Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang?

Chinesische Sicherheitskräfte wenden brutale Gewalt gegen uighurische Demonstrierende an. Urumchi, 5. Juli 2009. By Uyghur East Turkistan, Flickr, licensed under CC BY-NC-SA 2.0.

Wie würde es auf Sie wirken, wenn die Bewohner eines Lagers Ihnen übereinstimmend erklärten, sie seien von Extremismus angesteckt gewesen und hätten sich frei dafür entschieden, ihr Denken umwandeln zu lassen? Diese Erfahrung hat ein Reporter der BBC vor zwei Jahren in einem der sogenannten „Erziehungslager“ in Chinas westlicher Region Xinjiang gemacht. Und dann lesen Sie in einem ganz aktuellen Bericht von Amnesty International, frühere Lagerbewohner hätten berichtet, vor einem Besuch von Journalisten hätten sie tagelang die Antworten eingeübt, die sie bei Androhung von Folterstrafe geben sollten.

Seit 2017 gibt es in der autonomen Region Xinjiang im Nordwesten Chinas Lager, die der Gouverneur Shohrat Zakir 2018 als ein System von Institutionen beschrieb, in denen die Bewohner beruflich eingeübt und von ihren terroristischen oder extremistischen Neigungen abgebracht werden. Verletzt die chinesische Regierung mit diesem System Menschenrechte? Das scheint außer der chinesischen Regierung niemand bestreiten zu wollen. Auch der Völkerrechtler Norman Paech schlägt in der jungen Welt vor, davon auszugehen, dass „es zuverlässige und überprüfbare Berichte über einzelne Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang gibt“. Strittig ist dagegen, ob die chinesische Regierung zwei völkerrechtliche Verbrechen an den turksprachigen Volksgruppen islamischen Glaubens in Xinjiang verübt: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu diesen Volksgruppen gehören außer den in der Berichterstattung meist ausschließlich genannten Uighuren auch Kasachen, Kirgisen, Usbeken und Hui.

Zu dem Ausdruck „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ möchte ich eine Zwischenbemerkung machen. Nur im Deutschen unterscheidet man zwischen Menschheit und Menschlichkeit, „humanity“ und die entsprechenden Termini in anderen europäischen Sprachen bedeuten beides. Deshalb plädiere ich mit dem amerikanischen Völkerrechtler David Luban dafür, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch die Menschheit treffen. Man kann das analog zu Delikten wie Betrug oder Körperverletzung verstehen, die der Staat verfolgt, obwohl sie Individuen treffen. Der Staat bestraft sie, weil sie zugleich die politische Gemeinschaft bedrohen, was man von einer unbezahlten Handwerkerrechnung nicht sagen kann. Betrug oder Körperverletzung bedrohen die jeweilige politische Gemeinschaft, weil sie die Individuen so schwer treffen, dass sie zweifeln können, ob die Organe der Gemeinschaft sie vor solchen Beschädigungen schützen, und deshalb möglicherweise auf eigene Faust versuchen, sich ihr Recht zu verschaffen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit dagegen treffen Individuen besonders furchtbar wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, etwa einer ethnischen oder politischen, und ziehen die Organisation der Menschheit in politischen Gemeinschaften grundsätzlich in Misskredit, weil sie von Regierungen solcher Gemeinschaften begangen werden.

Nun zu den Beschuldigungen, die gegen die chinesische Regierung gerichtet werden: Adrian Zenz erhebt sie beide, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Völkerrechtler Norman Paech weist sie beide zurück (tagesschau.de, 24.11.2019). Neue Berichte von Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International (AI) halten Völkermord, weil er beabsichtigt sein muss, für nicht nachweisbar, wollen aber mit ausführlichen Argumentationen zeigen, dass die chinesische Regierung an den turksprachigen Minderheiten in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.

Angesichts dieser Diskussionslage will ich mich auf die Kontroverse über Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränken. Wie soll sich unsereins, die wir keine Spezialisten in Sachen chinesische Politik sind, eine Meinung zu der Frage bilden, ob die chinesische Regierung in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht? Indem wir nach bestem Vermögen das prüfen, was Paech einerseits und die Menschrechtsorganisationen AI und HRW andererseits zugunsten ihrer Positionen vorbringen.

Zur Prüfung gehört die Frage nach den Quellen, auf die sich die Vertreter der kontroversen Positionen berufen. Es gibt vier Sorten von Quellen:

a) öffentliche Verlautbarungen der chinesischen Regierung

b) Anweisungen und andere Dokumente der chinesischen Regierung und von Dienststellen in Xinjiang, die geheim sind, aber von anonymen Hinweisgebern ins Ausland geleakt und von dem Internationalen Netzwerk investigativer Journalisten (ICIJ) oder einer einzelnen Zeitung wie der New York Times veröffentlicht wurden

c) Aussagen von Unternehmern, die in China leben, und Berichte von Journalisten, die wie der eingangs zitierte BBC-Reporter mit Billigung der chinesischen Behörden eines der Lager oder überhaupt die Region Xinjiang besuchten

d) Zeugenaussagen von Personen, die entweder selbst in den Lagern lebten oder dort Verwandte hatten oder haben.

Paech zitiert als Zeugen (c), die die chinesische Regierung entlasten, einen in China tätigen Unternehmer und den China-Korrespondenten der taz, der keine Umerziehungslager habe finden können. Ich überlasse es gern Ihnen selbst, wie Sie Aussagen dieser Art gegenüber den zahlreichen Zeugenaussagen (d) und den veröffentlichten (a) oder geheimen Dokumenten der Regierung (b) gewichten wollen.

Was die geleakten Dokumente (b) angeht, so bestreitet die chinesische Regierung natürlich, dass sie authentisch sind. Zugleich widersetzt sie sich seit Jahren dem Versuch der UNO-Menschenrechtskommission, ein Expertenteam nach Xinjiang zu entsenden, das untersuchen soll, ob die Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit berechtigt sind. Um die Vorwürfe gegenüber der chinesischen Regierung zu verteidigen, müsste man also beweisen, dass die zugrunde gelegten Dokumente echt sind. Da es mir aber nur darum geht, Norman Paechs Positionen gegen die der Menschenrechtsorganisationen AI und HRW abzuwägen, kann ich mir den Beweis sparen, denn Paech bestreitet nicht die Echtheit der Dokumente (b), er zitiert sogar eines von ihnen, die China Cables.

Außerdem sehe ich ein Indiz für die Echtheit in der Tatsache, dass zahlreiche Zeugenaussagen, die insbesondere AI unabhängig von den anonymen Hinweisgebern der Dokumente (b) gesammelt hat, deren Inhalte bestätigen. So ordnet der Erlass Autonomous Region State Organ Telegram (§15), eines der offiziellen, geheimen Dokumente, die China Cables genannt werden, für alle Lagerbewohner detaillierte Verhaltensregeln beim Essen, Lernen, Waschen, Schlafen oder Morgenappell an, und ehemalige Lagerinsassen haben AI gegenüber bezeugt (S. 69–80), dass jedes Detail ihres Lebens genau geregelt war.

Ferner verordnet derselbe Erlass ein extrem striktes Sicherheitssystem, das in Einzelheiten dargestellt wird, und die Zeugen berichten von ihrer Einschließung in Zellen, von der totalen Videoüberwachung und davon, dass sie bei allen Bewegungen zwischen Räumen und zwischen Gebäuden von Wachleuten eskortiert werden (Telegram § 1–3; AI, S. 73, 76, 78, 80–81).

Auch Reue und das Geständnis, sich verbrecherisch verhalten zu haben, sollen dem Erlass zufolge (§11) von den Lagerbewohnern verlangt werden. Nach dem Amnesty-Bericht geschah das oft in Verhören, manchmal mit der Androhung von Folter, andernfalls wurden schriftliche Selbstbezichtigungen angeordnet und das in manchen Fällen jede Woche (S. 88–90).

Eine letzte Vorbemerkung halte ich für unverzichtbar: Wie andere Verteidiger der chinesischen Politik verweist auch Paech einerseits auf die zahlreichen Attentate und den Aufstand radikaler Uighuren von 2009 mit etwa 200 Todesopfern, andererseits darauf, dass die chinesische Regierung in den Lagern die Bewohner kulturell und beruflich erziehen und so ihre sozialen und wirtschaftlichen Chancen nachhaltig verbessern wolle. Das ist eine politische Argumentation, die für die Frage, ob die Regierung entsprechend dem Völkerrecht oder gegen dasselbe handelt, nicht die geringste Bedeutung hat, denn Rechtsbrüche können nicht politisch gerechtfertigt werden. Was die für Gewaltverbrechen wie Attentate Verantwortlichen angeht, so haben sie nach internationalem Recht Anspruch auf faire Prozesse, aber die werden den mutmaßlich Schuldigen in Xinjiang vorenthalten, worauf ich zurückkommen werde. Und selbst anerkennenswerte Zielsetzungen einer Regierung rechtfertigen nicht, dass sie zu ihrer Verwirklichung unverhältnismäßige Mittel einsetzt, die Menschen in ihren Rechten gravierend verletzen.

Kriterien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Es ist strittig, wie viele Personen in Xinjiang von den Erziehungs- oder Zwangsmaßnahmen der chinesischen Regierung betroffen waren und sind. Das ist für die Frage, ob die Regierung dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, von Belang. Denn das Völkerrecht definiert diese Verbrechen allgemein als „Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis dieses Angriffs begangen werden“. Welche Handlungen das sein können, wird im Folgenden aufgelistet – unter anderem Folter –, und dann erklärt der Text, was mit dem „Angriff auf die Zivilbevölkerung“ gemeint ist, nämlich „die mehrfache Begehung“ der aufgelisteten Handlungen. Um festzustellen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, muss man also nachweisen, dass viele Personen angegriffen werden.

Norman Paech tritt dem Vorwurf, China begehe in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit zwei Argumenten zu dem Umfang der Gruppe der Betroffenen entgegen. Erstens bestreitet er die verbreitete Auffassung, etwa eine Million Menschen seien von den Maßnahmen der chinesischen Regierung betroffen. Denn „alle Zahlen von Internierten“ beruhten „auf hochgerechneten Schätzungen“, die von dem Netzwerk Chinese Human Rights Defenders stammten. Dieses stütze sich auf unzureichende Quellen, nämlich Befragungen in einzelnen Dörfern und auf Aussagen von Uighuren, die im Ausland leben. Die Zurückführung aller Schätzungen auf das Netzwerk trifft nicht zu, denn der schon erwähnte Adrian Zenz etwa hat umfangreiche eigene, von dem Netzwerk unabhängige Untersuchungen zur Anzahl der betroffenen Personen angestellt; die führen ihn aktuell zu einer Schätzung von wenigstens 900.000 und höchstens 1,8 Millionen Internierten seit 2017. – Zenz scheint sehr voreingenommen zu sein, insbesondere deshalb, weil er der Victims of Communism Memorial Foundation angehört. Aber ich habe seine Untersuchungen zu den Lagern sorgfältig ausgeführt gefunden, das heißt, er benennt seine Quellen genau und präsentiert sie exemplarisch, beispielsweise die Tabellen von Internierten im Original. Wenn er von Google Earth fotografierte Gebäude mehrfach fälschlich als Lager bezeichnet haben sollte, wie Paech ohne Quellenangabe behauptet, dann würde das nichts an der Größenordnung seiner Schätzung ändern, die von anderen Untersuchungen bestätigt wird.

Zweitens übernimmt Paech von Mechthild Leutner eine Unterscheidung verschiedener Sorten von Lagern oder Erziehungseinrichtungen: Lager zur Umerziehung seien 2013 abgeschafft worden, die zur Deradikalisierung eingerichteten 2019, es blieben Erziehungs- und Ausbildungszentren sowie Haftanstalten und Straflager für gerichtlich Verurteilte. Daraus ergibt sich für Paech, dass die Existenz von Internierungslagern mangels Beweise äußerst strittig ist. Dazu möchte ich zunächst bemerken, dass auch die angebliche Schließung von Lagern nichts daran ändert, dass die Regierung im Sinn des Völkerstrafrechts für diese Lager verantwortlich bleibt, falls in ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Sodann frage ich mich, wie die feinsinnige Unterscheidung der Lager in verschiedene Sorten angesichts des folgenden öffentlichen Dokuments der chinesischen Regierung von 2019 Bestand haben soll:

„Xinjiang hat eine Reihe von Berufszentren eingerichtet, um systematische Erziehung und Schulung zur Erfüllung mehrerer Bedürfnisse anzubieten: die häufigen terroristischen Zwischenfälle zu reduzieren, den Nährboden für religiösen Extremismus zu beseitigen, den Schülern zu besserer Erziehung und beruflichen Fähigkeiten zu verhelfen …“

Wie es auch der eingangs zitierte Gouverneur Shohrat Zakir bestätigt, will die chinesische Regierung mit den Lagern generell sowohl ihren Insassen die Neigung zu Terrorismus und religiösem Extremismus austreiben, wie auch sie erziehen und beruflich bilden. Lediglich die Unterscheidung von Haftanstalten und Straflagern einerseits und Erziehungszentren andererseits wird in dem zitierten Regierungsdokument insoweit bestätigt, als danach die Verdächtigen entweder in Gerichtsverfahren oder in Verwaltungsverfahren gemaßregelt werden; aber auch in den Verwaltungsverfahren werden „Schuldige bestraft“. Auch HRW stellt neben den Lagern Haftanstalten zur Bestrafung der Verdächtigen fest.

Was nun die Schätzungen der Anzahl der Lagerbewohner angeht, so nehmen HRW und AI an, dass es mehrere Hunderttausend, vielleicht eine Million sind). Dabei berufen sie sich auf die Untersuchungen, die Zenz 2018 und 2019 veröffentlicht hat, und auf zahlreiche Indizien. Außerdem seien von den Gerichten Xinjiangs mehr als 250.000 Personen zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, rund 243.000 allein in den Jahren 2017 und 2018 nach offiziellen Angaben, während für 2019 keine Angaben gemacht wurden.

Zwar wird die Gesamtzahl der Einweisungen in Lager nur ihrer Größenordnung nach angegeben, doch bestätigen die Indizien die entscheidende Anklage von AI und HRW, dass es sich um massenhafte, systematische Maßnahmen handelt. So heißt es in einem amtlichen Dokument der geleakten China Cables (Bulletin Nr. 14), dass allein in der Woche vom 19. bis zum 25. Juni 2017 in nur vier Bezirken des südlichen Xinjiang 15.683 Personen in Erziehungslager geschickt wurden. Systematisch sind diese Maßnahmen insofern, als sie nur turksprachige Muslime treffen. Dasselbe gilt für die angegebenen Verurteilungen zu Gefängnisstrafen.

Zudem gibt es für die Gefängnisstrafen und für die Einweisungen in Lager ein mehrfach belegtes Regierungsprogramm von Anfang 2014 mit den Titeln: „Das gewaltsame terroristische Handeln hart bekämpfen“ oder: „Volkskrieg gegen den Terror“, ausgerufen vom Präsidenten Xi Jinping. Damit sind die formalen Bedingungen erfüllt, die völkerrechtswidrige Handlungen der politischen Macht – wie etwa Folterungen – erfüllen müssen, um als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden zu können: Sie müssen wissentlich zu einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung gehören.

Was aber berechtigt mich, von einem Angriff auf die Bevölkerung zu sprechen? Das ist einerseits die Behandlung Angehöriger der turksprachigen Völker außerhalb der Lager und Gefängnisse, andererseits sind es die Lebensbedingungen, denen die Insassen der Lager und Gefängnisse unterworfen werden. Während ich auf einige dieser Bedingungen ausführlicher eingehen will, soll in Kürze von dem Umgang der Behörden mit den Uighuren im „normalen“ Leben nur ein Aspekt erwähnt werden, nämlich die Verletzung der Religionsfreiheit. Paech begnügt sich mit der Behauptung, die Ausübung der Religion sei verfassungsrechtlich garantiert, allerdings auf den privaten Bereich beschränkt, zu dem auch die Moscheen gehörten.

Dagegen können Sie bei HRW (S.18–19) und AI (§ 2.2) lesen, dass schätzungsweise 8.000 Moscheen zerstört, weitere 8.000 beschädigt wurden. Auch Friedhöfe wurden aufgelöst, zwei der bedeutendsten Wallfahrtsstätten zerstört, andere geschlossen oder in Touristenattraktionen verwandelt. Ferner sagten Zeugen, sowohl Muslime als auch ehemalige Sicherheitsagenten, AI gegenüber aus, dass Polizisten und andere Sicherheitskräfte in die Häuser von Muslimen eindrangen und alle religiösen Gegenstände einschließlich des Korans, aber auch andere Bücher in arabischer Schrift beschlagnahmten, um sie dann im Gemeindehaus zu verbrennen. Schließlich wurden infolge einer Verordnung zur Austreibung des religiösen Extremismus vom März 2017 die üblichen muslimischen Praktiken verboten, so das Beten, der Besuch der Moschee, das Fasten, die religiöse Unterrichtung der Kinder, die Verwendung der traditionellen Namen für neugeborene Kinder, sogar der übliche Gruß „Friede sei mit euch“ (Salam alaikum). Aus Angst davor, in ein Lager geschickt zu werden, gewöhnten sich die Leute all das ab. So ist es um das Recht auf freie Religionsausübung in Xinjiang bestellt.

Dass die Regierung die Muslime angreift, zeigt sich nicht nur in diesen Zerstörungen und Verboten, sondern auch in den Demütigungen, die sie ihnen zugleich zufügt: Sie hat den zerstörten Friedhof mit der Grabanlage des uighurischen Dichters Lutpulla Mutellin in einen Freizeitpark verwandelt, und einem Zeugen zufolge wurden in den Häusern seines Dorfes die Fotos von Moscheen durch ein Foto von Xi Jinping ersetzt.

Zu dem Angriff auf die Zivilbevölkerung gehören, wie gesagt, auch alle Maßnahmen, denen viele turksprachige Muslime, weil sie solche sind, in den Lagern und Gefängnissen ausgesetzt sind. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht aber nicht in dem vielfältigen Angriff, sondern jeweils in einer spezifischen Handlung wie beispielsweise der Folter, die als eines der Elemente des Angriffs in großem Umfang beziehungsweise systematisch ausgeführt wird. Von diesen Handlungen möchte ich, AI folgend, jene drei auswählen, die mit Sicherheit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden können: die zwangsweise Einweisung in die Lager, die Folter und die Verfolgung, das heißt, laut Völkerrecht „der schwerwiegende, vorsätzliche Entzug von Grundrechten wegen der Identität einer Gruppe oder Gemeinschaft“.

Willkürliche Gefangennahme

Wenn von den Lagern in Xinjiang die Rede ist, zum Beispiel bei Mechthild Leutner oder Norman Paech, geht es darum, was in den Lagern geschieht, aber nicht darum, wie die Leute in die Lager kommen. Wie eingangs gesagt, müssen die Bewohner Besuchern antworten, dass sie freiwillig in die Lager eingetreten sind. Aber selbst die Veröffentlichung der Regierung „Vocational Education and Training in Xinjiang“ (2019) kennt nur die Verfügung von Verwaltungsstellen, dass Leute, die „an terroristischen oder extremistischen Aktionen beteiligt waren“, zur Bestrafung und Resozialisierung in die Lager eingewiesen werden. Was das näher heißt, erfährt man von AI.

AI hat 128 Zeugen befragt, 55 von ihnen sind in Lagern gewesen. Ein Agent der Regierung bestätigte die Aussagen mancher Lagerinsassen, dass sie nachts in ihren Häusern von der Polizei in Handschellen und mit schwarzen Kapuzen auf den Köpfen festgenommen und abgeführt wurden (AI, S. 48). Andere wurden unter einem Vorwand zur Polizeistation bestellt und dort verhaftet. Kein*e Zeug*in hatte einen Haftbefehl bekommen, niemandem wurde als Haftgrund ein Verbrechen mitgeteilt, niemand konnte eine Rechtsberatung in Anspruch nehmen. All das verstößt gegen die chinesische Verfassung (Art. 37) und internationale Rechtsnormen und bedeutet, dass die Festnahmen willkürliche Gefangennahmen und die Lager Internierungslager waren und wohl weiterhin sind.

Allerdings wurde manchen Gefangenen bei ihrer Festnahme eine Begründung gegeben, anderen während ihrer Gefangenschaft, wieder andere erfuhren nie, warum sie interniert wurden. Die Begründungen bestätigen den Eindruck der Willkür, zumal manchen Gefangenen verschiedene Begründungen zu verschiedenen Zeiten mitgeteilt wurden (AI, S. 55). Da wurden ihnen oft keine bestimmten Handlungen vorgeworfen, sondern angebliche Eigenschaften wie „verdächtig“ oder „unzuverlässig“, „Terrorist“ oder „Extremist“. Inkriminierte Handlungen waren hingegen Beziehungen zum Ausland wie Reisen oder Austausch mit Partnern im Ausland, Gebrauch unerlaubter Software – besonders WhatsApp – und das Herunterladen oder Versenden religiöser Inhalte auf Smartphones, religiöse Überzeugungen oder Praktiken wie Beten oder Arbeiten in der Moschee.

Diese und ähnliche „Vergehen“ registriert ein umfassendes Überwachungssystem, genannt „Integrated Joint Operations Platform“ (IJOP), bei überwachten Personen und gibt die Daten der Verdächtigen Regierungsagenten an, die dann nach Prüfung manche der Verdächtigen in Lager schicken. Die skandalöseste Aussage, die HRW im Zusammenhang mit dem IJOP-System erwähnt, ist die eines Regierungsagenten, der mit dem System gearbeitet hat: Er sagt, in einer zweiten Phase der Festnahmen hätten sieQuoten von Festnahmen erfüllen müssen, also hätten sie beliebige Leute festgenommen.

Wie verhält es sich mit den gerichtlichen Verurteilungen zu Gefängnisstrafen, gegen die Paech nichts einzuwenden hat? Nach HRW wurden nicht einmal die elementaren Regeln des Strafprozessrechts befolgt: Keine*r der 60 Interviewten hatte einen Haftbefehl oder einen Beleg für sein angebliches Verbrechen bekommen; manchmal urteilten Vertreter der Exekutive an der Stelle von Richtern; in anderen Fällen waren die Urteile schon vor dem Prozess geschrieben; Anwälten wurde mit Entpflichtung gedroht, wenn sie die Verfahrensrechte ihrer Klienten einforderten; des Terrorismus Angeklagte durften nicht ihre Unschuld behaupten (HRW, S. 11). Die angeblichen Verbrechen waren auch hier „Terrorismus“ oder „religiöser Extremismus“. Dem Betreiber einer Webseite mit Informationen über die turksprachigen Muslime wurde „Separatismus“ vorgeworfen; er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Da die Verhaftungen zwecks Internierung oder zwecks Verurteilung willkürlich waren und sind und Teile eines ausgedehnten und systematischen Angriffs auf eine Bevölkerung, stellen sie das Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, das das Völkerrecht als „Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts“ beschreibt (Römisches Statut, Art. 7).

Folter und Misshandlungen

Zu dem Vorwurf, dass die Internierten gefoltert werden, erklärt Norman Paech: „Soweit einzelne Opfer von Folter mit ihren Zeugnissen präsentiert werden, müssen die Täter zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden.“ Von welcher Instanz? Vom Gouverneur der Region Xinjiang oder von der chinesischen Regierung? Von denselben also, die einen „Volkskrieg gegen den Terror“ verkündet hatten? Von Präsident Xi Jinping in letzter Verantwortung, der den „vom Extremismus Infizierten eine Zeit leidvoller, erfindungsreicher Behandlung“ in Aussicht gestellt hatte – nach den „Xinjiang Papers“, die 2019 aus der Kommunistischen Partei Chinas der New York Times zugespielt wurden?

Einzelne Opfer? Wenn man sich nichts vormacht, dann sind das alle Personen, die je in den Lagern waren oder sind. Denn die 55 ehemaligen Gefangenen, die AI befragt hat, beschrieben ihr Leben als Internierte so, dass es unter die Kriterien physischer und psychischer Folter und Misshandlung fällt. Im Völkerrecht ist Folter eine von Trägern der öffentlichen Gewalt ausgeübte oder gebilligte „Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, … um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr … begangene Tat zu bestrafen“ (UN-Konvention gegen Folter, Art. 1).

Dass es um Bestrafungen geht, folgt daraus, dass alle Gefangenen ihre „Verbrechen“ in Verhören und schriftlichen Berichten gestehen müssen (AI, S. 88–89). Dass ihnen schwere physische und psychische Leiden zugefügt werden, erkennen Sie, wenn Sie sich anhand der Zeugenaussagen, die AI (S. 63–95) veröffentlicht hat, wenigstens im Umriss eine Vorstellung vom Leben der Gefangenen machen. Um es vorwegzunehmen: Die Bedingungen, denen sie unterworfen sind, bedeuten, dass einerseits ihr eigenes Verhalten vollständig fremdbestimmt ist und sie der Ungnade – denn Gnade soll nicht geübt werden – ihrer Bewacher schutzlos ausgeliefert sind. Und dass sie andererseits sich selbst ausdrücklich verleugnen und denjenigen danken müssen, die sie derart demütigen.

Erinnern Sie sich daran, dass die Lagerordnung das Verhalten der Gefangenen Tag und Nacht lückenlos bis ins Kleinste regelt: straffe Körperhaltungen im Sitzen und Stehen, die Position ihrer Hände auf den Knien, ihren Blick auf den Lehrer oder den Propagandafilm gerichtet, ihre Verdauungspause mit Auflegen des Kopfes auf den Tisch. Und eine Videoüberwachung bis in den letzten Winkel, bis in die Toiletten, garantiert, dass den Wachleuten nicht die geringste Abweichung entgeht. Dann gibt es einen Anpfiff oder eine Bestrafung. Die kann darin bestehen, dass der oder die Gefangene im Benotungssystem herabgestuft wird – was die Aussichten auf Entlassung verschlechtert –, sofort mit Schlägen oder Pfefferspray misshandelt oder zur Folterung in einen anderen Raum gebracht wird.

Dass Schlafentzug eine Foltermethode ist, ist bekannt. In den Lagerzellen wird das Licht nicht gelöscht. Von den sieben Stunden „Nachtruhe“ werden den Gefangenen zwei entzogen, während derer sie jeweils zu zweit die anderen bewachen müssen und eventuell deren Kopf so drehen, dass die Videokamera ihr Gesicht aufnehmen kann. Zusätzlich wird der Schlaf durch Lautsprecher und häufige „Besuche“ von Wächtern gestört, die verlangen, dass die Gefangenen Geständnisse schreiben.

Tagsüber wird den meisten Gefangenen weder natürliches Licht noch Aufenthalt im Freien noch sportliche Bewegung gegönnt. Sie leben in „Hochsicherheitsräumen“ und unter lückenloser Bewachung, ohne zu wissen, wie lange sie das noch aushalten müssen. Über ihnen schwebt die ständige Drohung, misshandelt oder gefoltert zu werden, wie sie es bei Mitgefangenen erleben. Telefonkontakt mit den Familien wird nur selten erlaubt und stets überwacht. Hinzu kommen die zwangsweise Indoktrinierung, bei der der Gott der Muslime durch Chinas Präsidenten ersetzt wird, und die Pflicht, fehlerfrei Lieder des Typs „Xi Jinping ist Chinas Vater, der Vater der Welt“ zu singen und im Chor Parolen zu rufen wie „Streng dich an beim Lernen, hebe dein Niveau, tilge die separatistischen Kräfte, lang lebe Xi Jinping!“ Reicht all das zusammen, um den Straftatbestand der Folter oder der grausamen, entwürdigenden Behandlung zu erfüllen?

Von den 55 ehemaligen Internierten, die AI interviewte, erlitt etwa ein Drittel bei Verhören oder zur Bestrafung spezielle Folterungen wie Schläge bis zur Bewusstlosigkeit, Elektroschocks, Auskühlung im Winter, Aufhängen an der Wand und besonders oft die völlige Immobilisierung des ganzen Körpers auf einem „Tigerstuhl“ aus Metall. Der oder die Gefolterte wird dabei in quälender Position stundenlang und manchmal tagelang auf den Stuhl festgeschnallt, bekommt meist nichts zu essen, nichts zu trinken und darf nicht die Toilette aufsuchen; der Tod jedenfalls einer Person infolge dieser Folter ist bezeugt.

China hat 1988 die Antifolterkonvention der UNO ratifiziert. Damit hat sich Peking verpflichtet, die Folter und Misshandlungen nicht nur als Verbrechen zu verbieten, sondern sie auch mit geeigneten Maßnahmen von vornherein zu verhindern. Stattdessen hat die chinesische Regierung die Folter, jedenfalls die ständige des Alltagslebens, organisiert, wie die geleakten China Cables und Xinjiang Papers zeigen. Damit begeht sie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen ihres Angriffs auf die turksprachigen Muslime.

Verfolgung

Nach dem Völkerrecht richtet sich das Verbrechen der Verfolgung gegen eine religiös, politisch, ethnisch etc. definierte Gruppe und besteht darin, ihr wegen ihrer Besonderheit schwerwiegend Grundrechte zu entziehen (Art. 7). Norman Paech behauptet, so konkret seien die Vorwürfe – gegen die chinesische Regierung – nicht vorgebracht worden, und: „Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass Gruppen außer den Strafgefangenen gezielt Grundrechte verwehrt worden sind.“

Offenbar hat er die veröffentlichten Auszüge aus den China Cables nicht vollständig studiert. Denn im amtlichen Bulletin N°20 von Ende Juni 2017 wird berichtet, dass das Überwachungssystem IJOP im Lauf eines Jahres mehr als 1,8 Millionen uighurische Nutzer der in Beijing eingerichteten App Zapya oder Kuai Ya identifiziert hat, mit der Muslime einander religiöse Inhalte ohne die oft unerreichbare Internetverbindung mitteilen können. Die Nutzer hätten gewaltsame terroristische Inhalte verbreitet und müssten von den kommunalen Behörden einzeln auf Terrorismus hin überprüft und in Lager geschickt werden, wenn dieser Verdacht nicht entkräftet werden könne. In den Wochen nach der Verbreitung des Erlasses wurden die ersten Leute verhaftet, weil sie Zapya heruntergeladen hatten.

Damit verletzt die Regierung von Xinjiang massenhaft den Datenschutz und bricht in das Privatleben der Betroffenen nach religiösen und politischen Kriterien ein. Zugleich wird ihr Recht auf Meinungsfreiheit gebrochen, denn zu diesem Recht gehört es auch, dass sein Gebrauch keine Nachteile bringen darf. Man wird dem Urteil von AI nicht widersprechen, dass undifferenzierte Massenüberwachung nie dem Grundsatz des Völkerrechts entsprechen kann, dass eventuelle Überwachungsmaßnahmen streng notwendig und ihrem Zweck angemessen sein müssen (AI, S. 37).

(2) Man sieht es den unzähligen Videokameras im öffentlichen Raum nicht an, dass sie – oft mit der Fähigkeit zur Gesichtserkennung – zur Überwachung der Muslime aufgestellt wurden. Deren Selektion nimmt von dem Überwachungssystem IJOP ihren Ausgang und wird dadurch möglich, dass auch an den Haustüren verdächtiger Familien Kameras installiert werden, dass die Polizei auf den Straßen und an den vielen Kontrollstellen die Smartphones auf verbotene Inhalte hin kontrolliert und dass auf vielen Smartphones zwangsweise eine Software installiert wird, die die Nutzer vor „unangebrachten“ Inhalten warnt und der Regierung Zugang zum Smartphone verschafft (AI, S. 35–36, 40, 42–43). Alle damit gesammelten Daten gehen natürlich in das IJOP-System ein.

Anders als die Kontrollen durch die Überwachungskameras machen es die Polizeikontrollen unmittelbar deutlich, dass die Muslime dabei diskriminiert werden. Denn Betroffene und Beauftragte der Regierung gaben AI gegenüber an, dass Han-Chinesen – die Ethnie, der rund 92 Prozent der chinesischen Bevölkerung angehören – entweder die Kontrollstellen gar nicht passieren mussten oder durchgewinkt wurden (AI, S. 43 und 46). An vielen Kontrollstellen wie am Flughafen oder in Bahnhöfen mussten die Leute sich gleich in zwei Schlangen aufstellen: eine für Han-Chinesen und eine für Muslime. Als ein Han-Chinese, der Xinjiang besuchte, einen Kontrolleur fragte, warum er selbst nicht überprüft werde, bekam er zur Antwort: „Uighuren müssen anders behandelt werden, weil es keine Han-Terroristen gibt.“

Die Kontrollen vervollständigen nicht nur die systematische Überwachung, sondern auch die Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit. Nach den von AI gesammelten Berichten brauchten Muslime eine Genehmigung, wenn sie sich nur außerhalb ihres Wohnviertels bewegen wollten (AI, S. 40–42). Manche Muslime bekamen ein elektronisches Signal in ihren Personalausweisen, aufgrund dessen sie bestimmte Gebiete und bestimmte Gebäude nicht mehr legal aufsuchen konnten. Nach Völkerrecht darf die Freizügigkeit nur ausnahmsweise, aufgrund der Notwendigkeit, ein anderes Recht wie das auf Gesundheit oder Sicherheit zu schützen, ohne Diskriminierung und verhältnismäßig eingeschränkt werden.

(3) Was würden Sie davon halten, wenn Beauftragte der Regierung oder der Gemeinde unangemeldet und ohne Anklopfen in Ihre Wohnung eindrängten, Sie, Ihre Familienmitglieder sowie Ausstattungsgegenstände Ihrer ererbten Kultur fotografierten, sich für einige Tage und Nächte bei Ihnen aufhielten, Ihr Smartphone ausforschten, Sie nach Reisen, religiösen Praktiken und nach Verwandten ausfragten und im Sinn der Regierung politisch belehrten – um zum Abschied auch noch Ihren Pass mitzunehmen? All das widerfährt nach Auskunft solcher amtlicher Eindringlinge den Angehörigen von Muslimen, die interniert sind. (AI, S. 38–39) Seit 2017 sind der regierungsnahen Global Times zufolge über eine Millionen Beamte mit diesen „Heimsuchungen“ beauftragt. Das lässt auf die Größenordnung sowohl der Internierungen wie auch der in Mitleidenschaft gezogenen Angehörigen schließen.

Unnötig zu sagen, dass damit die Grundrechte auf den privaten Lebensraum der Wohnung und auf Aussagefreiheit in den persönlichen Angelegenheiten massenhaft nach ethnischen oder religiösen Kriterien verletzt werden. Also liegt hier wie bei der Überwachung das Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, das das Völkerrecht „Verfolgung“ nennt.

Hat die Lektüre meines Textes bei Ihnen den dringenden Verdacht geweckt, dass die chinesische Regierung in Xinjiang die Verbrechen gegen die Menschlichkeit Freiheitsberaubung, Folter und Verfolgung an den Angehörigen der turksprachigen Muslime begeht?

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