Die Bundesregierung listet die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost im Verfassungsschutzbericht 2024 als „extremistisch“. Eine jüdische Friedensorganisation steht nun Seite an Seite mit dem „Islamischen Staat“, dem russischen Geheimdienst und den Hammerskins Deutschland. Das Land, das rein gar nichts aus seiner Geschichte gelernt hat, fährt einen schweren Angriff auf jüdischen Pluralismus und die Meinungsfreiheit – und doch ist es nur ein weiterer Schritt im autoritären Staatsumbau in Staatsräson-Deutschland.
Es hätte größte Empörung auslösen und zu einem Skandal werden müssen: Die Jüdische Stimme wird im Verfassungsschutzbericht 2024 als „gesichert extremistische Bestrebung“ gelistet – in den Kategorien „Säkularer propalästinensischer Extremismus“ sowie unter „auslandsbezogener Extremismus“. Begründung: Die Friedensorganisation „befürwortet“ den „Terrorismus von Hamas“ und des Islamischen Dschihad. Beweise? Keine, aber so steht’s halt im Bericht.
Erstmals wurde im Verfassungsschutzbericht die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost @JSNahost als "auslandsbezogene Extremisten" gelistet.
— Jakob Reimann (@Jakob_Reimann) June 10, 2025
80 Jahre nach Hitler geht der dt. Staat gegen linke Jüdinnen*Juden vor, wenn die frech der dt. #Staatsräson widersprechen. pic.twitter.com/iZo7Vm7V06
Es war zu erwarten: Im Staatsräson-Deutschland gibt es keinen Aufschrei, wenn ein deutscher Geheimdienst sich die Frechheit rausnimmt, eine jüdische Gruppe – die am Ende nichts anderes als die Einhaltung von Völkerrecht fordert – zu überwachen und einzuschüchtern.
Paragraf 3 BVerfSchG legt die Aufgabe der Verfassungsschützer unter anderem darin fest, „Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ oder auch solche, die gegen „den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind“, auszuspähen. Die Forderung der Jüdischen Stimme nach einem „gerechten Frieden in Nahost“ rüttelt augenscheinlich an den Grundfesten des deutschen Staats und nimmt dessen ureigene Interessen ins Visier – vorausgesetzt freilich, dieses Interesse ist nicht Frieden, sondern Krieg.
Eine Gruppe friedliebender Jüdinnen und Juden steht nun also im Bericht der Staatsgefährder Seite an Seite mit Al-Qaida, ISIS und Hisbollah, mit den Geheimdiensten Russlands, Irans, Syriens oder Chinas, mit den Prinz-Reuß-Reichsbürgern und den Nazis der Hammerskins Deutschland und Blood & Honour – und das in dem Land, das als zweitgrößter Waffenlieferant Israels und als diplomatischer wie politischer Beschützer mitschuldig am Völkermord an den Palästinenser*innen und der Vernichtung Gazas ist wie kaum ein anderes Land auf der Welt.
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Die Listung der Jüdischen Stimme als „extremistische Gruppierung“ ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit und auf jüdischen Pluralismus, jüdischen Dissens in der BRD – im Land des Holocaust können Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden wieder von der deutschen Polizei verprügelt und festgenommen werden, ihre Bankkonten eingefroren, sie wie Staatsfeinde ausgegrenzt, eingeschüchtert und überwacht werden – alles im „Kampf gegen Antisemitismus“, versteht sich. Der deutsche Staat unterdrückt und bekämpft nämlich Jüdinnen und Juden, um jüdisches Leben zu schützen. So der selbst behauptete Anspruch, wie wir ihn aus Sonntagsreden und Bundestags-Resolutionen kennen.
Deutschland kategorisiert Jüdinnen und Juden wieder, teilt sie ein in „gut“ und „schlecht“. Schützenswert ist jüdisches Leben nur, wenn es sich bedingungslos an die Seite der Rechtsradikalen und Faschisten in Israel stellt. Die sind gemeint, die verdienen den Schutz des deutschen Staats in Form von Polizeiknüppeln gegen Andersdenkende. Wer sich frech das Recht herausnimmt, in Opposition zur deutschen Staatsräson zu treten – wird zum Abschuss freigegeben und verfolgt.
Die Listung der Jüdischen Stimme reiht sich ein in den autoritären Staatsumbau, den wir auf allen möglichen Ebenen erleben – grundlegende Rechte werden angegriffen und jeden Tag bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Hand in Hand mit Israel läuft die BRD schnurstracks auf den Autoritarismus zu: Dieses Land ist gescheitert – und hat nichts aus seiner verbrecherischen Geschichte gelernt. Die Entnazifizierung hat nie stattgefunden. Sie ist ein Mythos, eine verlockende Lüge, eine sedierende Einschlafgeschichte, die wir uns gegenseitig erzählen, um ruhig und ohne German guilt einschlafen zu können.
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Jüdischer Widerspruch gegen die Staatsräson wird hierzulande als besonders bedrohlich empfunden. Jüdische Menschen gelten hier nicht als eigenständige politische Subjekte, sondern werden zu amorphen Objekten, deren Funktion die Projektionsfläche deutscher Nicht-Juden ist – für die brutale Durchsetzung deutscher Interessen können sie schamlos instrumentalisiert werden. Sie werden nicht als heterogene, diverse Gruppe, sondern als homogener, monolithischer Block betrachtet, der ideologisch mit dem israelischen Staat in Eins gesetzt wird.
Deutschland ist das Land des Gehorsams, blinde Unterwürfigkeit gilt hier als Tugend – die Übermacht des Staates in Frage zu stellen, „gehört sich nicht“. Aber mit Gehorsam baut man keinen Frieden. Frieden baut man nur mit Dissens und Widerspruch zur Macht, mit universalen Werten und dem Infragestellen von in Stein gemeißelten Erzählungen. Dafür steht die Jüdische Stimme wie nur wenige Gruppen in diesem kranken Land neben ihr.
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Die Jüdische Stimme ist im Diskurs zu Palästina und Israel, zum Genozid in Gaza, zu Rechtsruck und Antisemitismus in der BRD und weltweit ein unschätzbares Gegengewicht gegen den bellizistischen Mainstream, den politischen und medialen rechtsrückenden Einheitsbrei. Sie beugt sich keinen Konventionen und biedert sich nicht bei der Macht an. Die Jüdische Stimme steht für gelebten Internationalismus. Sie stellt sich konsequent in Opposition zu Imperialismus, Kolonialismus, Ausbeutung und Krieg – und stets an die Seite der einfachen Menschen, der Geknechteten und Geschundenen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Westasien und überall.
Als Antifaschisten ist es unsere Aufgabe, das Märchen der Entnazifizierung als solches zu entlarven, und gegen die Lüge anzukämpfen, Deutschland habe gelernt, sei geläutert und habe sich moralisch rehabilitiert. Die Jüdische Stimme ist ein bedeutender Teil dieses Kampfes. Ein Angriff auf einen ist immer ein Angriff auf uns alle – und deshalb stehen wir hinter euch, neben euch, vor euch, um euch gegen die skrupellosen Angriffe des deutschen Staats zu verteidigen.