Sexuelle Belästigung in Fußballstadien wird mittlerweile häufiger thematisiert und benannt. Doch immer häufiger werden auch vermeintliche Vergewaltigungs- und Gewaltvorfälle von Fußballprofis gegen Frauen bekannt. Immer wieder ist dabei zu beobachten, dass sich diese Fälle nicht länger als ein paar Wochen in den Medien halten und schnell in Vergessenheit geraten. Die Angeklagten Profis erleben in den seltensten Fällen Konsequenzen für ihr Verhalten.
Der Fall der isländischen Nationalmannschaft, die beschuldigt wird, Frauen sexuell belästigt und verletzt zu haben, sollte dabei endlich einen Punkt des Umdenkens anstoßen. Er wirft viele Fragen auf, insbesondere Fragen über die Rolle der Vereine und Verbände, die Rolle der Fans aber auch der Mitspieler der mutmaßlichen Täter – sind die Taten Einzelfälle? Ist das Problem strukturell und wird durch bestehende Machtstrukturen und übersteigerte Männlichkeit bestärkt? Welche Rolle spielt das Geld in dieser Milliardenindustrie? Das sind Fragen, die sich der Fußball nun gefallen lassen muss.
Eine (unvollständige) Chronik der prominentesten Fälle
- 2021: Gegen Spieler der isländischen Nationalmannschaft werden Vorwürfe wegen sexueller Belästigung laut. Der Stürmer Kolbeinn Sigthórsson bestätigt, dass er einer der Beschuldigten sei. Er wird daraufhin suspendiert. Der Vorsitzende des Isländischen Fußballverbands tritt zurück. Der Fußballverband soll Jahre lang Fälle von sexueller Belästigung verschleiert haben.
- 2021: Dem Manchester-City-Profi Benjamin Mendy wird vierfache Vergewaltigung und ein weiterer sexueller Übergriff vorgeworfen, Manchester City suspendiert den Spieler und äußert außerdem: „Die Angelegenheit ist Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens, und der Klub kann daher keine weiteren Stellungnahmen abgeben, bis dieses Verfahren abgeschlossen ist“.
- 2021: Ruben Semedo, Profi von Olympiakos Piräus, wird vorgeworfen, eine 17-Jährige vergewaltigt zu haben. Semedo saß bereits wegen versuchten Totschlags im Gefängnis, außerdem wurde ihm Raub, Entführung und Waffenbesitz vorgeworfen – seiner Karriere tat das keinen Abbruch.
- 2020: Der ehemalige Spieler von AC Mailand und brasilianische Nationalspieler Robinho wird wegen Gruppenvergewaltigung einer 22-Jährigen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Laut dem Gerichtsurteil drückten die Täter „eine besondere Verachtung für das Opfer aus, das brutal gedemütigt wurde“. Sein Vertrag beim FC Santos wurde im Vorfeld der Berufungsanhörung ausgesetzt, allerdings erst nachdem Sponsoren Druck ausübten. Der Präsident des Vereins, Orlando Rollo, hatte, laut Welt-Informationen, zuvor bestätigt, dass der Spieler entlassen wird, sollte die Entscheidung bestätigt werden.
- 2020: Das Verfahren gegen einen österreichischen Nationalspieler wegen Vergewaltigung wird eingestellt. Der Österreichische Fußballbund gab zu Beginn des Prozesses eine Stellungnahme ab: „Der Spieler hat den ÖFB aktiv über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert und diese zurückgewiesen“, hieß es. „Wir vertrauen darauf, dass sich die Vorwürfe bald als haltlos herausstellen.“
- 2019: Paris-Saint-Germain-Stürmer Neymar wird wegen Vergewaltigung und unerlaubter Veröffentlichung intimer Details angezeigt. Das Verfahren wurde wegen Mangels an Beweisen eingestellt.
- 2019: Bayern-Star Jerome Boateng wird wegen Körperverletzung von seiner Ex-Frau und seiner Ex-Freundin angezeigt. Außerdem soll er seine Ex-Freundin Kasia Lenhardt mit einer Verschwiegenheitserklärung mundtot gemacht haben. Kasia Lenhardt nimmt sich in Folge der Ereignisse im Februar 2021 das Leben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wieder wegen der Vorwürfe aus 2019. Vor einigen Tagen wurde außerdem das erste Urteil gesprochen. Boateng wird der Körperverletzung schuldig gesprochen und muss eine Millionenstrafe zahlen. Hier tun sich besonders auf Social Media Abgründe auf: Fans verteidigen Boatengs Verhalten und weisen auf die „Fakten“ hin. Von „was er privat macht, ist seine Sache, er ist ein guter Fußballer, das ist das wichtigste“ über „Komisch, dass immer die Ex-Freundinnen Anzeige erstatten, vielleicht war es Notwehr“ bis hin zu „Man schlägt sich, man verträgt sich“ ist alles zu lesen.
- 2017: Bayern-Spieler Kingsley Coman wurde vor einem französischen Gericht zu einer Geldstrafe wegen häuslicher Gewalt verurteilt. In einem Streit soll er seine Ex-Freundin angegriffen und bedroht haben. Sein Verein reagierte darauf nicht.
- 2016: Chelseas ehemaliger Chefscout Eddie Heath wird beschuldigt, mehrere Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Als sich einer der Geschädigten an den Verein wendet, wird ihm ein Schweigegeld bezahlt, damit die Vorfälle nicht öffentlich werden. Dieser Fall tritt eine Missbrauchswelle im britischen Fußball los. Über 350 mutmaßliche Betroffene melden sich.
- 2014: Der britische Fußballprofi Ched Evans kommt nach zweijähriger Haftstrafe wegen Vergewaltigung einer 19-jährigen Frau aus dem Gefängnis frei. Es wird diskutiert, ob er einen Vertrag beim Drittligisten Sheffield United bekommt. Die Gewerkschaft britischer Profifußballer (PFA) verteidigt die Entscheidung des Vereins: „Wir leben in einer zivilisierten Gesellschaft. Er sollte wieder in die normale Gesellschaft zurückkehren dürfen.“ 2015 wird Ched Evans auch dem Zweitligisten Erzgebirge Aue angeboten. Der Verein lehnte das Angebot mit der Begründung ab, Evans wäre zu lange aus dem Spielbetrieb raus.
- 2005 und 2009: Gegen den portugiesischen Nationalspieler Cristiano Ronaldo werden Vorwürfe der Vergewaltigung laut. 2009 einigt sich Ronaldo mit der Klägerin auf eine außergerichtliche Einigung. 2018 wurde das Verfahren wieder aufgenommen und endgültig eingestellt. Ronaldo habe sich entschuldigt und erklärt, er sei „normalerweise ein Gentleman“.
Diese Liste ließe sich wahrscheinlich endlos fortführen. Nicht beachtet werden können Fälle, die durch Schweigegeldzahlungen oder Scham überhaupt nicht öffentlich werden. Der Fall Kasia Lenhardt hat gezeigt, welcher Druck auf Betroffenen liegt, wenn sie die Tat öffentlich machen. Plötzlich sind auch sie im Fokus der Medien, die Fanbase des Beschuldigten stürzt sich auf das mutmaßliche Opfer. Drohungen und Anfeindungen sind an der Tagesordnung. Das wird viele abschrecken, ihre Geschichte öffentlich zu machen.
Der Fußball hat ein massives Problem, aber keiner spricht darüber. Verbände und Vereine verhalten sich offen zurückhaltend. Die Angst, durch das Ziehen von Konsequenzen Spieler zu verlieren, scheint zu groß. An der Verpflichtung eines Spielers hängen gerne viele Millionen. Können Schlüsselspieler wie Neymar oder Ronaldo wegen einer Suspendierung nicht spielen, stellt das für die Vereine und den Spielbetrieb eine immense finanzielle Herausforderung dar.
Profite über Menschen? Traurigerweise eigentlich nichts neues für den Fußball als Institution, dafür muss man nur nach Katar schauen – trotzdem erreicht das Schweigen der Vereine und Verbände beim Thema Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch neue Ausmaße. Diesmal reichen keine Regenbogenfahnen und Lippenbekenntnisse, Verantwortliche sind gefragt, Konsequenzen zu ziehen und vor allem die eigenen täterfreundlichen Strukturen zu hinterfragen und Lösungsansätze zu erarbeiten.
Machtstrukturen begünstigen sexuellen Missbrauch
Profifußballer sind junge Männer, die früh lernen müssen, mit sehr viel Geld, Ruhm und medialer Aufmerksamkeit umzugehen. Sie müssen früh lernen, Dinge nicht kontrollieren zu können. Schlagzeilen in den Zeitungen, Spielverläufe und Gerüchte um mögliche Wechsel oder Vertragsverlängerungen gehören dazu. Machen sie einen Fehler, könnte das bereits am nächsten Tag in der Zeitung stehen. Als Spieler sind sie dem Trainerteam und dem Vorstand unterworfen – es wird gemacht, was von oben befohlen wird. Dass sexueller Missbrauch als Machtausübung instrumentalisiert wird, ist bekannt – insbesondere passiert das in Situationen, in denen der Täter das Gefühl eines Kontrollverlustes erlebt. Der Alltag und die Sozialisierung der jungen Männer im Fußball tragen dazu bei.
Die Spieler sind seit ihrer Kindheit umgeben von Jungs und Männern. Trainer, Berater, Vorstände – an jeder Auseinandersetzung sind maßgeblich Männer beteiligt, Berührungspunkte mit Frauen sind selten. Claudia Roth, Grünen-Politikerin und Kuratoriumsmitglied der DFB-Kulturstiftung, sagte in einem Interview, „nach dem DFB kommt vermutlich nur noch die katholische Kirche“, in den Verbänden herrschten krasseste Hierarchien, fast schon autoritäre Strukturen. In einem Business, in dem fast ausschließlich Männer tätig sind, haben es frauenfeindliche Strukturen wesentlich einfacher, Einzug zu halten. Eine patriarchal organisierte Gesellschaft begünstigt das. Der Fußball ist ein Business, das sich Gleichberechtigung nicht auf die Fahne geschrieben hat. Frauen haben es in allen Bereichen schwerer, sei es als Spielerin, Vorständin oder als Fan. Diese Punkte unterstützen Strukturen, die oben beschriebene Vorfälle überhaupt ermöglichen.
Der Fußball hat eine Verantwortung, der er nicht gerecht wird
Das Netzwerk F_in, ein internationaler Zusammenschluss von weiblichen Fans, Fanprojekt-Mitarbeiterinnen, Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen, fordert zur Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit im Fußball unter anderem, dass DFL und Vereine ihre Vorbildfunktion und Reichweite nutzen und dazu beitragen, Geschlechterstereotype und -vorurteile abzubauen. Außerdem fördern sie die Ergreifung von Maßnahmen wie die Sensibilisierung aller Akteur*innen im Fußball zu Vielfalt und Inklusion – insbesondere im Umgang mit und Vermeidung von sexueller und sexualisierter Gewalt. Die Initiative sieht diese Maßnahmen als Chance, Strukturen im Fußball zu verändern und ihn somit nachhaltiger und vielfältiger zu gestalten.
Es braucht dringend ein Umdenken bei den Verantwortlichen, Profite dürfen nicht über den Menschen stehen. Der moralische Kompass muss überdacht werden, besonders die Rolle von und der Umgang mit Frauen im Fußball. Der Fußball hat eine politische und gesellschaftliche Verantwortung, der er nicht gerecht wird. Es geht eben nicht nur um den Sport. Auch Fans sind gefordert, ihre Idole zu hinterfragen. Die Heroisierung von Fußballspielern trägt dazu bei, dass Konsequenzen nicht oder nur unzureichend gezogen werden. Der Fall Boateng macht das besonders deutlich.
Lara Schauland hat Recht & Politik studiert und arbeitet als Projektmanagerin. Sie beschäftigt sich mit Feminismus, Fankultur, sozialer Gerechtigkeit und öffentlichem Recht.