Unsere Gesellschaft ist stark individualisiert, vereinfachende Sozialstrukturanalysen werden entweder als Populismus abgetan oder als überholt betrachtet. Doch viele Sozialwissenschaftler wollen den wissenschaftlichen Wert vermeintlich historischer Analysen und Gesellschaftsmodelle nicht verneinen. Dies gilt auch für die Klassentheorie nach Marx, nach der sich die ganze Gesellschaft „mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen“ (Marx 2003:10-11) spaltet, wie er in der Kampfschrift ‚Manifest der Kommunistischen Partei‘ schreibt.
Doch ist vielleicht sogar innerhalb der marxistischen Klassen-Theorie eine differenzierte Gesellschaft jenseits einer Zweiklassengesellschaft möglich?
Marx selbst ging nicht davon aus, dass die kapitalistische Gesellschaft per se in zwei antagonistische Klassen geteilt ist. Das war auch nicht Ergebnis seiner wissenschaftlichen Arbeiten. So auch im ‚Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte‘, der Analyse über die französische Gesellschaft um 1850. Hier zeichnet er ein sehr differenziertes Bild, über die gesellschaftliche Zusammensetzung, die den Staatsstreich Napoleon III. Ermöglichte. Dieser vertrat „eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern“ (Marx 1972:198). Diese stand neben vielen anderen Klassen.
Zunächst sollten wir uns noch mal vergegenwärtigen, was eine Klasse für Marx ausmacht und inwiefern sich diese unterscheiden. Marx macht die Existenz einer Klasse lediglich an ihrer Klassenlage fest, diese wird bestimmt durch ihre Stellung zu den Produktionsmitteln. Viele Vertreter anderer Theorien, versuchen eine Nichtexistenz von Klassen durch das Fehlen großer sozialer Bewusstseinsgruppen, also fehlendem Klassenbewusstsein, zu begründen. Es werden Termini wie „Klassenverhältnis ohne Klassen“ (Kreckel 2004:141) konstruiert. Dabei sagt die Existenz einer Klasse noch nichts über ein Bewusstsein aus: Die Klasse an sich ist durch ihre Klassenlage soziologisch als Merkmalsgruppe zu betrachten, die Klasse an und für sich verfügt auch über Klassenbewusstsein: die Individuen sind sich ihrer gemeinsamen gesellschaftlichen Stellung bewusst und handeln als solcher.
So bildeten die französischen Parzellenbauern des 19. Jahrhunderts eine Klasse an sich, da „Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung, von denen der andern Klassen trennen“ (Marx 1972:198), aber keine Klasse an und für sich, da sie kein gemeinsames Bewusstsein besitzen oder anders „nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt“ (ebd.). Und da sich diese Klasse „gegen die übrigen Klassen [Plural!] der Nation“ (Marx 1972:131) richtet, ist schon in Marx Schriften erkennbar, dass es in der marxistischen Klassentheorie, mehr als zwei Klassen im Kapitalismus geben kann. Somit ist die Theorie durchaus differenzierter.
Marx geht weiterhin von der Existenz von Haupt- und Nebenklassen aus. Die Hauptklassen des Kapitalismus sind Proletariat und Bourgeoisie, sie zeichnen durch ihren Antagonismus in der Stellung zu den Produktionsmitteln aus. Nebenklassen können sowohl „durch die Entwicklung des Kapitals weitgehend aufgelöst werden [als auch] mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft erst entstehen oder ausgedehnt werden“ (Bischoff 1982:95). Das Verschwinden „dieser tradierten Zwischenklassen […] ist im übrigen eine der kapitalistischen Produktion innewohnende Tendenz“ (Bischoff 1976:93), denn sie sind Relikte anderer gesellschaftlicher Epochen, anderer Produktionsverhältnisse.
Verbleiben wir aber in der marxistischen Klassentheorie zur Analyse der heutigen Gesellschaft, so sind in Folge der Individualisierung der Lebensstile, der Beschäftigungsverhältnisse und der Bildungswege zusätzliche Klassen und Fraktionen innerhalb einer Klasse ein realistischeres Gesellschaftsbild.
Betrachten wir nun die einzelnen Klassen und inwiefern sie innere Differenzierungen aufweisen.
Beginnen wir mit der Arbeiterklasse – dem Proletariat: diese homogene Gruppe der Gehalt- und Lohnempfänger – bestehend aus „Facharbeiter, Gesellen, Industriemeister, angelernte und ungelernte Arbeitskräfte, Auszubildende, leitende Angestellte sowie technische und kaufmännische Angestellte, Landarbeiter, die verschiedensten Sorten Angestellter in privaten und öffentlichen Diensten, Arbeiter und Beamte in den Verwaltungen und bei Post und Bahn“ (Bischoff 1976:46) – zeichnet sich dadurch aus, dass sie Arbeitnehmer sind, Nichtbesitzer der Produktionsmittel, Verkäufer ihrer eigenen Arbeitskraft, „um am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben, d.h. leben zu können.“ (ebd.) Sie bilden den „beschäftigte[n] Teil der Arbeiterklasse“ (Bischoff 1982:88), welcher 1982 65% der Erwerbstätigen ausmachte (vgl. Bischoff 1982:88). Zu diesen kommen die Arbeitslosen.
Innerhalb des ‚Proletariats‘ lassen sich nun Fraktionen der Arbeiterklasse ausmachen: so etwa die der Industriearbeiter, „die größte Fraktion innerhalb der Arbeiterklasse“ (Bischoff 1976:62). Ähnlich wie schon die französischen Parzellenbauern unter Isolation lebend, gibt es innerhalb der Arbeiterklasse Fraktionen, deren Mitglieder „unter Bedingungen isolierter Produktion“ (Bischoff 1976:64) arbeiten, wie etwa „1 Million Lohnarbeiter in der nicht-kapitalistischen Warenproduktion und –zirkulation […] 220 000 Heimarbeiter und 146 000 Landarbeiter.“ (ebd.)
Eine weitere Fraktion scheinen Hochausgebildete zu sein, da sie in „ihrem Selbstverständnis nach nicht länger als Angestellte oder gar Arbeiter, sondern vielmehr als eigenverantwortlich handelnde, unternehmerische denkende selbständige Individuen, die ihre Interessen selbst vertreten können“ (Candeias 2008:71) gesehen werden wollen. Eine ebenso qualifizierte Fraktion ist das „Kybertariat“ (Candeias 2008:76, Fußnote) – IT-Techniker.
Fraktionen bilden ein differenziertes Bild von Klassen ab, die unterschiedliche Kombination von prozessartigen Dimensionen wie der „Erosion öffentlicher Dienstleistungen als allgemeinen Bedingungen sozialer und individueller Reproduktion“, der Ausschluss von „längerfristige[r] Planungssicherheit für den eigenen Lebensentwurf […] und schließlich eine massive Verunsicherung oder Schwächung der individuellen und damit auch kollektiven Handlungsfähigkeit“ zeigen „die Vielfältigkeit von Prekarisierungsprozessen“ (Candeias 2008:75-76) auf. Von diesem scheinen als Fraktionen besonders betroffen die ‚ausländischen‘ Arbeitnehmer (vgl. Bischoff 1982:93) und die der Jugendlichen (vgl. Bischoff 1982:94 & Candeias 2008:66).
Doch ist dieser Prozess der Prekarisierung vielleicht gar das entstehen einer neuen Klasse: dem Prekariat? Da es sich hier um „eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung“ (Candeias 2008:76) handelt, dem jeder ausgesetzt ist, kann „trotz konvergierender sozialer Lagen [nur] von sich neu konstituierenden Klassenfraktionen“ (ebd.) gesprochen werden, da sie „sich [nur] durch ihre unterschiedliche Stellung im Produktionsprozeß [und nicht zu den Produktionsmitteln] in ihrer Lebenslage unterscheiden“ (Bischoff 1982:92).
Wenden wir uns nun der Kapitalistenklasse, die Bourgeoisie, zu. Unsere Klassengesellschaft erfuhr gar eine Reduktion verschiedener Nebenklassen. So auch zum Gunsten der Kapitalistenklasse: „Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion verschwindet […] die Grundeigentümerklasse.“ (Bischoff 1976:85) Das Grundeigentum bildet somit nur noch eine Fraktion innerhalb der Bourgeoisie. Was diese Fraktionen daran hindert, zu einer homogene Klasse zu verschmelzen, obwohl die „kapitalistischen Produktion […] [eine] Reduktion der unmittelbar an der Produktion beteiligten Klassen auf Kapitalisten und Lohnarbeiter“ (Bischoff 1976:84) begründet, sind „ihre materiellen Existenzbedingungen, zwei verschiedene Arten des Eigentums“ (Marx 1972:139).
Jedoch besteht nicht nur eine „Rivalität zwischen Kapital und Grundeigentum“ (ebd.) sondern auch „das Gesetz der Konkurrenz“ (Bischoff 1976:81), das ein freies Handeln nur innerhalb der Gesetze des Marktes ermöglicht. Doch gerade das Handeln nach diesen Gesetzen ermöglicht ihnen ein Leben in Wohlstand, wodurch sie am Bestand der kapitalistischen Produktionsweise interessiert sind, „deren wachsender sozialer Antagonismus in ihrer schwindenden Zahl selbst zum Ausdruck kommt“ (Bischoff 1976:82).
Die Maximierung des Mehrwertes und die damit verbundene Maximierung der „Ausbeutung der Lohnarbeiter“ (Bischoff 1976:83), ist ein gängiges Prinzip in der Wirtschaft, das sich die oft anonymisierte Masse der Aktieneigner, Gläubiger oder Banken als Finanziers mit dem Arbeitgeber teilen. Sie stellen die weitere Fraktionierung der Bourgeoisie dar: die „bloßen Kapitaleigentümer und [die] fungierenden Kapitalisten“ (ebd.).
Nachdem wir nun die beiden Hauptklassen des Kapitalismus betrachten haben, ist es an der Zeit jene für die marxistische Theorie oft schwierig zu bestimmenden Nebenklassen ins Auge zu fassen. Grundlegend kann von zwei Gruppen der Nebenklassen ausgegangen werden: jenen die, wenn man mit den Begrifflichkeiten der Schichttheorie agiert, zwischen Arbeiter- und Kapitalistenklasse stehen, daher auch Mittelklasse(n) genannt werden, und jenen unterhalb des Proletariats.
„Zu den Mittelklassen gehören sehr heterogene Personengruppen, deren wesentliche Gemeinsamkeit bloß darin besteht, nicht in das unmittelbare Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital einbezogen zu sein“ (Bischoff 1982:95). Da zum einen ökonomisch hier noch eine Vielzahl von Einkommensgruppen unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse zu finden sind und zum anderen historisch bedingte Gruppen – aus der Zeit vor dem und aus der des Kapitalismus resultierend – ist es angebracht, von den Mittelklassen (im Plural) zu sprechen, die selbstständige Bauern, Kleinunternehmer und Staatsbeschäftigte ausmachen (vgl. Bischoff 1982:95).
Die Kleinunternehmer stellen „nichtkapitalistischen Warenproduzenten“ dar, deren Zahl „unter die 2 Millionen-Grenze (bzw. auf 5,2 Millionen mit Ernährten) gefallen“ (Bischoff 1976:93) ist.
Auch die Staatsbeschäftigten sind differenziert, wobei jedoch die Meinungen auseinandergehen, ob es sich nur um verschieden Fraktionen derselben Mittelklasse oder jeweils einer eigenständigen handelt: „Die einen nehmen Funktionen wahr, die der kapitalistischen Form der Produktion entspringen […], die anderen verrichten Aufgaben, die dem gesellschaftlichen Charakter dieser Produktion entspringen“ (Bischoff 1976:105).
Die Staatsbeschäftigten, mit ihren Ernährten und das Rentenalter erreichten Individuen, ergeben „eine Gesamtzahl von fast 11 Millionen“ (Bischoff 1976:120).
Jene Gruppen, die sozial schwächer gestellt sind als die Proletarier, sind ein „notwendiges Produkt der kapitalistischen Gesellschaft“ (Bischoff 1976:121) bzw. ihres Akkumulationsbedürfnisses. Arbeitslose können in diese Gruppe fallen, dazu kommt das Lumpenproletariat, welches unter anderem aus Vagabunden, Verbrechern und Prostituierten besteht, „soweit sie nicht durch angehörige unterhalten werden, sich durch Diebstahl oder Bettelei ernähren, beziehen sie ihr Revenue vom Staat, meistens aus der Sozialhilfe, von der fast eine halbe Million Menschen überwiegend zu leben haben.“ (ebd.)
Wie wir gesehen haben, zeichnet die marxistische Klassentheorie ein differenzierteres Gesellschaftsbild, als gemeinhin angenommen. Marxistische Analysen lassen den Schluss zu, dass unsere heutige Gesellschaft eine Sozialstruktur aufweist, die aus zwei Hauptklassen und mindestens zwei Nebenklassen besteht. Diese Klassen beinhalten jeweils noch mehrere Fraktionen.
Jedoch verlangt die Differenzierung in unserer Gesellschaft „entlang zahlreicher Unterschiede und Gegensätze – nach Gender, nach Generationen, nach Beschäftigungsstatus, nach ethnisch-nationaler Herkunft“ (Bouffartigue 2003:224) – stets abzuwägen, ob für den jeweils betrachteten gesellschaftlichen Aspekt dieses oder jenes Modell der Sozialstrukturanalyse adäquat ist. Der wissenschaftliche Wert der Klassentheorie scheint unbestreitbar zu sein, jedoch ist „die Frage nach den Klassen heute weniger denn je eine rein wissenschaftliche“ (Bouffartigue 2003:225).
Ein Gastbeitrag von Patrick Kahle
Literatur:
Bischoff, Joachim (Hrsg.). Die Klassenstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung. Westberlin 1976
Bischoff, Joachim u.a.: Jenseits der Klassen?. VSA-Verlag. Hamburg 1982
Bouffartigue, Paul: Vom Wiederaufleben der sozialen Konflikte zur ››Wiederkehr der sozialen Klassen‹‹?. In Bischoff/Boccara/Castel/Dörre u.a.: Klassen und soziale Bewegungen. VSA-Verlag. Hamburg 2003
Candeias, Mario: Die neuen Solo-Selbständigen zwischen Unternehmergeist und Prekariat. In: Prokla 150. März 2008. S. 65-82. URL: http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2008/Prokla150.pdf
Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. Dritte, erweiterte Auflage. Campus. Frankfurt/Main 2004. S. 120 – 149;
Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In MEW 8. Dietz Verlag. Berlin/DDR 1972. S. 115 – 207
Marx/Engels: Das Manifest der Kommunistischen Partei. 17. Auflage. Dietz-Verlag. Berlin 2003