Die tödliche Explosion im Hafen Beiruts machte vor allem eins deutlich: die kriminelle Nachlässigkeit der herrschenden Klassen. Doch diese sieht ihre Hegemonie und ihre Macht dahinschwinden. Das Fundament des sektiererischen Systems Libanons wird gerade durch weitverbreitete Wut erschüttert.
Dennoch gibt es Gefahren, die bedacht werden müssen, und der Imperialismus kreist noch immer wie ein Geier über den Ruinen der Stadt. Als Erster reiste der französische Präsident Emmanuel Macron an, der sich wie der enttäuschte CEO des französischen Imperialismus zeigte. Er erklärte, wie die „Welt“ das Vertrauen in die lokalen herrschenden Klassen verloren habe und dass nun vielleicht durch direkte Interventionen das geschaffen werden könnte, was den libanesischen Herrschern nicht gelang. So funktioniert der Imperialismus – Katastrophen sind für ihn immerzu eine Chance.
Die britische Marine plant, den Hafen zu „sichern“. Doch da gilt es sich zu fragen: gegen was denn sichern? Die Geschichte lehrt uns, dass das vermeintlich Temporäre im Imperialismus immer permanent ist. Es ist mehr als offensichtlich, dass die herrschende Klasse mit Korruption durchsetzt ist, dass sie Steuerzahlungen vermeidet und dass sie aktiv von der arbeitenden Klasse profitiert. Doch dieses Phänomen beschränkt sich natürlich nicht nur auf die Reichen Libanons. Es ist nicht die Korruption, die das Land in den Bankrott trieb. Das war die Folge des Neoliberalismus, in dessen Rahmen die Wirtschaft Libanons globalen Institutionen wie dem IWFund der Welthandelsorganisation zum Opfer fiel. Reformen trugen dazu bei, dass das bereits abgetragene soziale Sicherungssystem noch weiter verkam, Mehrwertsteuern erhoben, der öffentliche Dienst drastisch geschwächt und Milliarden in unnütze Infrastrukturprojekte gesteckt wurden. COVID-19 und der Einbruch des libanesischen Pfunds hatten das Land schon zu Genüge geschwächt, doch nun haben um die 300.000 Menschen ihr Zuhause verloren. Läge das Schicksal der libanesischen Bevölkerung Macron so am Herzen, würde er die massiven Schulden in Höhe von 152 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die das Land zurückzahlen muss, erlassen. Das Schicksal Libanons hängt von seiner geostrategischen Position und der Unfähigkeit der imperialen Mächte, es zu unterdrücken oder zu dominieren ab. Es gibt viele Verschwörungserzählungen, die Anderes behaupten, doch die Explosion war nicht Teil irgendeines Plans. Sie war die Folge eines unregulierten globalen Systems, in dem Profite Vorrang vor der Sicherheit der Menschen und der Umwelt haben. Für den Imperialismus ist das nun die perfekte Gelegenheit, seinen desaströsen Kapitalismus zu realisieren. Die Explosion hat die Gefahren, die vor uns liegen, ganz deutlich gemacht. Diese Gefahren sind vor allem das Bestehen des sektiererischen Systems und das Schicksal des Widerstandes.
Die allbekannte Parole „all means all“ („Alle heißt Alle“) betrifft nicht nur die etablierten sektiererischen Parteien, sondern auch die Hisbollah. Das mag überraschend für all jene sein, die die Hisbollah mit dem erfolgreichen Widerstand gegenüber Israel verbinden. Die Hisbollah ist Produkt des Kampfes gegen die israelische Besatzung (1978–2000) und ist auch primär verantwortlich für das Ende der Besatzung – etwas, das schwer zu erreichen war, wie der Krieg 2006 deutlich machte. Der Erfolg der Hisbollah beruhte auf breiter Unterstützung, doch verprasste sie ihre Glaubwürdigkeit rasch. Die Geberkonferenz mit dem Ziel der Wiederherstellung der Infrastruktur nach 2006 wurde nur zu einer weiteren Tranche des Neoliberalismus unter dem Deckmantel vermeintlicher Hilfsmaßnahmen. Doch anstatt dieses breite Wohlwollen erfolgreich zu mobilisieren, erklärte Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, dass sie sich nicht hinter einem „Laib Brot“ verstecken würden; die Hisbollah würde die neoliberalen Reformen nicht ablehnen. Das Objektiv der Partei war nicht die Abschaffung des konfessionellen Staates, sondern die Absicherung größerer Anteile am sektiererischen System. Dies zeigt sich auch daran, dass mit der Abkehr der Hisbollah von der ursprünglich breiten Bewegung das Besetzen von Ministerposten und Wahlbündnisse innerhalb des Sektarismuskarusells ermöglicht wurden.
Die Transformation wurde von Nasrallah besiegelt, welcher Widerstandskämperinnen und Widerstandskämpfer zu Söldnerinnen und Söldnern machte, mit dem Ziel die Aufstände in Syrien zu unterdrücken. Nasrallah erklärte jüngst, dass sich der Libanon eher eine Scheibe von China als vom Westen abschneiden solle, wenn es um seine zukünftige wirtschaftliche Stabilität gehe – wider Chinas blutiger Unterdrückung seiner muslimischen Bevölkerung. Doch auch wenn ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der Massen gesunken ist, bleibt sie ein Ziel des Imperialismus. Die Frage des Widerstandes und der Revolution ist eine zentrale Frage unserer Bewegungen. Wir treten der Hisbollah entgegen; für ihre Zugeständnisse zum Sektarismus, ihre Rolle in Syrien und dafür, dass sie Trägerin einer aufstrebenden schiitischen Mittelklasse geworden ist, und nicht, weil sie der Widerstand ist. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Vielzahl anderer Parteien, die den unterschiedlichsten Interessen der herrschenden Klassen dienen. Diese Parteien müssen aufgrund ihrer Rolle als Instrumente der sektiererischen Spaltung lahmgelegt werden und die Hisbollah muss in ihrer Rolle als Leiterin des Widerstands abgelöst werden, da sie die Bevölkerung im Stich gelassen hat. Damit geht einher zu verstehen und zu akzeptieren, dass das sektiererische System keine Anomalie ist. Es ist nicht die Aufgabe der Bewegungen, einen ehrlicheren, säkularen Kapitalismus durchzusetzen.
Die Bewegung ging aus dem Arabischen Frühling und der Müllkrise des Jahres 2015 hervor. Diese breitete sich aus und vertiefte sich mit der Revolution vom 17. Oktober 2019. Die Demonstrationen und Straßentreffen erreichten alle Teile des Landes. Sogar die, die von sektiererischen Kriminellen beherrscht wurden. Die ausschlaggebende Spaltung innerhalb der herrschenden Klasse ist durch Sektarismus begründet, doch die Spaltung innerhalb des Landesdurch Klasse. Seit dem Ende des Bürgerkrieges im Jahr 2019 hat sich die Arbeiterinnenklasse eingegliedert und hat seitdem Allianzen geschmiedet, die das Fundament des Sektarismus untergraben.Dennoch steht die Bewegung noch vor der wichtigen Aufgabe, die Institutionen der Revolution (Arbeiterinnenräte, Nachbarschaftskomitees, breite Widerstandsorganisationen) aufzubauen, die entscheidend für die Bekämpfung des konfessionellen Systems sind. Die größte Gefahr besteht momentan darin, all diese Bemühungen erneut in Reformen münden zu lassen; neue, vermeintlich ehrliche Politiker zu wählen oder die Illusion der vermeintlich wohlwollenden, fremden Mächte aufrechtzuerhalten. Dieser Albtraum kann nur mithilfe des Umsturzes des Kapitalismus, dem Besiegen des Imperialismus und dem Schaffen von Allianzen mit den revolutionären Bewegungen der Region, trotz ihrer gegenwärtigen Unterdrückung, beendet werden. Die unmittelbare Gefahr geht von fremden Eingriffen aus, deren Hauptsorge sicherlich nicht das Wohl der Menschen ist, sondern der Wunsch, Libanon erneut in einen Vasallenstaat umzuwandeln.
Der Artikel erschien im Socialist Review und wurde von Simon Assaf geschrieben und von Zara Dilan Kiziltas ins Deutsche übersetzt.
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