Die Colonia Dignidad in Chile war jahrzehntelang ein Ort des Grauens: Unter deutscher Führung wurden seit den 1960er Jahren Kinder missbraucht und andere schwere Verbrechen begangen. Während der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990) folterte und ermordete die chilenische Geheimpolizei in enger Zusammenarbeit mit den Colonia-Führern oppositionelle Aktivisten oder ließ sie „verschwinden“. Bis heute decken deutsche Behörden die Täter von damals. Nun hat die chilenische Regierung einen historischen Schritt vollzogen und jüngst die Enteignung von 117 Hektar Land der deutschen Kolonie – heute bekannt als Villa Baviera – beschlossen. Die künftig enteigneten Flächen umfassen unter anderem das Haus des verstorbenen Sektenchefs Paul Schäfer sowie Massengräber von Verschwundenen.
Im Gespräch mit etos.media erklärt Margarita Romero Méndez, Vorsitzende der chilenischen „Vereinigung für Erinnerung und Menschenrechte Colonia Dignidad“ (AMCD), warum dieser Schritt nicht nur für die Aufarbeitung der Vergangenheit entscheidend ist, sondern auch ein Prüfstein für Deutschlands Haltung zu den eigenen Tätern bleibt.
etos.media: Frau Romero, welche Bedeutung hat der Beginn des Enteignungsverfahrens für Ihren Verein?
Margarita Romero Méndez: Wir begrüßen ausdrücklich die Entscheidung von Präsident Gabriel Boric und die Unterzeichnung des Dekrets, das die Enteignung ermöglicht. Sie zeigt: Mit politischem Willen lassen sich selbst scheinbar unmögliche Vorhaben umsetzen. Noch vor wenigen Jahren schien die Rückgewinnung der Colonia Dignidad unerreichbar. Jahrzehntelang war dieser Ort ein Synonym für Schrecken, Straflosigkeit und staatliche Komplizenschaft – ein Schauplatz von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verübt von staatlichen Akteuren und deutschen Zivilisten.
Aus diesem Grund stellt die Enteignung für unsere Vereinigung einen Meilenstein in der Rückgewinnung des ehemaligen Colonia-Dignidad-Geländes als Erinnerungsort dar. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass all diese Fortschritte nur dank des Einsatzes und der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen möglich waren, die seit Jahren die in der ehemaligen Colonia Dignidad begangenen Verbrechen angeprangert haben – mit der Überzeugung, Wahrheit, Gerechtigkeit, Erinnerung und Nicht-Wiederholung voranzutreiben. Dies wurde auch von Behörden wie dem Ministerium für Nationale Vermögenswerte öffentlich anerkannt.
etos.media: Welche Chancen eröffnet dieser Schritt für die Erlangung von Gerechtigkeit und historische Aufarbeitung?
Margarita Romero Méndez: Die Enteignung ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung des Geländes zu einer Gedenkstätte. In Chile befinden sich nahezu alle Gedenkorte in öffentlicher Hand – ein privates Eigentum, das zugleich als öffentlicher Erinnerungsort dient, ist schlicht unvorstellbar. Auch der Blick ins Ausland bestätigt das: Niemand würde in Deutschland oder Polen auf einem ehemaligen Konzentrationslager Bierfeste veranstalten oder Zivilisten ansiedeln.
Die Enteignung des ehemaligen Colonia-Dignidad-Geländes als Erinnerungsort steht daher im Einklang mit nationalen und internationalen Standards in diesem Bereich. Jetzt gilt es, rasch eine Arbeitsgruppe aus staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die für die Rückgewinnung dieses Erinnerungsortes gekämpft haben, einzurichten, um gemeinsam einen mittelfristigen und langfristigen Plan für diesen Erinnerungsort zu entwickeln.
etos.media: Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands in der Geschichte der Colonia Dignidad?
Margarita Romero Méndez: Der deutsche Staat hat über Jahrzehnte eine doppeldeutige, letztlich aber komplizenhafte Haltung zu der kriminellen Organisation Colonia Dignidad eingenommen. Anstatt angesichts der systematischen Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Enklave entschlossen zu handeln, entschieden sich deutsche Behörden – einschließlich der Botschaft in Santiago – dafür, die Augen zu verschließen. Selbst als bereits zahlreiche Berichte über sexuellen Missbrauch, Arbeitsausbeutung, illegale Inhaftierung und Verbindungen zur Geheimpolizei der chilenischen Diktatur vorlagen, wies die Botschaft nicht nur die Opfer zurück, sondern intervenierte mehrfach, um die Führung der Kolonie zu schützen. Dieses Netzwerk der Straflosigkeit umfasste auch den deutschen Auslandsgeheimdienst BND und Waffenschmuggler wie Gerhard Mertins, der die Lieferung von Waffen sowie Kontakte zwischen der Colonia Dignidad und repressiven Sektoren des chilenischen Militärregimes organisierte. Der deutsche Staat war daher nicht etwa ein passiver Akteur, sondern ermöglichte es einer illegalen transnationalen Vereinigung, schwere Verbrechen auf chilenischem Boden zu begehen.
etos.media: Und wie sehen Sie das Verhalten Deutschlands heute?
Margarita Romero Méndez: Auch heute führt sich diese historische Komplizenschaft fort, und zwar in der Weigerung des deutschen Staates, umfassend mit der chilenischen Justiz zu kooperieren. Während chilenische Gerichte Ex-Führer wie Hartmut Hopp oder Reinhard Döring wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt haben, schützt Deutschland diese Flüchtigen, verweigert ihre Auslieferung und lässt sie hier unbehelligt leben. Diese Politik der Vertuschung verlängert die Straflosigkeit, verletzt internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Deutschlands und stellt eine neue Form von Gewalt gegen die Opfer, ihre Familien und die chilenische Gesellschaft insgesamt dar. Wenn Deutschland tatsächlich eine bilaterale Beziehung zu Chile aufbauen will, die auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen beruht, muss es aufhören, verurteilte Täter zu schützen – und aktiv zur Aufklärung und Ahndung der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen beitragen.
etos.media: Vielen Dank für das Gespräch.
Margarita Romero Méndez ist die Präsidentin der Asociación por la Memoria y los Derechos Humanos Colonia Dignidad (AMCD), die sich seit 2014 für die Aufarbeitung der Verbrechen in der ehemaligen Colonia Dignidad einsetzt.
Juliana Rivas und Jakob Reimann führten das Interview mit Margarita Romero Méndez. Hier findet ihr das pdf zum Original auf Spanisch. Am Donnerstag erscheint das Interview auch auf Englisch.