Willy Brandt gilt vielen als das Paradebeispiel für einen Sozialdemokraten, der eine friedlichere und gerechtere Welt wollte, auch heute noch erinnern deshalb viele an ihn und fordern eine Rückbesinnung auf seine Ideale. Der Willy-Brandt-Kreis erinnert deshalb auch heute noch an seine Politik und mischt sich in aktuelle politische Diskussionen ein. Der neueste Aufruf, der unter anderem vom Brandt Freund Egon Bahr und der ehemaligen Vorsitzenden der Grünen, Antje Vollmer, unterzeichnet wurde, fordert eine neue Friedenspolitik für Europa und ein Ende der Konfrontationspolitik mit Russland.
Wir dokumentieren den unter dem Titel „Zum bedrohten Frieden – für einen neuen europäischen Umgang mit der Ukraine-Krise“ veröffentlichten Aufruf:
Europa durchlebt die schwerste Krise seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Nicht nur der Umgang mit Griechenland und den Flüchtlingsströmen hält den Kontinent in Atem, auch der mühsam ausgehandelte Waffenstillstand in der östlichen Ukraine ist brüchig. Solange der Konflikt um die Zukunft der Ukraine ungelöst ist, besteht die ständige Gefahr eines Absturzes.
Eine umfassende Friedensordnung für Europa, dieses Versprechen der Charta von Paris von 1990, ist unerfüllt geblieben. Doch Europa kann kein Interesse daran haben, die alte Rivalität der Supermächte USA und Sowjetunion fortzusetzen und Russland in die Knie zu zwingen. Das unterscheidet die europäische von der amerikanischen Interessenlage: Ohne Russland oder gar gegen Russland kann kaum ein Problem gelöst werden, das Europa als Ganzes betrifft. Das zeigt die jüngste Geschichte: Russland und die Völker der Sowjetunion haben entscheidend zur Befreiung Europas vom Faschismus beigetragen, aber auch zur deutschen Vereinigung. Deutschland hat daher eine besondere Verantwortung, Russland als Partner in einer europäischen Friedensordnung zu gewinnen.
1990 schien diese Frage ein für alle Mal beantwortet: Russland als Mitarchitekt der europäischen Einigung, würde natürlich – wie auch die USA – ein Anker und ein gleichberechtigter Partner sein. Russland sah sich seither in seinen Erwartungen enttäuscht: Die Erweiterungspolitik der EU und vor allem der NATO schloss eine Mitgliedschaft Russlands ausdrücklich aus: zu groß, zu komplex, hieß es damals – während einige Staaten im östlichen Europa das Ziel ihres Beitritts zur westlichen Allianz offen als Sicherheitsvorsorge vor Russland betrieben. Ohne eigene Beitrittsperspektive Russlands nährte die Erweiterung der westlichen Bündnisstrukturen alte russische Einkreisungsängste, welche nationalistische Reflexe und den allmählichen Rückfall in das Denken in geopolitischen Kategorien und Einflusszonen begünstigten.
Die ukrainische Krise ist somit Ausdruck eines heraufziehenden russisch-euroatlantischen Großkonflikts, der in eine Katastrophe münden kann, wenn die sich bereits drehende Spirale des Wettrüstens, der militärischen Provokationen und konfrontativen Rhetorik nicht gestoppt wird. Wir wenden uns daher an alle verantwortlichen Politiker und friedensbewegten Bürger, aber vor allem ganz direkt an die SPD:
In dieser Situation ist eine mutige politische Initiative gefordert, vergleichbar jener, die nach Mauerbau und Kubakrise in der Hochzeit des Kalten Krieges den Ausbruch aus der Logik der Konfrontation mit der Sowjetunion wagte.
Damals war es in Europa allen voran die deutsche Sozialdemokratie, die mit der neuen Ostpolitik Willy Brandts einer europäischen Entspannungspolitik den Weg ebnete. 2015 bedarf es ebensolchen Mutes und politischer Klugheit, um der drohenden Spirale neuerlicher Konfrontation und Spaltung Europas zu begegnen. Wir fordern daher innezuhalten und einen Neustart der Beziehungen mit Russland zu wagen, bevor es für Alle und Alles zu spät ist!
(1) Die Ukraine-Krise lässt sich durch politische Sanktionen gegen Russland nicht lösen. Die tieferliegenden Ursachen der russisch-europäischen Entfremdung gehören auf die politische Tagesordnung europäisch-russischer Gipfelgespräche. Dauerhafter Interessenausgleich gelingt nur durch Dialog und Verhandlungen. Die wirtschaftlichen Sanktionen unterminieren die Entwicklung Europas als gemeinsamer Wirtschaftsraum. Zusammenarbeit ist ein Motor der Vertrauensbildung. Eine intakte Energieinfrastruktur, die durch die aktuellen Spannungen bereits in Mitleidenschaft gezogen wurde, liegt genauso im gemeinsamen Interesse wie wechselseitige Handelsbeziehungen.
(2) Die Europäische Union darf sich infolge ihrer Mitverantwortung für das Entstehen dieser Krise nicht der Mitwirkung an deren einvernehmlicher Lösung entziehen. Das Zusammenwirken von Deutschland, Frankreich und Polen mit der Ukraine und Russland beim Minsk II-Abkommen, ist ein innovativer Ansatz. Von dessen Umsetzung hängt es ab, gestörtes Vertrauen zurückzugewinnen. Aber eine breitere europäische Einbettung tut not. Deutschland muss hierfür im kommenden Jahr seine Verantwortung in der OSZE-Präsidentschaft in die Waagschale werfen und konzeptionell wie dialogorientiert agieren.
(3) Weil auch die USA als wichtigster Partner der neuen ukrainischen Regierung eine hohe Verantwortung für die Lösung der Krise haben, sind alle Gremien wichtig, die Russland und die USA zusammenbringen. Gerade in Krisenzeiten bedarf es besonders engmaschiger Kommunikation. Daher sollten die G7 Russland sofort wieder einbeziehen, der NATO-Russland Rat muss seine Arbeit schnellstmöglich wieder aufnehmen. Notwendige Krisenkommunikation darf nicht beschränkt oder gar verhindert, sondern muss ausgebaut werden.
(4) Die Einverleibung der Krim durch Russland ist ein Verstoß gegen internationale Abkommen und zugleich eine politische Realität, die nicht gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung der Krim rückgängig gemacht werden kann. Der Status Quo darf die Notwendigkeit der konstruktiven Zusammenarbeit mit den Beteiligten im gemeinsamen europäischen Interesse nicht unterbinden.
(5) Die Ukraine-Krise ist auch das Ergebnis einer schwachen föderalen Struktur in einem noch jungen Staat. Nur eine starke föderale Ordnung kann das Land vor ethnischer Spaltung und drohender Sezession bewahren. Die Erfahrungen anderer europäischer Staaten mit föderalen Strukturen sollten von den Parteien in der Ukraine abgerufen werden können, wenn sie dies wünschen.
(6) Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO würde kein Mehr an Sicherheit bringen. Sie würde im Gegenteil russische Befürchtungen über die Ziele der NATO weiter befeuern und die Risiken ungewollter militärischer Konfrontation noch erhöhen. Die Vertrauensbildung zwischen den politischen und militärischen Gremien aller europäischen Staaten, wie sie im Rahmen des „Wiener Dokuments“ der OSZE, zuletzt 2011, vorgesehen ist, ist gerade in Krisenzeiten auszubauen.
(7) Die Ukraine-Krise gefährdet die europäische Rüstungskontrolle. Wettrüsten, die Verlagerung von militärischen Ausrüstungen und neue Truppenstationierungen beiderseits der russischen Grenze legen die Axt an das bestehende System von Verträgen. Die Beteiligung deutscher Truppen bei der Aufstellung von „Eingreiftruppen“ kann auf russischer Seite Erinnerungen an den deutschen Überfall auslösen und unnötig Öl ins Feuer gießen. Militärische Entflechtung, Nichtverbreitung und die Begrenzung von Waffenarsenalen und Truppen sind Aufgaben, die keinen Aufschub dulden.
(8) Die im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise erneut aufgebrochenen Drohungen mit dem Einsatz von Atom-Waffen sind alarmierend. Es droht eine Neuauflage der „Nachrüstung“ der 80er Jahre mit atomaren Mittelstreckenraketen in Europa. Atom-Waffen müssen endlich geächtet werden. In ihrer die ganze Welt erreichenden Vernichtungskraft müssen sie als prinzipiell nicht einsetzbar gelten.
(9) Die Friedensordnung Europas ist nicht nur eine Ordnung der Staaten. Sie beruht auf starken Zivilgesellschaften, grenzüberschreitender Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Medien, Sport, Wissenschaft u.a.m. Auch durch die Neubelebung des europäischen Jugendaustauschs mit Russland und der Ukraine können stereotype Denkweisen überwunden und generationenübergreifend Impulse für ein besseres Verständnis voneinander – und ein gutes Verhältnis miteinander – gesetzt werden.
Europa braucht Russland und Russland braucht Europa. Wir stehen vor der Weichenstellung, in einen neuen, mehr oder weniger Kalten Krieg mit ungewisser Perspektive abzugleiten oder uns auf das Ziel einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung zu besinnen.
Die Zeit zum Handeln ist jetzt!
Berlin, den 21. Juli 2015
Prof. Egon Bahr, Prof. Dr. Elmar Brähler, Prof. Dr. Peter Brandt, Volker Braun, Daniela Dahn, Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Hans-Joachim Gießmann, Prof. Dr. Lutz Götze, Prof. Dr. Ingomar Hauchler, Dr. Enrico Heitzer, Gunter Hofmann, Prof. Dr. Gustav Horn, Prof. Dr. Dieter Klein, Dr. Rainer Land, Dr. Hans Misselwitz, Dr. Irina Mohr, Prof. Dr. Götz Neuneck, Prof. Dr. Rolf Reissig, Dr. Edelbert Richter, Wolfgang Schmidt, Axel Schmidt-Gödelitz, Prof. Dr. Michael Schneider, Dr. Friedrich Schorlemmer, Ingo Schulze, Prof. Klaus Staeck, Prof. Dr. Walther Stützle, Antje Vollmer, Dr. Christoph Zöpel.
Eine Antwort
Wäre Willy Brandt je so unklug gewesen, die Interpretation der Lage aus den Medien des Gegners gedankenlos zu übernehmen?
Das ist nun schon der zweite Aufruf dieser Art für „Russia today“ von Antje Vollmer und Egon Bahr, doch erstaunlicherweise ließen sich auch diesmal sonst bedachte Menschen gewinnen. Bei diesem Aufruf sind es schon weniger Unterzeichner, auch weniger, deren Unterschrift mich sehr verwundert, diesmal aber zum Beispiel Prof. Gustav Horn.
Von einer Konfrontationspolitik mit Russland zu schreiben, verkehrt einfach die Geschichte: Russland hatte – obwohl von Fortschritten zur Demokratie ab 1994 (Freilassung der Täter des misslungenen Putsches gegen Jelzin) nichts mehr zu erkennen war – sogar noch Jahre einen Beobachterstatus in der NATO.
Das war gewiss naiv, aber keine Konfrontation.