Die Medienberichterstattung zum großen Komplex Russland ist genau wie die politische Debatte zum Thema in Deutschland extrem polarisiert. Zwischen fast schon bedingungsloser Lobpreisung von Wladimir Putin und der Politik des Kremls einerseits und reflexhafter Diffamierung selbiger – die an Russophobie grenzt und diese Grenze nicht selten überschreitet – gibt es kaum Zwischentöne. Beide Lager, so scheint es, sind emotional derart hochgekocht, dass eine rationale, nüchterne Debatte schwierig bis unmöglich wird. Neben „Dauerbrennern“ wie das Verhältnis zu Europa und den USA oder die Stellung der LGBTQ-Community in Russland sind aktuelle Konflikte etwa die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny oder die fast fertiggestellte Pipeline Nord Stream 2.
Über all diese Sachen unterhielten wir uns mit dem Bundestagsabgeordneten der Linken Alexander Neu.
Die Freiheitsliebe: Immer wieder kommt Kritik auf, dass Die Linke zu unkritisch gegenüber Russland und Putin sei. Teilst du diese Einschätzung? Eines der Beispiele, an denen dies festgemacht wird, sind Äußerungen zur Vergiftung von Alexei Nawalny, bei denen die Linke eine russische Beteiligung in Zweifel gezogen hat. Inzwischen bestätigt zumindest auch die OPCW, dass Nawalny mit Nowitschok, einem Gift, das in Russland entwickelt wurde, vergiftet wurde. Ist das eine Bestätigung für eine russische Beteiligung?
Alexander Neu: Nein! Die Linke ist nicht unkritisch gegenüber Russland, so wie wir auch nicht unkritisch gegenüber Regierungen anderer Staaten sind. Was wir, zumindest die Personen der Fraktion, die sich mit internationaler Politik und auch Russland befassen, dezidiert ablehnen, sind Doppelstandards und Doppelmoral. Und davon gibt es eine Menge in der deutschen Politik. Ich bevorzuge methodisch die Vogelperspektive und die Spiegelperspektive, um politische Sachverhalte zu bewerten.
Bei der Vogelperspektive geht es darum, von oben auf den Sachverhalt zu schauen, das heißt, nicht aus der Perspektive eines Beteiligten, eines deutschen Politikers mit einer zum Beispiel klaren transatlantischen Haltung, sondern eher im Sinne eines Politikwissenschaftlers, der ich ja auch bin. Bei dieser Perspektive müssen alle relevanten Fakten bewertet werden und nichts darf unter den Tisch fallen, damit die eine Seite als „gut“ und die andere als „böse“ dargestellt werden kann. Am Beispiel Nawalny lässt sich das illustrieren: Nawalny wird von der herrschenden Politik als „Kreml-Kritiker“, kurzum als Held gegen Putin gefeiert. Im politischen Berlin höre ich von Russlandkennern und RussInnen, dass Nawalny keine große Nummer in Russland sei – was also im Gegensatz zur deutschen Darstellung steht. Dass passt auch gut zu einem Beitrag des „Weltspiegels“ oder „Auslandsjournals“ im Jahre 2018. Dort wurde ein Beitrag über den nicht zur Kandidatur für das russische Präsidentenamt zugelassenen Nawalny gesendet. Mit keinem Wort wurde der erfolgversprechendste Gegenkandidat, Pawel Grudinin, der von der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation, Anm. d. Editors) nominiert wurde, erwähnt. Grudinin erhielt mit 11,8 Prozent mehr Stimmen als alle übrigen Kandidaten der Opposition zusammen. Dies wurde auch schon bei Umfragen zuvor deutlich. Die oben erwähnte Berichterstattung hielt es nicht für notwendig, zumindest Grudinin mal zu erwähnen, vermutlich, weil er für die KP kandidierte. Diese wichtige Information wurde dem Zuschauer/der Zuschauerin im deutschen Fernsehen vorenthalten.
Aber über einen selbsternannten Kreml-Kritiker, der vor rechtsextremistischen Äußerungen in der Vergangenheit nur so trieft, wird wohlwollend berichtet – allerdings nicht über seine rechtsextreme und rassistische Gesinnung, sondern nur, dass er der Held gegen Putin ist.
Die Spiegelmethode zwecks Analyse und Bewertung eines Sachverhaltes funktioniert in ihrer Anwendung simpler, da sie auf die Offenlegung von Doppelstandards abzielt: Wenn die US-Navy in der östlichen Ostsee oder der Barentssee nahe der russischen Grenze schippert, ist das völlig normal für den deutschen Otto-Normal-Politiker und russische Kritik daran wird als unverschämt zurückgewiesen. Wenn jedoch die russische Marine den befreundeten Inselstaat Kuba besucht und dabei in den Golf von Mexiko oder die Karibik einläuft, ist das Geschrei groß, was Russland sich anmaße. Auf die Idee, dass beide Verhaltensweisen gleich bewertet werden müssen, kommen hiesige transatlantische Wald-und-Wiesen-PolitikerInnen nicht unbedingt. Um die sehr effektive Spiegelmethode zur Entlarvung von Doppelstandards zu diskreditieren, kommt ein in der politischen Alltagskommunikation neuer Begriff ins Spiel: „Whataboutism“. Damit soll diejenige Person, die die Doppelstandards hervorhebt, als Leugner oder zumindest als Relativierer von Missständen entblößt werden. Um die Sache rund zu machen, wird die „Whataboutism“-Technik als alte sowjetische beziehungsweise neue russische Propagandataktik erklärt.
Nun zu dem Vergiftungsvorwurf von Nawalny: Die Bundesregierung erklärt auf der Grundlage einer Untersuchung eines Labors der Bundeswehr, einen Nervengiftkampfstoff von der Nowitschok-Gruppe festgestellt zu haben. Die OPCW kommt zu dem gleichen Ergebnis. Zugleich wird auch der Täter seitens der Bundesregierung präsentiert: Die russische Regierung, gegebenenfalls auf Putins Befehl sogar. Beweise für die Urheberschaft gibt es nicht. Stattdessen wird – neuerdings als neues Wortinstrument als Ersatz für fehlende Beweise – von „Plausibilität“ geschwafelt. Wer dieses Narrativ in seiner unbewiesenen Form anzweifelt und stattdessen Untersuchungen in alle Richtungen einfordert, so wie es unser außenpolitischer Sprecher Gregor Gysi oder die Obfrau im Auswärtigen Ausschuss, Sevim Dağdelen, getan haben, wird unmittelbar als Verschwörungstheoretiker oder Putin-Lakai diffamiert. Das heißt, dass das Einfordern rechtsstaatlicher Prinzipien in diesem Falle seitens der herrschenden Politik unerwünscht ist. An dem von ihr ausgegebenen Narrativ darf nicht gerüttelt werden. Mein Verständnis von Links-Sein ist es, solche Ereignisse und die sie erklärenden Narrative kritisch zu hinterfragen.
Ob nun die russische Regierung oder nachgeordnete staatliche Stellen die Urheber dieser Vergiftung sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Und im Gegensatz zur Bundesregierung will ich nicht spekulieren beziehungsweise diese Spekulation als Tatsache verkaufen. Interessant ist aber, dass die deutsche Seite zwischenzeitlich vier Rechtshilfeersuchen Russlands bislang nicht positiv beantwortet hat. Dies hat der Außenminister-Darsteller Maas mir in der Fragestunde des Deutschen Bundestages bestätigt. Fragt sich nur: Warum wird den russischen Rechtshilfeersuchen deutscherseits nicht stattgegeben?
Kurzum: Die deutsche Seite fordert von Russland, Ermittlungen aufzunehmen, verhindert jedoch ihrerseits die positive Beantwortung der russischen Rechtshilfeersuchen und untergräbt damit russische Aufklärungsarbeit. Wie passt das zusammen? Warum kooperieren die deutschen Stellen nicht mit den russischen Behörden? Und warum berichten deutsche Leitmedien in ihrer Funktion als vierte Gewalt nicht darüber?
Die Freiheitsliebe: In einem Interview mit der Berliner Zeitung forderte ein Bundessprecher der Linksjugend, Michael Neuhaus, dass „Gruselauftritte mancher linker Genossen“ ein Ende haben müssten, und meint damit, dass die Linke „viel zu oft [in den Medien ist], weil sie sich positiv auf autoritäre Regime bezieht“ – auch und vor allem in Bezug auf Russland. Trifft er hier nicht einen Nerv?
Alexander Neu: Es zeigt vielmehr, dass der besagte Bundessprecher der Linksjugend sich die Narrative der Herrschenden zu eigen macht, statt kritisch Herrschaftsverhältnisse und die daraus resultierende Politik zu analysieren, was für einen Linken eine tägliche Grundübung sein sollte. Ich habe mir das Interview von Herrn Neuhaus sehr genau angesehen. Die von ihm gemachten Statements erinnern doch eher an eine linksliberale Orientierung im Sinne der Grünen oder der SPD denn an eine linke, geschweige denn eine marxistische Analysefähigkeit. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Herr Neuhaus so etwas wie der Kevin Kühnert (SPD) der Linken sein möchte – nur mit dem Unterschied, dass Kühnert die SPD von links kritisiert und Neuhaus die Linke von rechts scharf angeht. Wenn Menschen ein linksliberales Weltbild vertreten, was ja legitim ist, dann stellt sich schon die Frage, warum diese Menschen sich in der Linken, die sich als demokratisch-sozialistische und anti-kapitalistische Partei versteht, quälen?
Nun zurück zum Vorwurf, die Die Linke beziehe sich positiv auf Russland oder andere „autoritär geführte Staaten“. Nein, die Linke kritisiert die Doppelstandards der hiesigen Politik gegen Russland und andere Staaten. Nehmen wir das Beispiel Venezuela. Mein Kollege Andrej Hunko traf sich mit dem Präsidenten Maduro und dem Möchtegern-Präsidenten Guaidó, der von westlichen Staaten, darunter der Bundesregierung, als Präsident anerkannt wurde – übrigens völkerrechtswidrig.
In den Medien wird dargestellt, Hunko habe sich mit dem Präsidenten Maduro getroffen. Das Treffen mit Guaidó wird indes verschwiegen. Aber eine korrekte Berichterstattung wäre, auf beide Treffen hinzuweisen und die Vermittlungsbemühungen von Hunko zu erwähnen. Das wurde aber unterlassen. Diese Informationsauslassung wurde im Anschluss genutzt, um Hunko und die Linke zu diffamieren. Dass unser Außenminister-Darsteller Maas sich hingegen mit dem brasilianischen Faschisten Bolsonaro händeschüttelnd ablichten lässt, scheint für die hiesigen Medien völlig okay zu sein. Auch hier gilt: die Linke lehnt Doppelstandards ab.
Die Freiheitsliebe: Ein zentrales Streitthema im Russland-Komplex ist die Gaspipeline Nord Stream 2, durch die vom russischen Ust-Luga nach Lubmin bei Greifswald bald rund 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich befördert werden sollen. Aus umweltpolitischer Sicht ist die Pipeline eine ausgemachte Katastrophe – ist es mit dieser jahrzehntelangen Fixierung aufs Gas im Grunde unmöglich, die Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten. Geopolitik einmal beiseite: Wie kann sich Die Linke glaubhaft als echte – weil antikapitalistische – klimapolitische Alternative zu den Grünen positionieren wollen und gleichzeitig dieses Mammutprojekt fossiler Energien unterstützen?
Alexander Neu: Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ist alternativlos. Die Klimakatastrophe ist kein Zukunftsszenario mehr. Sie ist bereits Realität in den Anfängen. Die Frage ist nun, wie kann man am schnellsten die fossilen Energiequellen gegen erneuerbare und CO2-neutrale Energieträger austauschen? Und wie kann man die Bevölkerung mitnehmen – vor allem die finanziell schwachen Bevölkerungsschichten vor neuen Belastungen schützen? Denn nur so gewinnt das Thema auch die Zustimmung der Mehrheit der Gesellschaft. Und genau darin liegt ein Unterschied zu den Grünen. Den Grünen ist die Belastung des Otto-Normal-Verbrauchers relativ egal. Der Linken kann dies nicht egal sein. Auch darf man die Entwicklung einer klimapolitischen Alternative nicht der Wirtschaft allein überlassen, dann gibt es nämlich keine Alternative – vor allem keine sozial-ökologische Alternative. Hier fordert die Linke eine starke staatliche Intervention im Sinne eines staatlichen Gestaltungsanspruchs.
Ich betrachte Nord Stream 2 als eine notwendige Übergangslösung zu einer vollständig CO2-neutralen Energieproduktion. Erdgas, vor allem von Pipelines transportiertes und ohne giftige Fracking-Methoden gewonnenes Gas, ist eben im Vergleich zu anderen fossilen Energieträgern wesentlich weniger belastend für die Umwelt. Aber nochmal, auch Erdgas ist ein fossiler Energieträger und muss auf absehbare Zeit ersetzt werden. Russland ist gut beraten, seine relativ eindimensionale Wirtschaftsproduktion in Form der Produktion von fossilen Brennstoffen maximal zu diversifizieren, das heißt die Wirtschaft in Gänze, aber auch die Energiewirtschaft auf das 21. Jahrhundert hin umzugestalten. Denn Nord Stream 2 ist kein Gefälligkeitsgeschäft des deutschen Kapitals gegenüber Russland, sondern dahinter stehen Wirtschaftsinteressen, die sich im Laufe der Zeit auch wandeln. Nord Stream 2 ist auch im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland, wenn die Alternative im Kauf US-amerikanischen Fracking-Gases bestünde.
Die Freiheitsliebe: Es fällt auf, dass die Linke Russland gegenüber wenig Kritisches sagt, sowohl in Bezug auf die neoliberale Politik im Inland, wie die Verstaatlichung von Sozialwohnungen, als auch regressive Gesetze gegenüber sexuellen Minderheiten. Wie kommt das, gerade da Kritik am Neoliberalismus und eine progressive Haltung bei identitätspolitischen Themen doch eigentlich wichtige Kerninhalte der Linken sind?
Alexander Neu: Nun, selbstverständlich kritisiert die Linke auch innenpolitische Entscheidungen und Entscheidungsprozesse der russischen Politik. Aber, zu allererst ist die Linke eine deutsche Oppositionspartei, die die politischen Entscheidungen und Entscheidungsprozesse in Deutschland zu kontrollieren und zu hinterfragen hat, nicht die russischen, die chinesischen, die US-amerikanischen oder die äthiopischen. Dafür werden weder die Linke noch die anderen Parteien in Deutschland gewählt – zumal das nicht unserem Aufgabenspektrum entspricht. Für die Kritik an innenpolitischen Entscheidungen anderer Staaten sind deren parlamentarische und außerparlamentarische Parteien und Organisationen zuständig – und nicht Deutschland. Bei solchen Forderungen schwingt auch immer ein gewisses Maß an westlicher Arroganz mit. Wir, der Westen, erklären Euch, wie Ihr Euch zu verhalten habt. Das finde ich inakzeptabel.
Vor allem wird diese Moralkeule gerne gegen unliebsame Regierungen eingesetzt, während bei verbündeten Staaten respektive Regierungen alle Augen zugedrückt werden, weil strategische Interessen dann doch schwerer wiegen als moralische Bedenken – siehe der unkritische Umgang mit der Türkei oder schauen wir nach Polen und Ungarn. Keinerlei Sanktionen haben diese Staaten zu befürchten, weil sie für deutsche Interessen zu wichtig sind.
Identitätspolitische Themen sind wichtige Themen. Wenn nicht DIE LINKE, wer sonst soll sie, von den Grünen einmal abgesehen, ansprechen? Identitätsthemen sind häufig Themen gesellschaftlicher Minderheiten und dürfen daher die zentralen Fragen einer linken Partei – die da sind die Eigentumsfrage/soziale Frage, die Friedensfrage und die Umwelt- und Klimafrage – nicht überlagern oder marginalisieren. Die Identitätsthemen müssen in den Kontext der eben genannten zentralen Fragen integriert werden.
Das Thema der Homophobie in Russland wird gerne in der deutschen Politik thematisiert oder besser gesagt instrumentalisiert. Ich kenne nicht die genauen rechtlichen Umstände, mit denen Homosexuelle in Russland konfrontiert sind. Aber eines muss deutlich sein: Homophobie ist, gleich wo, ob in Russland oder in Deutschland, auch ein gesellschaftlich-kulturelles Problem. Welches Verständnis hat eine Gesellschaft über sexuelle Orientierungen etc.? Wie unterscheidet sich das gesellschaftliche Verständnis über sexuelle Orientierungen zwischen Land- und Stadtbevölkerung etc.? Um Homophobie zu kritisieren, muss man nicht unbedingt nur nach Russland schauen. Da reichen auch Blicke in die deutsche Provinz oder in andere osteuropäische Staaten.
Auch hier kritisiere ich die Medien und die übrigen Parteien im Bundestag für ihre politischen Doppelstandards. Sie kritisieren die Homophobie in Russland, übersehen aber sehr gerne die mehr oder minder gleichermaßen ausgeprägte Homophobie in pro-westlichen Staaten Osteuropas wie Polen und der Ukraine. Diese Doppelstandards lassen nur einen Schluss zu: Es geht nicht um die Ablehnung der menschenverachtenden Homophobie, sondern darum, Russland als kulturell minderwertig darzustellen. Die Kritik an der Homophobie in Russland, artikuliert durch deutsche PolitikerInnen und durch manche Medien, hat sodann nicht das Ziel, ein Umdenken in Russland zu befördern, sondern ist lediglich ein Mittel, um das Land vorzuführen. Die Instrumentalisierung der Homophobie für andere politische Zwecke ist letztlich selbst Homophobie durch die Hintertür.
Hierzu gibt es ein interessantes Interview von QUEERAMNESTY mit dem Berliner Queer-Theoretiker Dr. Volker Woltersdorff, der die Instrumentalisierung des Themas im innen- und außenpolitischen Interessenkampf als „Homonationalismus“ bezeichnet:
„Ein Nationalismus, der die eigenen nationalen Machtansprüche auch daraus ableitet, dass er für sich beansprucht, die Emanzipation der Homosexuellen realisiert zu haben – auch wenn dies meistens nicht einmal der Fall ist. (…) Beispiele für Homonationalismus sind die Angriffskriege gegen den Irak und Afghanistan, die auch mit der Durchsetzung von Frauen- und Homo-Rechten gerechtfertigt wurden“.
Die Freiheitsliebe: Wäre es nicht möglich, ein Ende der Eskalationspolitik gegenüber Russland zu fordern und gleichzeitig deutlicher zu machen, dass man auch Kritik an der russischen Politik hat?
Alexander Neu: Man kann das eine tun, ohne das andere zu unterlassen. Die Linke hat beispielsweise erhebliche Kritik an der massiven Erhöhung des Renteneintrittsalters für russische BürgerInnen geübt. Aber nochmal: Das ist prioritär die Aufgabe der russischen Opposition, nicht der deutschen.
Und wenn man in der Politik Kritik an innenpolitischen Entscheidungen anderer Regierungen übt, dann stellt sich die Frage, mit welcher Intention: Übt man freundschaftlich motivierte Kritik auf Augenhöhe und berücksichtigt man dabei erstens den gesellschaftlich-historischen Kontext dieses Landes und die eigene historische Rolle (Deutschlands Vernichtungskrieg gegenüber der Sowjetunion) und zweitens die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates (im Übrigen eine Norm des Völkerrechts) oder hat die Kritik nicht eher einen instrumentellen Charakter, um das Land zu demütigen und im Kampf der Großmächte die „moralische Überlegenheit des Westens“ zu demonstrieren.
Die Freiheitsliebe: In zwei Wochen sind US-Präsidentschaftswahlen. Demokraten und Mainstreammedien behaupten weiterhin hartnäckig, Putin hätte Trump ins Amt verholfen (Stichwort: Russiagate). Andererseits verfolgt das Trump-White-House eine russlandfeindliche Politik (schwere Bewaffnung der Ukraine, Luftschläge gegen Assad, massive Sanktionen u.v.m.). Hat Putin Trump nun in der Tasche oder ist alles nur Stimmungsmache?
Alexander Neu: Das kann ich nicht beurteilen, da mir die Faktenlage im Einzelnen nicht vertraut ist. Es kann sein, dass Russland Trump unterstützt hat, es kann aber auch sein, dass es eine antirussische Erzählung ist, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Trump zu desavouieren und Russland als finstere Macht darzustellen, das die „älteste und beste Demokratie der Menschheit“ schaden möchte. Ich möchte da ein wenig auf die „Whataboutism“-Propagandatechnik zurückgreifen:
Die Washington Post, eine renommierte US-Tageszeitung, berichtete am 27. September 2019 unter der Überschrift „Trump told Russian officials in 2017 he wasn’t concerned about Moscow’s interference in US-election“, dass Trump gegenüber zwei hochrangigen russischen Vertretern freimütig eingeräumt hätte: „(…) the United States did the same in other Countries“. Wie Recht er doch damit hat:
Die USA mischen sich in die Wahlen vieler Länder ein, so auch in Russland beispielsweise sehr massiv 1996, um ihrem Wunschkandidaten, den unfähigen und stets alkoholisierten, Jelzin als Garant einer zerstörten russischen Staatlichkeit erneut zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen zu verhelfen.
Aber auch andere, härtere Methoden als die Wahleinmischung sind der US-Politik, aber auch der Politik europäischer Möchtegern-Großmächte nicht unbekannt, um unliebsame Regierungen loszuwerden: Die Regime-Change-Politik (euphemistisch als „Farbenrevolutionen“ bezeichnet) – mal gewaltlos, mal gewaltvoll, je nach Hartnäckigkeit des jeweiligen Regimes, das nicht gestürzt werden will. Ein zentrales Instrument westlicher Interventionspolitik zum Regierungssturz sind westliche oder vom Westen finanzierte und personell betreute sogenannte nationale NGOs‘ sowie unilaterale Sanktionen gegen diese Staaten.
All dies zeigt, wie wichtig eine Linke ist, die die Widersprüche, die die Doppelstandards, die die Ausbeutungs- und Unterdrückungspolitik, die die brutale Interessen- und Kriegspolitik jenseits der offiziellen Moralkommunikation der Herrschenden offenlegt. Eine Linke, die dies nicht mehr zu leisten vermag oder nicht mehr leisten will, ist überflüssig.
Schlimmer noch: Wenn eine Linke dies nicht zu leisten vermag, verschwindet auch die Vision einer politischen Alternative. „There is no alternative“ ist der Slogan des Neoliberalismus. Keine Alternative zum Neoliberalismus, so die Botschaft ihrer Vertreter, abgesegnet durch eine linke Partei.
Die Freiheitsliebe: Wir danken dir für das Gespräch.
Alexander Neu ist seit 2013 für den Wahlkreis Rhein-Sieg-Kreis I für DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Neu ist Obmann im Verteidigungsausschuss, stellv. Mitglied Auswärtiger Ausschuss, Osteuropabeauftragter der Fraktion und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO.
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22 Antworten
Der Typ ist ja mittlerweile total irre, um es mal milde und zurückhaltend zu formulieren.
Weil?
Einfach mal das Interview lesen.
Ich hab es mit einem Kollegen geführt und hier eingestellt.
Mangelt es Ihnen an Lesekompetenz?
Total irre finde ich, wie heute die großen öffentlich -rechtlichen Medien es schaffen, großen Teilen der Bürger unseres Landes das Gehirn so zu waschen, dass sie völlig gegen ihre Interessen handeln.
Ich kann den Positionen von Alexander Neu zustimmen und finde es äußerst
bedenklich, wie deutsche Außenpolitik
von Herr Maas uns und unser Ansehen in der Welt schadet! Nur Die Linke hebt
sich von dem restlichen Einheitsparteienbrei wohltuend ab und tritt für Frieden ,Abrüstung und Völkerverständigung ein. Für mich die einzig wählbare Partei, damit auch meine Enkel noch eine Zukunft haben. Ich hoffe, die Atlantikbrückler haben keine Change, ihre Ideologie in die Partei Die Linke
hinein zu tragen .Übungsflüge der NATO mit Atombomber leisten keinen Beitrag dazu. Vielleicht sollte man mal dem russischen Außenminister Lawrow
zuhören!
Schade Herr Laubenburg, ihr Kommentar ist deplatziert , wohlwollend ausgedrückt !!!
@Frank Laubenburg
Beleidigungen sagen in der Regel mehr über den, der sie ausspricht, als über den damit Geschmähten.
Alexander Neu ist, ähnlich wie der erwähnte Andrej Hunko, noch ein tatsächlich Linker. Damit macht man sich bei den proimperialistischen Transatlantikern von CDU/CSU/SPD/GRÜNE/FDP und dem Nachwuchs in der Linksjugend à la Herr Neuhaus natürlich unbeliebt.
Wir brauchen noch viel mehr Genossen wie Alexander Neu in unserer Partei! Die Fragen beantwortet A.N.
sachlich und informativ! Leider werden diese von A.N. vertretenen Positionen der Außenpolitik immer mehr von neoliberalen Mitgliedern der ‚linksjugend‘ auch in München in Frage gestellt.
Hartmut Heller
Tolles Interview mit einem sehr rationalen und intelligenten Menschen. Er steht zu seinen Linken Idealen und wirkt nicht Ideologie-Gesteuert. Schade das er sogar von Parteimitgliedern für seine Ansichten angegangen wird.
Das Interview ist sehr gut und wichtig. Die negativen Reaktion sind böswillig missinterpretierend. Volker Beck von den Grünen schießt den Vogel ab und fordert den Rauswurf von Alexander aus der Fraktion, weil er in dem Interview angeblich die schwulenfeindliche Politik in Russland relativiert habe: https://www.welt.de/politik/deutschland/article218905340/Volker-Beck-fordert-Rauswurf-von-Linke-Politiker-Alexander-Neu.html Völlig lächerlich. Ich erwarte, dass die Fraktionsführung diese absurden Angriffe in aller Klarheit zurückweist.
Das bestätigt übrigens sehr schön, was ich kürzlich in einem längeren Text geschrieben habe: „Der Kapitalismus ist aber eine extrem flexible Gesellschaftsformation und auch in der Lage, ohne die besondere Unterdrückung bestimmter Bevölkerungsteile auszukommen und auch die Bewegungen für ihre Gleichberechtigung zu integrieren und zu nutzen. (…) Die OECD setzt sich schon lange für die Förderung von „Global Labour Mobility“ ein (nicht für die Erleichterung von Fluchtmigration, schon klar, es geht um ökonomische Verwertbarkeit einsatzfähiger Arbeitskräfte), ist aktiv und veröffentlicht außerdem etwa die Schrift „Over the Rainbow? The Road to LGBTI Inclusion“. Im Zuge der sich verschärfenden Auseinandersetzung des westlich imperialistischen Lagers gegen Russland hat das den Zusatznutzen, dass das liberale und linke Spektrum so mobilisiert und ideologisch eingespannt werden kann gegen den in diesen Fragen rückständigeren Gegenspieler (dabei wurde auch in Deutschland erst 1994 die Strafbarkeit homosexueller Handlungen vollständig abgeschafft).“ https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/gemeinsam-fuer-eine-bessere-zukunft-kaempfen
es tut gut zu wissen, daß es auch noch solche politiker in der linken gibt, leider zu wenige, oder nicht laut genug.
Wenn (wohl antikommunistische) Grüne und andere Kräfte aus ihrem Umfeld Politker*innen der LINKEN in die Nähe zu Nationalegoist*innen und Faschist*innen stellen, findet eine neue Qualität der Delegitimierung politischer Gegner der LINKEN aus demokratischen Spektren statt. Auch ich kritisiere menschenrechtsverletzende Politikfelder Russlands, wie etwa das der Abschiebepraxis auch in Länder, in denen den Opfern neue Folter und andere Gewalttaten drohen. Ich nehme auch wahr, wie kapitalkräftige Kräfte in Russland ehemaliges Volksvermögen an sich reißen. Derartige Handlungen stellen kein Alleinstellungsmerkmal Russlands dar, wie man daran sieht, dass etwa Saudi Arabien Waffen aus Deutschland erhält, trotz JemenKrieg, trotz des bewiesenen Mordes am kritischen Journalisten Khashoggy. Ich sehe allerdings auch die Kriegsverbrechen beispielsweise des Nato-Partners Türkei in Nachbarstaaten so wie die gewaltsame Landnahme auf Zypern, die die Nato und die Grünen als unbequemen Widerspruch in der westlichen Propaganda peinlich ausblenden. Die Nato ist das Staatenbündnis, von dessen Gebiet aus die meisten und massivsten Völkerrechtsverbrechen ausginen. Partner Deutschlands, die sich bei solchen Verbrechen besonders hervortun, werden nach einer kurzen Phase öffentlich unumgänglichen Protestes weiter als Partner hofiert und bewaffnet. Alexander Neu’s Kritik an doppelten Standards ist das Mindeste, was aufrechte und konsequente Demokrat*innen zu tun haben, wenn es um Menschenrechte geht. Eine Beteiligung vieler führender Politiker*innen aus dem Grünen und sozialdemokratischen Spektrum und sowieso aus den weiter rechts stehenden Spektren an der Nato-Propaganda hat eine Politik der Aufklärung und humanistisch verantwortlichen Engagements abzulehnen. Es verwundert mich dem entsprechend nicht, wenn Antilinke Kräfte, die mit zweierlei Maß messen, Politiker*innen jene zu delegitimieren versuchen, die wie Alexander Neu die einseitige westliche Propaganda kritisieren. Sie flankieren damit eine Vorkriegspropaganda der Nato und der sie unterstützenden Kräfte, die einseitig Russland dämonisieren und damit sogar ihre brandgefährliche Atomrüstung und die Nato-Übung ‚Steadfast Noon‘, mit der auch die Bundeswehr den Atomkrieg übt, zu rechtfertigen versuchen. Eine Politik des Friedens in Europa muss dem 2+4-Vertrag folgen, auf dessen Grundlage Deutschland existiert: Dieses größer gewordene Land hat sich für einen Friedensordnung in Europa einzusetzen, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten des Kontinents, auch die Russlands berücksichtigt. Die Nato betreibt demgegenüber eine drakonische Interessenspolitik, die den Ergebnissen der Verhandlungen um die Deutsche Frage von 1990 Hohn spricht. In der Tutzinger Rede von Außenminister Genscher ist dokumentiert, dass die Nato sich keinen Fuß gen Osten ausdehnt. Jetzt ist sie an der Russischen Westgrenze und die Grünen waren einmal eine Friedenspartei.
Da zeigt ein MdB der „Grünen“ den LINKEN endlich, was sie zu tun haben: Einen Politiker aus der Bundestagfraktion auszuschließen, nur weil er dem schießwütigen Kurs der „Grünen“ nicht folgt! Prächtige Aussichten für eine etwaige Koalition!
Alexander Neu ist einer der Wenigen, die sich der politrischen Verantwortung von Volksvertretern bewusst sind, in den internatiolnalen Beziehungen (wieder) Vernunft walten lassen, für Ausgleich statt nationalistischer Hetze eintreten. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass Grüne „humanitäre Interventionen“ fordern, denen dann unzählige Menschen zum Opfer fallen. Wären doch alle Angehörigen der Fanktion der LINKEN so luzide wie Alexander Neu – Die LINKE wäre eine echte Friedensparte!
Die Positionen von Alexander Neu kann ich in vollem Umfang unterstützen. Das gilt insbesondere auch für seine Äußerungen zur Homophobie und Russland. Leider gehört mittlerweile schon einiges an Mut dazu, sich gegen herrschende Narrative in der deutschen Politik und den meinungsmachenden Medien mit rationalen und nachvollziehbaren guten Argumenten zu positionieren. Eines dieser Narrative ist: Russland wird von dem homophoben Autokraten Putin regiert. Tatsächlich ist es wohl so, dass in Russland ein kultureller Rückstand gegenüber anderen Ländern besteht, was vor allem auf den Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche zurück zu führen ist. Alexander Neu weist aber zu Recht darauf hin, dass dieses nur ein Vorwand ist, indem er schreibt:
„Auch hier kritisiere ich die Medien und die übrigen Parteien im Bundestag für ihre politischen Doppelstandards. Sie kritisieren die Homophobie in Russland, übersehen aber sehr gerne die mehr oder minder gleichermaßen ausgeprägte Homophobie in pro-westlichen Staaten Osteuropas wie Polen und der Ukraine.“
Die schrillen Gegenreaktionen auf diese Positionierung nehmen Züge mittelalterlicher Hexenverfolgung an und zeugen von einem Verfall der politischen Kultur nicht nur in Deutschland. Wer nimmt sich – wenn er erst durch solche Reaktionen auf das Interview aufmerksam gemacht wird – schon die Mühe, den Inhalt in Ruhe durchzulesen, um selbst darin anstößige Passagen zu erkennen?
Auch geht bei diesem selektiven Blickwinkel völlig unter, dass Alexander Neu in umfassender Weise auf die Doppelstandards der deutschen Politik verweist, wo er anhand zahlreicher Beispiele die Verlogenheit und Verkommenheit aufzeigt, die sich immer mehr als transatlantisches Vasallentum darstellt.
Analytische, klare Köpfe sind rar , umso dankbarer bin ich für die Analyse von Alexander Neu. Leider gibt es immer mehr „Linke“, welche sich der Narrative unserer Regierungskrieger und Mörder anschließen, und eines Tages auch von der friedensstiftenden Wirkung der Nato, und der EU schwafeln werden . Hoffen wir, dass diese Herrschaften nicht die Oberhand in der Partei gewinnen, denn dann weiß ich nicht mehr, wen ich wählen soll.
Ein sehr gutes Interview mit klaren Positionen. Besten Dank! Die Doppelstandards und Feindbild-Produktion bedeutender Medien und Politiker werden klar benannt und zurecht kritisiert.
Danke, lieber Andreas Neu !
Wenn alle Linken so dächten wie Du, bräuchten wir um unsere Zukunft nicht zu bangen.
Solidarische Grüße Brigitte Queck, i.A. „Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg“
Solidaritätsbekundung mit der Russischen Föderation vor der Russischen Botschaft in Berlin
Angesichts der durch die Bundesregierung selbst verschuldeten, verschlechterten diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderativen Republik, führen wir ab dem 4.11.2020 jeden Mittwoch von 15-15.30 Uhr vor der Russischen Botschaft unter den Linden eine Solidaritätsbekundung mit der Russischen Föderation durch. Wir bitten alle, denen an guten Beziehungen zu Russland gelegen ist, sich zu beteiligen.
Anmelder: „Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg“