Zur Krise der Linken und der Partei – was ist heute „links“?

Das Bundestagswahlergebnis vom 26. September 2021 und die anschließenden Diskussionen haben es überdeutlich gemacht: Die Partei DIE LINKE befindet sich einer schweren Krise. Die Hintergründe der Krise liegen aber tiefer und sie betreffen nicht nur die Partei, sondern auch die gesellschaftliche Krise insgesamt.[1]

Zu betrachten sind hier zwei Dimensionen:

1. Die abnehmende Verankerung der linken Kräfte in der und ihre abnehmende Bedeutung für die gesellschaftliche Basis, für eine große Zahl von Menschen, und die Frage, was für Menschen das sind

2. Und: Was will die Linke überhaupt, welche Ziele und Strategien verfolgt sie, wie ist ihr Profil, was ist heute „links“, und wieso und für wen sollte das relevant sein?

Zur Krise der sozialen Verankerung der Linken und der Partei

Zu den beiden Punkten gibt es wesentliche Probleme und Klärungserfordernisse:

1. Zur Klasse: Die sozialistische Linke als gesellschaftliche Tendenz, in deren Tradition die Partei DIE LINKE steht, also nicht nur die Parteiströmung der Sozialistischen Linken (SL), hat ihre historischen Wurzeln in der Klasse und der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Lohnabhängigen, in der arbeitenden Bevölkerung im breiten Sinne also. Als ihre zentrale soziale Basis, als zu mobilisierenden Wähler:innen und als Subjekt sozialistischer Veränderungen, auch weil diese Klasse die Produzentin des gesellschaftlichen Reichtums ist.

Dass die Arbeiterklasse mit linken politischen Bewegungen und Organisationen verbunden ist, zumindest ein größerer Teil von ihr, ist zwar in ihrer sozialen Interessenlage begründet, aber trotzdem offenbar keineswegs automatisch gegeben. Wie und in welche Richtung Interessen artikuliert und Kämpfe geführt werden, solidarisch und gegen das Kapital oder gemeinsam mit Teilen der Herrschenden gegen andere Teile der eigenen Klasse, das ist umkämpft. Eine sozialistische Linke kann aber jedenfalls nur stark und erfolgreich sein, wenn sie große Teile der arbeitenden Klasse(n) auf Basis ihrer gemeinsamen, insbesondere sozialen Interessen für sich gewinnen und mobilisieren kann. (Wenn hier des Öfteren von „Klasse“ die Rede ist, meint das nicht, dass wir in der Öffentlichkeitsarbeit mit dem Klassenbegriff um uns werfen sollten, sondern da ist insgesamt wichtig, verständlich und nicht durch die Wortwahl abschreckend zu sein.)

Also ist zu diskutieren, was ist die arbeitende und beherrschte Klasse, wer, welche Gruppen sind wie relevant, welche Interessen haben und artikulieren sie, in welchem Verhältnis stehen soziale und ökologische Interessen, soziale Interessen und die verschiedenen „Identitätsgruppen“?

Klar ist meines Erachtens nach, dass im Mittelpunkt weiter das Merkmal der Lohnabhängigkeit, der Charakter der Arbeitskraft als Ware steht. Die Arbeiterklasse ist heute vielfältig zusammengesetzt, umfasst schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr überwiegend Industriearbeiterschaft, sondern mehrheitlich Dienstleistungsbeschäftigte, Frauen wie Männer, und einen großen und weiter wachsenden Anteil mit Migrationshintergrund. Insgesamt ist die Klasse in vielerlei Hinsicht differenziert und mit fließenden Übergängen zu lohnabhängigen Mittelschichten. Auch abhängig arbeitende Solo-Selbstständige gehören dazu, obwohl sie formal nicht lohnabhängig sind. Die Gewerkschaften gelten als ein zentraler Partner und Bezugspunkt. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Intellektuellen und progressive Teile der Mittelschichten.[2]

Zentral sind die gemeinsamen Interessen großer Teile der Klasse, die müssen vorrangig vertreten und Einheit in der Pluralität hergestellt werden, gegen gemeinsame Gegner. Dabei formieren sich die Klasse und ihre Interessen dominant im nationalstaatlichen Rahmen und dieser ist politisch zentral für DIE LINKE. Im Mittelpunkt stehen die sozialen Interessen der Lohnabhängigen und die reale Verbindung der LINKEN zur und Verankerung in der Arbeiterklasse, in ihren Gewerkschaften, Vereinen, Wohnvierteln, Familien, Kommunen, Kultur. Dabei darf es nicht nur um die organisierten und aktiven Teile der Klasse gehen, nötig ist ein Bezug, ein Zugang auch zur Masse der anderen Klassenangehörigen, die Berücksichtigung ihres durchaus widersprüchlichen Alltagsbewusstseins, nicht um es so hinzunehmen, aber um sich politisch und sozusagen pädagogisch darauf zu beziehen. Es darf keine Abspaltung, Absonderung, Distanzierung davon geben, sondern eine populäre Politik und Sprache und Organisation und Praxis sind nötig.

Dabei sind möglichst viele anzusprechen und mitzunehmen. Die Interessenvertretung muss sich zugleich gegen Diskriminierungen aller Art, gegen Sexismus, Rassismus und so weiter wenden. Aber auch dagegen, kulturelle und politische Differenzen innerhalb der Klasse zu Spaltungen zu steigern. Auch pauschale Angriffe, etwa Deutsche wären allgemein Rassisten oder Agitation gegen „alte weiße Männer“, sind daneben. Falsch sind auch Übertreibungen wie „offene Grenzen für alle“ und übermäßige Fixierungen, etwa die Kämpfe gegen Rassismus oder gegen Sexismus als vermeintlich die überhaupt wichtigsten Fragen der Zeit zu behandeln, oder die Verwechslung von Internationalismus mit der Ablehnung oder Leugnung der weiterhin zentralen Bedeutung der Territorialstaaten.

Das tatsächliche Kernproblem beziehungsweise die Kernaufgabe ist es, für das Überleben und eine gute Zukunft der Menschen zu kämpfen, gegen Krieg und ökologische Zerstörung, gegen Kapitalismus und Imperialismus als zentrale Ursachen der Probleme, für Demokratie und individuelle Freiheit sowie gleiche Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen. Die arbeitende und beherrschte Klasse vertritt dabei nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern zugleich die der Menschheit insgesamt. Wir haben allerdings ein zunehmendes Problem, diese Erkenntnisse und Positionen populär und auch innerhalb der Linken zu vermitteln und eine sozialistische Perspektive und „Erzählung“ für die Gegenwart attraktiv zu formulieren und zu verbreiten.

Worin liegt nun die Krise der Linken und der Partei? Das Programm der Partei ist insgesamt in Ordnung, es muss an einigen Punkten vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen der Produktivkräfte (Digitalisierung und Überwachung) und der Mensch-Natur-Verhältnisse (Klimakrise), des Kapitalismus (Finanzkapitalismus, Digitalkonzerne) und der internationalen Verhältnisse und Herausforderungen weiterentwickelt werden. Das Hauptproblem der gesellschaftlichen Linken wie der Partei ist die abnehmende Verankerung in der Arbeiterklasse, die fortschreitende Verschiebung der sozialen und Wählerbasis hin zu akademisch qualifizierten Gruppen. Es ist gut und wichtig, attraktiv für Jüngere und höher Qualifizierte zu sein, aber wir brauchen eine Verbindung dieser Gruppen und die Vermeidung von Abgrenzung zu den populären Klassen, wir brauchen organische Intellektuelle der beherrschten Klassen und nicht Intellektuelle, die sich für etwas Besseres halten oder unter der ideologischen Hegemonie der herrschenden Klasse stehen.

Die Gefahr der politischen Spaltung

Seit Monaten spitzen sich in der LINKEN die Gefahren von Spaltung zu. Genauer gesagt, es gibt Teile der Partei, die immer offener und offensiver auf eine Spaltung beziehungsweise eine Ausgrenzung und das Herausdrängen wesentlicher Teile der Partei hinarbeiten. Das richtet sich zugespitzt gegen die Person von Sahra Wagenknecht und hat sich nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahl 2021 verschärft. Auch ich finde diverse Äußerungen von Sahra Wagenknecht problematisch. Sie sind teilweise überspitzt und provozieren auch Menschen, die eigentlich inhaltlich eher auf ihrer Seite sind. Aber es geht um viel mehr, nicht nur um die Person.

In der Sache spricht Sahra Wagenknecht Punkte zugespitzt an, die tatsächlich und unabhängig davon als Probleme existieren, die viele Leute wahrnehmen, sie von der Linken abstoßen und die man auch nicht einfach so laufen lassen kann und gute Miene dazu machen. Ihr wird vorgeworfen, sie führe einen schädlichen Kulturkampf innerhalb beziehungsweise gegen Teile der Linken. Das kann man so sehen, aber entscheidend ist, dass andere diesen schädlichen Kulturkampf angefangen haben und ihn schon seit vielen Jahren führen und dabei immer aggressiver werden.

Die Kräfte, die hier andere Auffassungen haben als diejenigen, die sich in den Funktionärsebenen der Partei auf Bundesebene in letzter Zeit durchgesetzt haben, letztlich die ganzen „traditionalistischen Linken“, sollen sich unterwerfen gegenüber diesen Kräften und ihrem meines Erachtens nach falschen Kurs. Oder sie sollen verschwinden. Das ist mehr oder minder explizit die Botschaft auch diverser Texte und Äußerungen in Auswertung der Bundestagswahl, die in Verkennung der Realität die Schuld für das schlechte Ergebnis einseitig Sahra Wagenknecht und anderen Genoss:innen aus diesem Spektrum der Partei zuschieben, auch wegen ihrer antiimperialistischen friedenspolitischen Positionen. Beides – Unterwerfung oder Verschwinden – wird nicht passieren. Auch die Hoffnung aus diesem Spektrum der Partei, nach der Bundestagswahl könnten sie auch in der Bundestagsfraktion durchziehen und die Kontrolle übernehmen, hat sich nicht erfüllt. Wer das durchsetzen will, wer auf Ausgrenzung oder Spaltung zielt, setzt den Bestand der LINKEN als relativ starke politische Kraft in Deutschland auf Spiel.

Es muss uns darum gehen, solche Spaltungen abzuwehren und das sozialistische Profil der LINKEN wieder zu stärken in einer Weise, dass gemeinsame Kernanliegen im Mittelpunkt stehen und die Breite und Pluralität der Partei gewahrt werden kann. Das erfordert ein vernünftiges und konstruktives Verhalten von allen Seiten. Gewerkschafterinnen, Ökobewegte, Frauenbewegte, Queers, Aktive in der Geflüchtetensolidarität, gegen Nazis, in der Erwerbslosenbewegung, Friedensbewegte, Hennig-Wellsow und Wissler und Wagenknecht – sie alle gehören in die LINKE und müssen sich gegenseitig akzeptieren und aushalten. Wir müssen damit leben können, dass bei Übereinstimmung in Grundsätzen in umstrittenen Fragen unterschiedliche Positionen vertreten werden. Es käme darauf an, die Kontroversen in zivilisierten und konstruktiven Formen auszutragen und auch in die jeweiligen Milieus außerhalb der Partei entsprechend einzuwirken, statt sich gegenseitig zu Gegnern hochzuschaukeln. Ohne eine Kultur des gegenseitigen Respekts, des Verzichts auf persönliche Diffamierungen und Ausgrenzungsversuche kann es keine starke LINKE geben.

Was ist heute „links“?

Letztlich ist die zentrale Frage: Was ist links, was sind heute in der Sache linke und sozialistische Positionen? Das ist nicht nur in der Partei, sondern auch in der gesellschaftlichen Linken umstritten. Hier meine Sicht:

Feminismus, Genderpolitik, Antirassismus, Solidarität mit Flüchtlingen: Ja klar, das sind wichtige linke Anliegen. Sie richten sich gegen gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten, Benachteiligungen und Herrschaftsverhältnisse. Oder auf den Schutz und ein menschenwürdiges Leben bedrohter Menschen, sei es im Mittelmeer, in der Flüchtlingsunterkunft oder in den Herkunftsregionen. Das Eintreten für gleiche Rechte und Chancen aller Menschen, die dauerhaft in einem Land leben, ist ein linkes Anliegen. Aber die Forderungen dazu sollten auch nicht überziehen und spalten, nicht pauschal gegen andere Bevölkerungsgruppen gerichtet werden, gemeinsame Interessen in den Mittelpunkt stellen.

Klimapolitik, ökologische Transformation: Ja, klar, das sind wichtige linke Anliegen, es geht um das gute Leben und Überleben der Menschen. Aber es geht uns als Linke dabei um ein soziales und ökonomisches Umbauprojekt, mit den Beschäftigten und den sozial Benachteiligten, nicht um schlichtes Schrumpfen, Dichtmachen, Verbieten, individuelle Einschränkungen. Es stimmt, dass die sozial Benachteiligten auch unter den ökologischen Problemen am meisten leiden, aber oft leiden sie eben auch am meisten unter den Folgen von ökologischer Politik, wenn ihre Jobs verloren gehen und sie sich vieles nicht mehr leisten können. DIE LINKE muss sich vor allem profilieren, indem sie die sozialen Interessen im ökologischen Umbau zur Geltung bringt, nicht indem sie versucht, immer die radikalsten Forderungen aus der Ökobewegung auf ihre Fahnen zu schreiben. Letzteres verhindert nicht, dass die meisten, denen das besonders wichtig ist, trotzdem Grüne wählen, schadet der LINKEN aber bei anderen Gruppen.

Antifaschismus, gegen Rechts, gegen Nationalismus: Ja, sicherlich, das sind wichtige linke Kämpfe. Aber auch hier gibt es Übertreibungen, die schädlich sind: etwa wenn alle möglichen Leute, die das nicht sind, etwa die Mehrheit der „Querdenker“, als Nazis beschimpft werden. Oder wenn überall, wo auch einige Rechte auftauchen und versuchen, Einfluss zu gewinnen, und die Linken dann nicht gleich weglaufen, sondern sinnvollerweise den Kampf um die Hegemonie aufnehmen, „Querfront“ gewittert und Linke diffamiert werden, wie teilweise in der Friedensbewegung. Oder wenn statt Anti-Nationalismus ein Antinational-ismus betrieben wird. Da wird dann geleugnet, und das Aussprechen dieser simplen Wahrheit eventuell sogar als „rechts“ bezeichnet, dass auch weiterhin die nationalstaatliche Ebene politisch zentral ist und insbesondere nur maximal auf dieser Ebene bisher Demokratie und Sozialstaat funktionsfähig organisiert werden können.

Europäische Zusammenarbeit und Internationalismus: Ja, selbstverständlich sind das zentrale linke Anliegen. Aber das ist etwas anderes als Glorifizierung der bestehenden EU, sondern die ist weiterhin wie im Grundsatzprogramm als neoliberal, undemokratisch und zunehmend militaristisch zu kritisieren, sie muss grundlegend umgebaut werden. Zudem ist Europa größer als die EU, auch Russland gehört dazu. Linker Internationalismus bedeutet nicht, die Aufhebung aller Grenzen zu fordern oder unbeschränkte Migration als Lösung globaler Probleme zu betrachten. Und es bedeutet auch nicht, sich auf die falsche Erzählung einer angeblichen zentralen Frontstellung von „Demokratie und Freiheit“ einerseits (die westlichen Staaten) versus „Autoritarismus“ andererseits (China, Russland und andere) einzulassen. Linker Internationalismus beruht auf einer kritischen Analyse der realen internationalen Herrschafts- und Konfliktverhältnisse, muss daher weiterhin im Kern für Antiimperialismus und Antimilitarismus eintreten, Einsatz für Frieden, Entspannung und Abrüstung fordern und für internationale Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme und zur Entwicklung der ärmeren Länder der Erde eintreten.

Auch in der Corona-Politik stellt sich die Frage, was hier linke Politik ist. Einerseits ist Gesundheitsschutz insbesondere auch für die verwundbaren Gruppen ein zentrales Ziel, aber auch der Schutz individueller und demokratischer Freiheiten und die Abwägung der negativen Wirkungen von Eindämmungsmaßnahmen sind nötig. Verhältnismäßigkeit bleibt ein wichtiges Kriterium und kontroverse Diskussion muss ungehindert möglich sein. Die konkreten Fragen sind neu und schon deshalb gibt es unterschiedliche Auffassungen und Prioritäten dazu auch unter Linken. DIE LINKE darf hier keine besonders radikalen Positionen einnehmen, sie darf sich und die Gesellschaft an dieser Frage nicht spalten lassen.

Der wichtigste Kern von „links“ und entscheidend für die Unterstützung linker Politik durch die arbeitende und abhängige Bevölkerung ist weiterhin der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit, gegen kapitalistische Ausbeutung und Herrschaft im eigenen Land. Und die im eigenen Land formierten Klassen und sozialen Bewegungen und die von ihnen beeinflussten Staaten sollen solidarisch sein mit denen in anderen Ländern und global. Dabei dürfen wir aber nicht alle Länder über einen – unseren – Kamm scheren, sondern müssen eigenständige Entwicklung ermöglichen und schützen. Die Völker können nicht von außen zwangsbeglückt werden, sondern können sich nur selbst befreien.

Linke Politik sollte von den Realitäten ausgehen, international, sozial, politisch, kulturell, vom Bewusstseinsstand der Menschen, nicht nur Wunschvorstellungen formulieren. Es geht um Lösungsmöglichkeiten, um das, was bei einer bestimmten Politik und Entwicklung wahrscheinlich tatsächlich herauskommt, statt nur um Moral und Haltung. Grundlage muss daher eine realistische Analyse sein, eine materialistische und dialektische Sicht auf die Welt. Der Marxismus bietet dafür die beste Grundlage, muss aber selbstverständlich immer aktuell auf die heutigen Verhältnisse angewendet werden, empirisch fundiert, es geht nicht um das Herunterbeten zeitloser Weisheiten. Damit eine linke Partei das leisten kann, ist ständige Bildungsarbeit zu Grundlagen notwendig und zu historischen Entwicklungen, von denen vor allem Jüngere oft gar nichts wissen – in der Schule lernt man das leider nicht. Das betrifft insbesondere auch die Geschichte des Kapitalismus und Imperialismus, seiner Krisen, Verwüstungen und Kriege, in Deutschland und im Weltmaßstab.

DIE LINKE braucht als sozialistische Partei eine sinnvolle Vorstellung, was ihre Zielperspektive „demokratischer Sozialismus“ bedeuten soll und wieso das wichtig ist. Es geht dabei nicht um eine abstrakte Heilsvorstellung, in die alle möglichen Wünsche projiziert werden, sondern im Kern um eine realistische Konzeption zur Überwindung des Kapitalismus, der Vorherrschaft kapitalistischen Eigentums, Interessen und daran orientierter Politik. Dazu steht viel Richtiges im Erfurter Grundsatzprogramm, allerdings scheint das kaum jemand zu kennen. Und es muss überzeugender mit den heutigen Problemen und Diskussionen verbunden werden, konkrete Kapitalismuskritik muss dafür auch in der alltäglichen Öffentlichkeitsarbeit eingebracht werden. Und es geht um die Verbindung mit Reformalternativen, fokussiert auf die sozial-ökonomischen Fragen, mit sozialistischer Politik für die Gegenwart und die nächste Zeit. Diese muss daraus gerichtet sein, reale Verbesserungen für die Leute durchzusetzen und so politische Unterstützung zu mobilisieren. Notwendig sind populäre Botschaften und Forderungen, damit sie bei möglichst vielen Menschen ankommen und verstanden und mit der LINKEN verbunden werden und ein attraktives positives Profil oder Bild ergeben, was DIE LINKE will und was ihre „Erzählung“ ist.

Breit angelegte Bündnispolitik

DIE LINKE braucht eine breit angelegte und in verschiedene Richtungen ausgreifende Bündnispolitik, Verbindungen und Verankerung in progressiven und sozialen Bewegungen und Organisationen, populären Kulturen und Milieus. Dabei geht es nicht darum, vor allem bei besonders radikalen oder aktivistischen Gruppen verankert zu sein oder immer die weitestgehenden Forderungen zu propagieren. Noch wichtiger sind Massenorganisationen und -bewegungen wie die Gewerkschaften oder Sozialverbände, örtliche Initiativen und Vereine, Medien und Kultur, Bildungseinrichtungen und am wichtigsten die Betriebe und Verwaltungen, das Erwerbsleben. Hier müssen Linke in der Lage sein, verständlich und offen mit den Menschen zu sprechen, einladend und expansiv sein, nicht abstoßend, abgrenzend und verschreckend. Wir müssen gerade auch mit den Menschen sprechen, die nicht sowieso schon links sind, oder die gar nicht wissen, dass DIE LINKE die richtige Adresse für ihre Interessen ist. Wir dürfen sie nicht ablehnen, wenn sie im Einzelnen problematische Äußerungen machen. Das Herangehen muss sein: Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. Wer gegen die herrschende Politik und gegen „die da oben“ und nicht klar rechts ist, ist für uns zumindest ansprechbar.

Abschließend noch eine Bemerkung zur 2018 gegründeten Bewegung „aufstehen“, die im Kern traditionell soziale und linke Forderungen formuliert hat: Da sind sicher Fehler gemacht worden und ist vieles schief gelaufen. Es wäre meines Erachtens nach eine Klärung und Kommunikation vorab wichtig gewesen, was die strategische Orientierung ist, dass es nicht um eine neue Partei gehen sollte, und in DIE LINKE hinein auch, welche Chancen damit für die Partei verbunden waren. „aufstehen“ hätte eine Chance bieten können und hat das ein Stück weit auch erreicht, viele Menschen wieder oder neu für soziale und linke Politik zu mobilisieren, die von den Parteien aktuell nicht erreicht werden. DIE LINKE hätte sich daher zu „aufstehen“ positiv und konstruktiv verhalten sollen und damit auch eine Möglichkeit nutzen, viele dort aktive Menschen neu oder wieder für die Partei zu gewinnen.

Denn es war doch absehbar, dass SPD und Grüne sich ablehnend verhalten würden und nur DIE LINKE eine parlamentarische Vertretung zentraler Forderungen darstellen würde. Stattdessen hat die Parteiführung sich schroff ablehnend geäußert und deutlich gemacht, dass sie die Menschen, die sich bei „aufstehen“ engagierten, nicht haben wollte. Klar hätte das auch die innerparteilichen Verhältnisse verändert, mehr Berücksichtigung dort vertretener Positionen erfordert. Das ist aber nichts anderes, als es im Verhältnis zu anderen Bewegungen und Organisationen, die teils ja auch aus oder von der Partei aktiv gefördert werden, etwa „Aufstehen gegen Rassismus“ oder das Institut Solidarische Moderne (ISM) , auch der Fall ist. Der Kern der heftigen Anti-Haltung der Parteiführung zu „aufstehen“ war, sie wollte diese Menschen und ihre Positionen nicht in der LINKEN, wollte die Partei lieber weiter verengen. Auch dafür ist das Wahlergebnis eine Quittung.

Ralf Krämer ist Mitglied des Bundessprecher:innenrates der Sozialistischen Linken (SL). Er arbeitet als Gewerkschaftssekretär in Berlin.


[1] Der Text beruht auf Aufzeichnungen für das Referat auf der Mitgliederversammlung der Sozialiastischen Linken (SL) am 28. August 2021, mit einigen Ergänzungen aus der Diskussion und zu den Entwicklungen seit der Bundestagswahl sowie einem Abschnitt zu Bündnisorientierung und „Aufstehen“, ohne die Passagen zur SL selbst, dazu vgl. den Beschluss der Mitgliederversammlung.

[2] Vgl. dazu http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/3393.die-klassenlandschaft-in-deutschland-2018.html

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2 Antworten

  1. Es ist das alte Problem der linken Bewegungen: nur die „gemeinsame Sache“ soll zählen. Und am linkesten ist immer, wer das am schnellsten und einfachsten zu erreichen verspricht. Da verliert man dann die Menschen, die auch in anderen Meinungen mit Einfühlungsvermögen nach Gemeinsamkeiten suchen können, die ehrlich und auch emotional ausdrücken können, welches Leben sie denn leben möchten, wo sie einen wirklich gangbaren Weg sehen die bestehenden Verhältnisse zu verändern usw. Mir ist beim Lesen das Buch „Kleriker“ von Eugen Drewermann eingefallen. Er hat geschrieben, dass die katholische Kirche u.a. durch das Zölibat Menschen anzieht, die sich den Konflikten des Lebens nicht aussetzen wollen / können und aus Angst vor eigener Entwicklung lieber unter den Mantel der autoritären Über-Ich Figur der Kirche schlüpfen … und dieser damit letztlich Schaden zufügen. Für viele Linke gilt leider das Gleiche. Unter dem Mantel der Theorie musss man sich mit all‘ den Widersprüchen des Lebens, den tatsächlichen Gegebenheiten usw. nicht wirklich und ehrlich auseinandersetzen. Als Moralist hat man immer recht. Dass man damit aber der „gemeinsamen Sache“ schadet – egal. Schuld waren dann die anderen. In Fehlerzuschreibung ist man Spitze. Diese Theoriewerk beherrscht man perfekt.

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