Das drohende Scheitern der Verhandlungen über die Verlängerung des 2010 vereinbarten New START-Vertrages zur Begrenzung der strategischen Atomwaffenpotentiale der USA und Russlands hat bisher auch in der deutschen Öffentlichkeit für wenig Aufsehen gesorgt. Dabei gilt gerade der New START-Vertrag sogar im US-Außenministerium als Erfolg. Dort heißt es, dass sowohl Russland als auch die Vereinigten Staaten ihn vollständig einhalten. Die jährlichen gegenseitigen Inspektionen böten Transparenz und Vorhersehbarkeit, was auch für die USA von größter Bedeutung ist: Die hier zu verhandelnden strategischen Atomwaffen gelten als die einzigen Massenvernichtungswaffen, die die Existenz der Vereinigten Staaten direkt bedrohen können. Aber ohne vertragliche Verlängerung endet New START im Februar 2021 und die US-Administration ist gerade dabei, dies herbeizuführen und damit auch dieses Abkommen zu schrotten.
Eine wichtige Rolle spielt hierbei Marshall Billingslea, Sondergesandter für Rüstungskontrolle des US-Außenministeriums, der in Wien als Verhandlungsführer auftrat. Billingslea gilt als erklärter Gegner von Rüstungskontrollverträgen. Er hatte sich gegen eine Ratifizierung des Chemiewaffenabkommens von 1993 ausgesprochen, war 1996 gegen den Beitritt der USA zum Atomteststoppvertrag aufgetreten und unterstützte 2002 aktiv den Rückzug der USA aus dem 1972 geschlossenen ABM-Vertrag. Während der Wiener New START-Gespräche im Sommer bestand Billingslea darauf, dass die USA einer Verlängerung des Vertrages nur zustimmen würden, wenn Russland bereit sei, auch seine nicht-strategischen Atomwaffen in ein neues START-Abkommen aufzunehmen und China bereit sei, an den Verhandlungen teilzunehmen. Er sagte am 18. August: „Wir werden kein weiteres bilaterales Rüstungskontrollabkommen aushandeln“, jeder Rahmen, den die Vereinigten Staaten mit Russland erreichen, „wird der Rahmen sein, dem China beitreten soll“.
Die Haltung Russlands hatte der stellvertretende Außenminister und Verhandlungsführer in Wien, Sergei Rjabkow, schon nach dem letzten New START-Treffen in Wien klargestellt: „Wir sehen nicht, dass hier die Chancen noch steigen werden. Viel mehr nehmen sie ab.“ Russland werde eine „Verlängerung um jeden Preis“ nicht unterstützen und „jegliche Ergänzungen“ zu New START seien „sowohl aus politischen als auch aus verfahrenstechnischen Gründen unmöglich“. Ende August legte der russische Außenminister Sergej Lawrow nach und erklärte, dass „die Amerikaner Bedingungen stellen, die, offen gesagt, absolut unrealistisch sind, einschließlich der Forderung, dass China New START oder einem anderen ähnlichen Vertrag beitritt, der in der Zukunft unterzeichnet werden soll“. Und die chinesische Regierung beharrt nach wie vor darauf, dass sie angesichts des strategischen Ungleichgewichts nicht an trilateralen Rüstungskontrollverhandlungen interessiert sei. „Es ist unsere klare und konsequente Position, dass China nicht die Absicht hat, an einer trilateralen Rüstungskontrollverhandlung mit den USA und Russland teilzunehmen“, so der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Zhao Lijian.
Zur Erinnerung: China verfügt laut SIPRI aktuell über etwa 320 Atomsprengköpfe (nach US-Angaben sogar unter 250), also einen Bruchteil der 5.800 beziehungsweise 6.375 Atomsprengköpfe in den Arsenalen der USA und Russlands, und weniger als die beiden NATO-Staaten Frankreich (290) und Großbritannien (215) zusammen. Sollte der New START-Vertrag scheitern, könnten die USA erst recht Grund für Sicherheitsbedenken gegenüber China bekommen: Die Federation of American Scientists (FAS), die sich in den USA unter anderem für atomare Abrüstung einsetzt, warnt nicht nur vor einer neuen nuklearen Aufrüstungswelle in den USA und Russland, sollten die Verhandlungen fehlschlagen, sie prognostiziert auch, dass damit zu rechnen sei, dass auch China sich dann zu weiteren atomaren Aufrüstungsmaßnahmen gezwungen sehe.
Ende August versuchte die Trump-Administration dann, ihre Blockadehaltung abzuschwächen und die Forderung nach einer sofortigen Teilnahme Chinas an den New START-Gesprächen zu relativieren: Man lehne Russlands Angebot, New START um fünf Jahre zu verlängern, zwar weiterhin ab, sei aber bereit, in einem Zwischenschritt einen politisch verbindlichen Rahmen mit Moskau auszuhandeln und ein ‚geeignetes Verifikationsregime‘ zu schaffen, in das China künftig einbezogen werden soll. Dass die adressierten Regierungen auf dieses fadenscheinige Kompromissangebot eher zurückhaltend reagierten, mag auch von der Hoffnung geleitet sein, dass ein neuer US-Präsident noch im Januar 2021 der New START-Verlängerung mit seiner Unterschrift zustimmen könnte.
Aber nur darauf zu hoffen, scheint sogar für manche Abgeordnete im US-Kongress keine Option zu sein. Letzte Woche appellierten Republikanische und Demokratische Abgeordnete gemeinsam an Präsident Trump, New START zu verlängern: „Zum jetzigen Zeitpunkt ist es unwahrscheinlich, dass signifikante Änderungen am New START-Vertrag erfolgreich verhandelt […] werden könnten, bevor das derzeitige Abkommen ausläuft“, schrieben sie. „Am besten wäre es, wenn die Vereinigten Staaten den gegenwärtigen Vertrag verlängern würden, so dass sie Zeit hätten, mit Russland wie auch mit China über die Konturen eines neuen Abkommens zu verhandeln.“
Sollte mit New START die letzte Barrikade gegen ein neues nukleares Wettrüsten fallen, werden die größten Atomwaffenarsenale der Welt zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges wieder unbegrenzt und der öffentlichen Kontrolle entzogen sein, eine erschreckende und bedrohliche Perspektive. Es ist ein Phänomen, dass es die internationale Friedensbewegung einerseits mit ihrer Forderung, Atomwaffen weltweit zu verbieten und zu ächten, bald geschafft haben wird, die notwendigen Unterstützerstaaten für das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrages zu gewinnen (aktuell haben den Vertrag 84 Staaten unterzeichnet und 45 ratifiziert, wenn der 50. Staat ratifiziert hat, tritt der Vertrag 90 Tage später in Kraft), zugleich aber unter den neun Atomwaffenstaaten kein einziges Land zu finden ist, das bereit wäre, seine nuklearen Arsenale zur Disposition zu stellen. Im Gegenteil: Alle Atommächte arbeiten daran, ihre Nuklearwaffen weiter zu modernisieren und ihre Arsenale auszubauen.
Für Aufsehen sorgte deshalb ein Appell von 56 ehemaligen Staats- und Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsministern aus 20 NATO-Ländern sowie Japan und Südkorea zum Weltfriedenstag am 21. September. Sie fordern in einem offenen Brief die Staats- und Regierungschefs ihrer Staaten auf, dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten: „Anstatt Fortschritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen zu ermöglichen, behindern wir sie und verstetigen nukleare Gefahren – alles aus der Angst heraus, unsere Verbündeten, die an diesen Massenvernichtungswaffen festhalten, zu kränken. Aber in einer Freundschaft können und müssen wir unsere Stimme erheben, wenn Freunde rücksichtsloses Verhalten an den Tag legen, das unsere und ihre eigenen Leben gefährdet.“
Die Bundesregierung sollte sich von diesem Appell direkt angesprochen fühlen. Auch sie ermöglicht mit ihrer Argumentation „atomare Abrüstung, nur, wenn alle Atommächte mitziehen“ der Atomkriegslobby ein bequemes Verharren auf dem Status Quo. Auch zehn Jahre nach dem Bundestagsbeschluss, alle US-Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen, hat sie weder die aktuelle EU-Ratspräsidentschaft noch die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat dazu genutzt, hier entsprechende abrüstungspolitische Impulse zu setzen. Und auch im Bundestag stehen die Mehrheitsverhältnisse abstruserweise wie in Beton gegossen: Letzte Woche hat der Auswärtige Ausschuss den Antrag der LINKEN „Atomare Aufrüstung verhindern – New START-Vertrag erhalten“ behandelt. Das Ergebnis: der Ausschuss empfiehlt die „Ablehnung des Antrages mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, AfD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN.“ Unfassbar.
Bis zum Auslaufen des NEW Start-Vertrages am 5. Februar 2021 bleiben noch knapp vier Monate. Wir sollten jetzt auch unsere Stimme erheben und alles dafür tun, dass NEW Start verlängert wird, als erster Schritt gegen eine neue atomare Aufrüstungsspirale. Und darauf muss ein weiteres, multilaterales Abkommen mit allen neun Atomwaffenstaaten folgen. Dieses Abkommen liegt schon vor und es fehlen nur noch fünf Beitrittsländer, bevor es in Kraft tritt; es heißt „Atomwaffenverbotsvertrag“.
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