“ Libyens, die „Flüchtlingskrise“, sowie den Aufstieg des Islamischen Staats in Nordafrika.

Quelle: Anders Fogh Rasmussen im Interview mit Al-Jazeeras Mehdi Hasan. By Jakob Reimann, JusticeNow!, licensed under CC BY-SA 4.0.

Von Batman lernen – das Konzept der kollektiven Schuld

Aus der Struktur der NATO resultiert nicht nur eine für sämtliche Mitgliedsstaaten verlockende kollektive Schutzfunktion, sondern ebenso eine kollektive Schuld. Und so wie über den Bündnisfall – der berühmte Artikel 5 der NATO-Charta – ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf jedes Mitglied gewertet wird und zum kollektiven Handeln legitimiert, so müssen auch sämtliche Kriegsverbrechen und illegalen Kriege unter der Schirmherrschaft der NATO der Verantwortung jedes einzelnen Mitgliedsstaats zugerechnet werden.

Fans von Batman – The Dark Knight ist das Konzept der kollektiven Schuld krimineller Vereinigungen ein vertrautes. Ermittlerin Rachel und Staatsanwalt Dent erklären, es genüge, Lau, dem finanziellen Strippenzieher und Kopf der Gotham-Maffia, seine kriminellen Machenschaften nachzuweisen und über diesen Hebel könnten so auch alle anderen Lau unterstellten Maffiabosse belangt werden. Ohne die Notwendigkeit der Klärung individueller Schuld genügt bereits der Zusammenschluss zu einer kriminellen Vereinigung.

In unserem Fall heißt die kriminelle Vereinigung NATO, der Kopf heißt Washington, die Lakaien heißen Berlin, London, Paris & Co. und das Verbrechen heißt beispielsweise Libyen 2011. Und so ist etwa auch Dalia Grybauskaitė – die Präsidentin Litauens – wegen des illegalen NATO-Regime Changes ebenso eine Kriegsverbrecherin, wie Hillary Clinton, Nicolas Sarkozy oder David Cameron welche sind, auch wenn nicht ein einziger litauischer Soldat in der libyschen Wüste stationiert war.

Gruppenfoto beim NATO-Treffen in Strasbourg 2009, viele bekannte Gesichter darunter. Sie alle gehören wegen ihrer Verantwortung für illegale Kriege vor internationale Gerichte gestellt. By Pete Souza, Obama White House, Wikimedia Commons, published under public domain.

Seit den Nürnberger Prozessen wissen wir, dass sich Individuen nicht hinter den Hierarchien ihrer kriminellen Vereinigungen verstecken können und dass sich auch Helfershelfer von Kriegsverbrechen genau wie die höchsten Köpfe auf der Anklagebank wiederfinden werden. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Prinzipien nicht auch auf supranationale Bündnisse wie die NATO anzuwenden. Einigkeit, das Sprechen mit einer Stimme und „kollektive Verantwortung“ stehen seit jeher im Zentrum der Philosophie der NATO. Das grundlegende Problem ist jedoch, dass die NATO als mächtigstes Militärbündnis, das die Menschheit je gesehen hat, de facto über dem Gesetz steht.

Der Umstand, dass Altkanzler Gerhard Schröder 2014 bei einer öffentlichen Diskussion mit ZEIT-Herausgeber Josef Joffe offen das Geständnis ablegte – natürlich in der absoluten Gewissheit seiner Straffreiheit –, dass er persönlich 1999 im Kosovo das Völkerrecht gebrochen hatte, indem er ohne UN-Mandat einen illegalen Krieg führte, spricht Bände darüber, mit welcher Verachtung für das Völkerrecht einerseits und für durch sie getötetes menschliches Leben andererseits NATO-Politiker Entscheidungen fällen.

Jeff McMahan, der renommierte Philosophieprofessor der University of Oxford, beschreibt das Dilemma folgendermaßen:

„Wenn ungerechte Kriege gekämpft und eine große Anzahl unschuldiger Menschen abgeschlachtet wird, so kommt es in der Regel durch irgendeine juristische Alchemie dazu, dass niemand verantwortlich ist, niemand ist schuldig, niemand ist haftbar, und niemand wird bestraft – ein glücklicher Umstand für all jene, deren Schuld durch die Schuld der anderen gegenseitig gemindert wird, solange bis es keine Schuld für niemanden mehr gibt.“

Doch die Werkzeuge zur Schaffung von Gerechtigkeit liegen alle ausgebreitet vor uns auf dem Tisch. Die meisten NATO-Mitglieder unterliegen der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen, bis auf die USA und die Türkei sind alle NATO-Staaten auch Teil des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. 2011 erklärte das hochangesehene Kuala Lumpur Kriegsverbrechertribunal George W. Bush und Tony Blair nach zweijähriger Untersuchung für ihren illegalen Krieg im Irak 2003 der Kriegsverbrechen für schuldig – gewiss, kaum mehr als ein symbolischer Akt, doch ebenso ein lauter Schrei hinaus an die Mächtigsten der Mächtigen: „Wir beobachten euch genau und wir werden so lange kämpfen, bis ihr hinter Gittern sitzt!“

Die Politik der allumfassenden Straffreiheit der NATO-Verantwortlichen ist der Garant dafür, dass auch in Zukunft im Namen von „Freiheit, Demokratie und Menschenrechten“ andere Länder überfallen und unschuldige Menschen ermordet werden. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. „Sie müssen jeden vor Gericht bringen, der unter Verdacht steht, für Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein,” forderte Nils Geißler, Völkerrechtsexperte von Amnesty International, im Zusammenhang mit NATO-Verbrechen während des Kosovokriegs. Aus dieser Forderung ergibt sich eine logische, unbedingt anzustrebende Konsequenz größerer Dimension: Die Hunderten von Regierungschefs, Verteidigungs- und Außenminister sämtlicher NATO-Länder seit 1999, deren verantwortliche Militärs, sowie die fünf NATO-Generalsekretäre dieses Zeitraums müssen wegen ihrer illegalen Kriege vor internationalen Gerichten angeklagt werden.


Dieser Artikel erschien auch auf JusticeNow! – connect critical journalism!

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