Weg zu einer anderen Welt – Der Sozialismus von unten

Quelle - Fotograf: Frank Weber (CC BY 2.0)

Alternativen zur heutigen Gesellschaftsordnung, sind viel diskutiert und dennoch häufig nicht wirklich zielführend, da sie nicht auf die gemeinsame Stärke sondern individuelle Aktion, Konsumkritik oder ähnliches setzen. Eine wirkliche Alternative für eine andere Gesellschaft bietet der Sozialismus von unten, der Demokratie und Gerechtigkeit vereint. Dies ist die Fortsetzung des Artikels „Eine andere Welt ist möglich – Wie wärs mit Sozialismus“

Marx selbst verbrachte seine Zeit nicht damit, genaue Pläne für das Zusammenleben der Menschen in einer postkapitalistischen Gesellschaft zu schmieden. Heute jedoch, nach den Erfahrungen vieler Revolutionen und des Stalinismus einerseits und den sehr einflussreichen Kritiken an der Vorstellung einer sozialistischen Wirtschaft andererseits, z.B. vom neoliberalen Vordenker Friedrich von Hayek, ist es wohl notwendig, zumindest einige grobe Umrisse einer sozialistischen Gesellschaft nennen zu können. Gleichzeitig sollte der Grund dafür, weshalb Marx nichts über zukünftige Strukturen vorwegnehmen wollte, in Erinnerung behalten werden. Weil Befreiung nur als Selbstbefreiung gedacht werden kann, wird auch die Art und Weise des Zusammenlebens von den sich Befreienden bestimmt sein müssen. Die praktischen Erfahrungen und Entscheidungen der Massen in revolutionären Bewegungen werden die neue Gesellschaft formen – intellektuelle Antizipationen können höchstens helfen. Das muss klar sein, bei all dem was im folgenden v.a. als Verallgemeinerung schon gemachter Erfahrungen in früheren Revolten gesagt wird. Daher spreche ich auch von einem Konzept und nicht dem Masterplan. Aufbauend auf der Tradition des klassischen, undogmatischen, d.h. aus der praktischen Erfahrung lernenden und sich verändernden Marxismus lassen sich einige Eckpunkte einer anderen Gesellschaft nennen:

1. Demokratie blüht, wenn Menschen sich organisieren und aktiv sind. Sozialismus muss mit einer radikalen Verbreiterung demokratischer Strukturen verbunden sein. Die Wirtschaft und alle anderen wichtigen Strukturen müssen demokratisiert werden – als Voraussetzung der Kontrolle und Leitung der Produktion durch die Bevölkerung.

2. Im Sozialismus muss es zur Vertiefung von Demokratie kommen: Die Ersetzung der auf Passivität beruhenden heutigen bürgerlichen Wahlvorgänge, in der wir nur allzu oft die Wahl zwischen Pest und Cholera haben, durch eine partizipative Demokratie, in der Macht so weit wie möglich verteilt ist und die Menschen insbesondere an den Entscheidungen beteiligt sind, die ihr Leben berühren.

3. Institutionell würde dies eine „Regierungsform“ bedeuten, die sich von allen bisherigen fundamental unterscheidet: es würde ein sich selbstverwaltender Zusammenschluss von Arbeiter-, Konsumenten- und Nachbarschafts- bzw. Stadtteilräten sein. Die Räte entscheiden auf verschiedenen Ebenen die Geschicke der Gesellschaft.

4. Um eine solche Demokratie durchführbar zu machen, braucht jeder Mensch freien Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen. Heute ist die „Öffentlichkeit“ dominiert von privaten Medienkonzernen, die zudem die Inhalte bestimmen – im Prinzip ist jedoch ein an den modernen technologischen Potentialen ausgerichteter freier und gleicher Zugang zu allen Informationen realisierbar. Ein nichtmanipuliertes Miteinander wäre möglich.

5. Ökonomisch betrachtet bedarf eine solche Demokratie der Vergesellschaftung der meisten produktiven Ressourcen und der Massenmedien. Hierbei überträgt sich die gesamte Entscheidungsgewalt und Kontrolle auf die Bevölkerung.

6. Zusätzlich würde eine demokratische Planung das Chaos des Marktes ersetzen – indem die Entscheidungen über den Verbrauch und die Verteilung der Güter kollektiv bestimmt werden.

7. Die Verteilung des Einkommens würde sich so weit als möglich an den Prinzipien orientieren, die Marx als Resultat einer höheren Entwicklungsstufe des Kommunismus schon voraussah: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Die Debatte darüber, wie sich diese Vision im einzelnen institutionalisieren ließe, über ein Recht auf ein Grundeinkommen, die Bindung von Einkommen an Arbeit, vermittelt über Geld oder anders, muss freilich geführt werden.

Politisch visionär – ökonomisch undurchführbar?

Einer der Hauptvorwürfe gegen ein solches Modell besteht in dem Vorwurf, dass es ökonomisch nicht funktionieren würde. Gerade die Idee der Vergesellschaftung ist umstritten. Selbst in der globalisierungskritischen Bewegung besteht hierzu keine eindeutige Position. Wir kämpfen gemeinsam gegen Privatisierungen – was anstelle folgen könnte, jenseits der einfachen Wiederverstaatlichung, wird kaum diskutiert. Unsere Gegner sind in dieser Frage knallhart: Sie bestehen aggressiv auf dem Recht des Privateigentums an Produktionsmitteln. Gegenüber solchen Argumenten müssen wir deutlich hervorheben, dass es keine selbstregierte und demokratische Wirtschaft geben kann, solange reiche Individuen und private Konzerne die Möglichkeit haben, uns von den wesentlichen Mitteln der Produktion auszuschließen.

Dennoch müssen einige Dinge spezifiziert werden: Erstens meint Vergesellschaftung etwas anderes als die bekannte Vorstellung von Verstaatlichung. Staatsbesitz als Eigentumsform ist mit kapitalistischer Ausbeutung zu 100 % kompatibel, wie wir im Stalinismus, den teilweise verstaatlichen Bereichen der Wirtschaft des keynesianischen, wohlfahrtsstaatlichen Zeitalters nach 1945 im Westen und den Entwicklungsdiktaturen des Südens gesehen haben. Die Frage der Kontrolle ist entscheidend: Haben die Arbeiter die Kontrolle oder eine Bürokratenschicht? Dabei muss die Kontrolle und das Ziel der Selbstverwaltung viel tiefer greifen, als die sog. „Mitbestimmung“ in bestimmten kapitalistischen Unternehmen.
Zweitens muss nicht alles der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Über unsere Arbeitskraft sollten wir frei verfügen können. Die Freiheit eines Individuums zu entscheiden, was es tun möchte, ist ein im Kapitalismus versprochenes, aber gleichzeitig nicht eingehaltenes Recht. Es muss zum Wesen einer sozialistischen Gesellschaft gehören. Wie es sich mit dem persönlichen Eigentum und den Konsummitteln verhalten wird, müssten die Menschen debattieren und beurteilen. Die Menschen müssen entscheiden, was sie wollen. Die schrecklichen Erfahrungen der Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion haben gezeigt, dass sozialistische Reformen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren müssen. Die Menschen, die in der bäuerlichen Einzelwirtschaft tätig sind, können durch Beispiele überzeugt werden, dass es effektivere Formen der Landwirtschaft gibt als diejenigen privatwirtschaftlicher Natur – Zwang und Verbote müssen aber geächtet werden. Nun angenommen, die Wirtschaft würde unter der Kontrolle der Menschen stehen und der Punkt wäre erreicht, an dem eine Koordination und Planung der Produktion unter Verwendung moderner Kommunikationsmittel wie Internet etc. machbar wäre – jenseits der idealistischen Vorstellung des „wir treffen uns jeden morgen auf dem Marktplatz und diskutieren“: Würde sie funktionieren?

Demokratische Planung wird in aller Regel als unbrauchbar und ineffektiv verworfen. Auch Linke argumentieren immer wieder, dass Planung notwendigerweise bedeutet, Informationen und Entscheidungen in den Händen einer Bürokratenschicht an der Spitze zentralisieren zu müssen. Die „horizontale“ Koordination ökonomischer Aktivitäten sei nur mit dem Markt realisierbar, die einzige Alternative seien die „vertikalen“ Kommandowirtschaften des Ostens.

Das ist falsch. Zum einen ist Planung schon heute eine zentrale Eigenschaft der Wirtschaft. Große Autofirmen unternehmen z.B. Investitionsentscheidungen und erstellen detaillierte Pläne für Multi-Milliarden-Projekte Jahre im voraus. Auch gliedern sie die Herstellung von Komponenten in kleinere Betriebe aus. Die Produktion und Anlieferung der Komponenten muss geplant werden, damit sie dem Grad der Produktion in der „Mutterfabrik“ entspricht. Aber diese ganze Planung innerhalb des Kapitalismus ist vollkommen auf das Erzielen von Profit und auf die anarchische Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Firmen ausgerichtet. Wenn Pläne aufgestellt werden, basieren sie auf Schätzungen darüber, wer in diesem Konkurrenzkampf überleben wird – Schätzungen, die in vielen Fällen garantiert falsch sind. Pläne und Produkte werden von den rivalisierenden Firmen geheim gehalten, was zu einer gewaltigen Verschwendung und Verdoppelung von Forschung und Produkten führt. Zwar wird in einzelnen Firmen geplant, sie treffen jedoch auf einem unbekannten Markt zusammen, was immer wieder zu großem Durcheinander führt, sogenannten Überproduktionskrisen. Das Auf und Ab der Märkte bedeutet, dass Firmen mehr produzieren, als der Markt aufnehmen kann und dann Bankrott gehen. Durch die Überproduktion verfallen die Preise und eine Pleitewelle beginnt. Menschen stürzen ins Elend, nicht weil es zuwenig, sondern weil es zu viele Güter gibt. Planung müsste daher gesellschaftlich organisiert sein.

Zum anderen gibt es Vorstellungen einer Alternative jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft. Im Kapitalismus verläuft die Verteilung auf der Basis des Wettbewerbs zwischen Kapitalien, die durch den Druck getrieben sind, die Profitraten zu erhöhen. Sozialistische Planung wäre dagegen eine Technik zur Koordinierung wirtschaftlicher Tätigkeiten, die von der Bevölkerung gelenkt würde – auf verschiedenen Ebenen: der Ebene der Gesamtwirtschaft, der Industrie- und Konsumsektoren, der Betriebe und Haushalte. Demokratische Planung bedarf der Initiative, der Kontrolle und der ständigen Revision durch alle Menschen, sowohl in ihrer Eigenschaft als Produzenten – um die Effizienz betrieblicher Prozesse zu steigern – als auch Konsumenten – um die Produktion so eng wie möglich an die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung zu koppeln. Planung soll nicht heißen, dass jeder in seinen Möglichkeiten eingeschränkt ist, wie wir es aus den Ländern des Realsozialismus kennen. Umgekehrt: Die individuelle Wahlfreiheit kann sich erhöhen, wenn endlich alle Ressourcen in umweltschonender Art und Weise zur Bedürfnisproduktion genutzt werden. Güter, die in ihrer Nachfrage oft unerwarteten Schwankungen unterliegen (z.B. bestimmte Lebensmittel), könnten besonders aufmerksam reguliert werden: Niemand müsste für einen Joghurt zwei Tage länger warten, weil er/sie es sich vorher nicht überlegt hatte und nun spontan Lust darauf hat. Schon heute funktionieren bestimmte Supermärkte mithilfe moderner Technik so, dass jedes verkaufte Produkt sofort registriert und gegebenenfalls nachproduziert werden kann. Regelmäßige Umfragen und die partizipative Demokratie in den Räten könnten die tatsächlichen Konsumerwartungen viel eher erfassen als die heutige stichprobenartige Marktforschung. Eine demokratische Wirtschaft wird zudem rationellen Konsum fördern: Gesundheit kann die Oberhand über blinden und protzigen Genuss bekommen.

Eine alternative, auf horizontaler Koordination basierende Wirtschaft müsste aus dezentralen und zentralen Netzwerken von Produzenten und Konsumenten bestehen, die demokratisch darüber entscheiden, wofür und wie sie ihre Ressourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nutzen möchten. Planung muss nicht notwendigerweise ein System sein, dass von oben gesteuert wird. Kritische Wirtschaftswissenschaftler und Aktivisten haben verschiedene Modelle solch einer Wirtschaft vorgestellt – sie nennen sie die Vision einer „vereinbarten Koordination“ oder „partizipatorischen Planung“ . Ein großer Vorteil derartiger Modelle ist das Verlangen nach sich selbstregierenden Produzenten und Konsumenten, die durch horizontale Koordinierungsnetzwerke Entscheidungen treffen ohne durch ein „Planungszentrum“ geleitet werden zu müssen.

Die technische Leitung der Produktion muss jeweils von der Sache her gedacht werden. Bestimmte, bedeutende ökonomische Fragen wie z.B. Fragen der Umweltpolitik oder Ausgaben für das Verkehrswesen müssen überregional, d.h. auch zentral entschieden werden, vielleicht durch einen gewählten Delegiertenrat, auf Basis unterschiedlicher Vorschläge. Viele andere Entscheidungen müssen das nicht und sollten dementsprechend dezentral entschieden werden – selbst wenn bestimmte ökonomische Entscheidungen dann etwas mehr Zeit bedürfen. Es ist nicht unvorstellbar, dass, je mehr Menschen an den Entscheidungen der Gesellschaft beteiligt sind, sie im Laufe der Zeit Wege finden werden, dies sehr effektiv zu tun. Insgesamt liegen hier visionäre Impulse in Richtung einer partizipativen Wirtschaft verborgen, die das möglich machen können, was mit Sozialismus von unten gemeint ist.

Unsere Ziele realisieren

In einer solchen entwickelten sozialistischen Gesellschaft könnten die materiellen Bedingungen dafür entstehen, unsere Wünsche und Vorstellungen zu realisieren. Es wäre keine perfekte Welt. Menschen würden immer noch sterben oder sich vernachlässigt fühlen. Dennoch könnte wesentliches verbessert werden:

  • Individuen, die eine Kontrolle über die produktiven Ressourcen hätten, wären nicht mehr gezwungen, sich aus Mangel an Eigentum bzw. Verfügungsgewalt über Produktionsmittel kapitalistischer Ausbeutung zu unterwerfen.
  • Menschen wären nicht mehr länger Objekt der krassen Ungleichheit im Kapitalismus, welche die persönlichen Lebenschancen an solche Zufälle wie Geburtsort (Ghetto oder Villenviertel), das Auf und Ab der Märkte etc. fesselt.
  • Die höhere Stufe des Kommunismus wäre „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ . Soziale Gleichheit bedeutet nicht Homogenisierung, also „Gleichmacherei“. Im Gegenteil ermöglicht die gleiche Stellung zu den Produktionsmitteln Chancengleichheit und gleiche Rechte zur Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse. Echte Gleichheit erfordert die genaue Beachtung der individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Menschen könnten sich endlich ohne Angst unterscheiden, die Sehnsucht nach Vielfalt sich erst jetzt realisieren. Weit davon entfernt, eine Vereinheitlichung der Persönlichkeit zu erzwingen, würde eine sozialistische Gesellschaft eine Ausweitung der Vielfalt mit sich bringen. Perry Anderson, ein englischer Marxist, schreibt, dass „eine sozialistische Gesellschaft eine wesentlich kompliziertere Gesellschaft als diejenige, die wir heute erleben, sein [wird]. Es erscheint völlig klar, dass in einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Produktion, die Macht und die Kultur tatsächlich demokratisiert sein würden, eine riesige Verbreitung unterschiedlicher Lebensweisen eintreten würde. Die Menschen würden wählen, wie sie leben wollen, und es ist völlig offensichtlich, dass die Menschen unterschiedliche Temperamente, Begabungen und Werte haben. Diese Unterschiede werden von der kapitalistischen Marktwirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückt und auf einen sehr engen Bereich eingeengt.“ Es besteht ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen Gleichheit und Vielfalt.
  • Gerade die zwischenmenschlichen Beziehungen könnten aus dem engen Korsett kapitalistischer Reproduktionsbedürfnisse ausgelöst werden. Besonders die Frauenunterdrückung, die für den Kapitalismus lebensnotwendig ist, um die Reproduktion neuer Arbeitergenerationen mehr oder weniger kostenlos in die Familie abzuschieben, wäre von ihrer heutigen materiellen Grundlage befreit – das Ziel wirklicher Geschlechtergleichheit realisierbar. Hausarbeit und Kindererziehung könnte so weit wie gewünscht vergesellschaftet werden – z.B. durch öffentliche Restaurants und verbesserte Erziehungseinrichtungen. Es wäre unsere freie Wahl, wie Jonathan Neale vom englischen Bündnis Globalise Resistance auf dem ESF in Florenz bemerkt, wie wir unser Leben leben wollen: „Es könnte sich herausstellen, dass alle eine Standardfamilie wollen, mit 2,4 Kindern und einer geschnittenen Hecke. Vielleicht wird die Hälfte der Bevölkerung schwul oder lesbisch sein. Und vielleicht wollen alle Schwulen und Lesben 2,4 Kinder und Hecken schneiden. Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir in der Lage wären, diese Entscheidungen wirklich selbst zu fällen und uns dafür zu entscheiden, was wir wirklich wollen.“
  • Besonders wichtig wird die Verwandlung der Arbeit sein. Die Art und Weise, wie sich Menschen zu ihrer Umwelt mithilfe von Arbeit in Beziehung setzen, macht das Wesen des Menschen aus. Arbeit, verstanden als praktische Tätigkeit, ist Entstehungsgrund, Produkt und Zement der gesellschaftlichen Beziehungen. Arbeit verändert die Natur und auch die Menschen selbst. Im Kapitalismus, aber auch in anderen Klassengesellschaften, ist Arbeit jedoch eine durchweg negative Erfahrung. Marx nannte die Nichtkontrolle über unsere Arbeit, unsere Arbeitsergebnisse und unsere Arbeitsbedingungen Entfremdung. Sie ist ein Hauptgrund für unser Gefühl des Unwohlseins in der heutigen Gesellschaft: Das was den Menschen erst zum Menschen macht, ist heute das, was uns nervt, uns anstrengt, uns diszipliniert, uns kaputt macht. Die Verwandlung der Arbeit in eine Form der menschlichen Verwirklichung – schon Marx spricht daher von Aufhebung bzw. Abschaffung der Arbeit – ist vielleicht die wichtigste Aufgabe überhaupt. Sie müsste über die logisch klingenden Veränderungen wie die radikale Verkürzung der Arbeitszeit, (was in einer Gesellschaft, in der Rationalisierung nicht Arbeitslosigkeit bedeutet und Millionen Arbeitskräfte nicht mehr arbeitslos sein müssen, weil sie keinen Profit bringen) oder die Einsetzung arbeitssparender Maßnahmen (Menschen fliegen zum Mond – es sollte kein wirkliches Problem sein, unangenehme Arbeiten wie Straßenreinigung oder ähnliches zu automatisieren) hinausgehen. Wichtig wäre dabei die Aufhebung der Teilung in ausführende „Handarbeiten“ und planende „Kopfarbeiten“. Jeder Mensch muss Planer und Produzent sein, was die Verschmelzung von wissenschaftlichem, sozialem und künstlerischen Wissen voraussetzt und ein kollektiver und kreativer Prozess sein müsste. Es wäre etwas, das in einer Gesellschaft, in der Bildung mehr als Ausbildung zum Rädchen im Getriebe ist, nicht unvorstellbar ist. Deshalb ist die Vorstellung absurd, dass in einer solchen Gesellschaft der Anreiz verloren ginge, überhaupt noch zu arbeiten – auch wenn es weiterhin Arbeiten gibt, die niemand erfüllend findet. Im Gegenteil: Hat die Arbeit ihren Sinn für den einzelnen Menschen zurückgewonnen, dann braucht er als Antrieb dazu auch nicht mehr die ständige Existenzangst wie im Kapitalismus. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, mit welchem Eifer viele Arbeiter noch nach ihrem Arbeitstag ein Hobby betreiben können. Oder mit wieviel Enthusiasmus Erstklässler in die Schule gehen, bevor der Zensurendruck das Lernen zu einem sinnentleerten Pauken macht.
  • Gegen die These, im Sozialismus würde jegliche Dynamik gebremst und die Beendigung von Konflikten zum gesellschaftlichen Stillstand führen, ist folgendes zu sagen: Die zentralen gesellschaftlichen Konflikte der heutigen Welt wären tatsächlich aufgelöst. D.h. jedoch nicht, dass damit alle anderen Konflikte beseitigt wären: Der Konflikt zwischen Mensch und Natur und Konflikte zwischen Menschen aufgrund unterschiedlicher „Temperamente, Begabungen und Werte“ beispielsweise. Diese Widersprüche werden wohl aber nicht zu einer systematischen sozialen Polarisierung führen, so dass dieselben Gruppen von Individuen sich in jeder einzelnen Frage gegenüberstehen. Es mag zu Streitigkeiten darüber kommen, ob der Individualverkehr abgeschafft und Großstädte in kleinere, verstreute Siedlungen umgebaut werden sollten – bei ersterem werden Person A und B vielleicht übereinstimmen, bei letzterem aber nicht. Der Beginn wirklich bewusst gemachter menschlicher Geschichte würde eingeläutet. Jonathan Neale schreibt: „Betrachtet ein Baby und wie es die Welt mit seinen großen Augen begierig und voller Begeisterung aufsaugt. Nicht alle Babies, nicht jene, die nicht genug zu essen haben. Aber die anderen. Wir könnten eine Welt schaffen, in der diese Begeisterung bis ins Erwachsenenalter dauert.“ Wir wissen auch aus eigener Erfahrung: Wenn mir etwas gehört, dann schütze ich es auch; wenn ich etwas für mich mache, etwas mir erarbeite, habe ich dafür wesentlich mehr Energie übrig, als wenn es der übliche Auftrag meines Chefs an mich bezüglich der Firma XY ist. Wenn die Welt uns gehört, werden wir ihr gegenüber andere Verhaltensweisen pflegen.
  • Weil das wirtschaftliche Leben auf der Basis von Kooperation und Selbstverwaltung stünde, würde dies Solidarität sowohl voraussetzen als auch fördern. Diese Vorstellung setzt nicht an einem falschen, utopischen Menschenbild an. Von allen Säugetieren ist der Mensch dasjenige, das am wenigsten geschützt und verteidigungsfähig zur Welt kommt. Daher entspricht dem Menschen das Bedürfnis zur Kooperation seinen biologischen Bedürfnissen. Moderne biologische und anthropologische Erkenntnisse beweisen, dass menschliches Verhalten im wesentlichen nicht genetisch bzw. instinktiv, sondern durch die gesellschaftlichen Umstände geprägt ist. Menschen sind das „Ensemble“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche sie natürlich auch mitproduzieren. So wie sich die Gesellschaft verändert und von den Menschen verändert wird, verändern sich Auffassungen und Bedürfnisse. D.h. nicht, dass wir einfach völlig friedliche, unkomplizierte Lebewesen sind: Aggression oder ähnliche negativ geltende Verhaltensweisen sind nicht nur konditioniert, also durch die Umwelt in uns eingebrannt, sondern als Reaktionsbereitschaft vorhanden – ob und wie sie mobilisiert werden, hängt aber von den gesellschaftlichen Umständen ab, und wie wir sie psychisch lösen.
  • Sozialismus würde die Scheindemokratie heutiger liberal-kapitalistischer Gesellschaften durch eine viel höhere Form partizipativer Demokratie ersetzen.
  • Weil demokratische Planung sowohl Produzenten als auch Konsumenten zur Teilhabe an wirtschaftlichen Entscheidungen führt, könnten die natürlichen Ressourcen auf der Basis gemeinsam geteilter Informationen und den technischen Potentialen wesentlich vernünftiger genutzt werden. Heute verhindert das Profitprinzip die Anwendung interessanter Erfindungen und es werden durch Patentierungen Informationen oder Medikamente Millionen Menschen vorenthalten. Die enorme Verschwendung und der Missbrauch von Ressourcen, die den Kapitalismus heute zu einem so ineffizienten System machen, könnten wesentlich reduziert werden.
  • Demokratische Planung würde den blinden Wettbewerb heutiger Prägung beenden und es anstelle dessen der Menschheit kollektiv erlauben, die drastischen Schritte einzuleiten, die zur Abwendung ökologischer Katastrophen, der Klimaerwärmung etc. notwendig sind. Es gäbe nach der Entmachtung der großen Automobil- und Ölkonzerne z.B. keinen Grund, innerhalb kurzer Zeit die gesamte Energie auf die Basis regenerativer Energiequellen zu stellen. Die Menschen könnten entscheiden, ob unendliches Wachstum vonnöten ist und so zukünftige Gefahren für die Erde durch die neuen demokratischen Potentiale angemessen bearbeiten – unter der Voraussetzung, dass wir unser Wissen klug nutzen.

Reformprojekte, Global Governance, Deglobalisierung – Differenzen zu anderen Konzepten. Wie schaut die Idee des Sozialismus von unten im Vergleich mit anderen Visionen einer gerechten Welt aus?

1. Den Kapitalismus reformieren?
Der Übergang zum Sozialismus ist kein gradueller. Es ist nicht der schrittweise Übergang von einer Straßenseite auf die andere – er ähnelt eher dem Problem, das sich stellt, wenn man von einem Hausdach auf das nächste springen muss. Es gilt einen Sprung zu bewältigen, der der Energien und der Kreativität von Mehrheiten bedarf. Weil der Sozialismus einen grundlegenden Bruch mit dem Kapitalismus bedeutet, unterscheidet er sich von Reformprojekten im Rahmen des Kapitalismus – beispielsweise einer gerechteren Steuerpolitik oder Beteiligungshaushalten, wie sie in Brasilien, in Porto Alegre, auf lokaler Ebene praktiziert werden und weltweit Beachtung in der Linken finden. Solche Maßnahmen sind unterstützenswert, solange sie das Leben im jetzigen System erleichtern und die Kontrolle der einfachen Leute erweitern. Die Erfahrung der sozialen Bewegungen zeigt jedoch auch, wie brüchig solche Reformen innerhalb des Systems sind. Die Geschichte des Sozialstaats beweist: Gerade in Zeiten höherer Wachstumsraten kann das System mit solchen „Störungen“ zumindest zeitweilig leben (und zum Teil sogar insofern besser, als es gewisse Bevölkerungsteile gewissermaßen befrieden kann) – sobald jedoch das System wie seit den 1970ern unter Stagnation und niedrigeren Profitraten schwächelte, wurden Sozialreformen in aller Regel als wettbewerbsschädigend gegeißelt und konnten, wenn überhaupt, nur unter Druck von unten teilweise erhalten bleiben. Auch wenn ein Linker wie Lula 2002 in Brasilien an die Macht kommt – ihm bleibt letztlich nur die Alternative der Unterordnung unter die „Marktzwänge“, will er nicht mit den Mächtigsten in seinem Land in Konflikt geraten. Dass dieser, durchaus auch für gewählte linke Präsidenten, mit dem Tod enden kann, zeigt nicht zuletzt die Geschichte der linken Regierung Chiles, die 1973 durch einen Militärputsch gestürzt wurde. In Europa gilt hier nichts grundlegend anderes: Wenn jemand wie Lafontaine 1999 über relativ zahme Themen wie die Forderung nach Zinssenkungen und der Rolle der Bundesbank aus dem Amt gedrückt werden kann, was würde passieren, wenn linke Politiker wesentlich grundsätzlichere Reformen durchsetzen wollten?Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der Druck in solchen Situationen selten alleine aus Chefetagen privater Konzerne kommt. Der Marxist Poulantzas antwortet auf die Formulierung nach dem Motto „Was kann der Staat gegen das Kapital tun“ folgerichtig, dass schon die Frage „von Grund auf falsch [ist]. Und zwar in dem Maße, wie es richtig ist, dass die Institutionen oder die Apparate keine eigene Macht ‚besitzen’, sondern lediglich Klassenmacht ausdrücken und verkörpern“. Eine Reformierung des heutigen Staates zu einer tatsächlich das Allgemeinwohl durchsetzenden Instanz ist nicht möglich, weil die modernen Staaten strukturelle Grenzen aufweisen, welche den Möglichkeiten einer linken Politik über den Staat und auch dem Druck von unten gewisse Schranken setzen, wenn die Lebensinteressen des Kapitals in Frage gestellt werden.

2. Global Governance und Deglobalisierung als Alternative?
Ä
hnliches gilt für die internationale Ebene. Vorstellungen einer Global Governance von links, einer Art Regierung und Regulierung im internationalen Rahmen, scheitert schon an der Struktur des internationalen Systems. Es existiert keine internationale Gemeinschaft – kapitalistische Konkurrenz prägt das reale Bild. Der Begriff ist eher eine Beschönigung für die US-amerikanische Hegemonie. Diese ist jedoch nicht stabil, weil sie durch konkurrierende Imperialismen bedroht wird. Daher sind auch die Vereinten Nationen kein Ort unparteiischer Autorität. Ihre Struktur, die fünf Siegermächten eines vor 50 Jahren geführten Krieges die Macht übertragen hat, ist nicht grundlegend reformierbar – außer die mächtigsten Staaten verzichten auf sie, was natürlich ihre Wirksamkeit drastisch einschränken würde. Die bestehenden neoliberalen Institutionen mithilfe anderer Institutionen zu ersetzen bzw. sie zu kontrollieren – z.B. der UN-Konferenz über Handel und Entwicklung, multilateralen Umweltabkommen, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), aber auch der EU und entstehenden Handelsblöcken wie dem Mercosur in Lateinamerika – oder mit ihnen zu koexistieren, läuft in die falsche Richtung. Sie sind Teil des Problems und nicht ihre Lösung. Dennoch ist die Idee, international Veränderung durchführen zu müssen, an sich richtig. Die Vision einer anderen Gesellschaft ist nur als ein weltweiter Prozess zu verstehen. Ähnlich wie sich der Kapitalismus über den Erdball ausbreitete, müsste auch der Sozialismus diese Hürde nehmen. Schon Trotzki schrieb daher, dass der Abschluss einer sozialistischen Revolution „im nationalen Rahmen undenkbar [ist.] Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinn des Wortes zur permanenten Revolution; sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Sieg der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten“.Der Versuch, den „Sozialismus in einem Land“ aufzubauen, ist eine Illusion. Dies aus zwei Arten von Gründen. Zum einen zeigt die historische Erfahrung, dass der Versuch, Inseln im Kapitalismus aufzubauen, zum Scheitern verurteilt ist. Entweder führt der ökonomische und militärische Druck dazu, sich wieder dem kapitalistischen Weltmarkt zu unterwerfen oder die repressiven und ausbeuterischen Merkmale des Kapitalismus zu imitieren. Das Scheitern der Russischen Revolution nach 1917 aufgrund ihrer Isoliertheit und die folgende Transformation einer fortschrittlichen in eine tyrannische Gesellschaft ist das bekannteste Beispiel hierfür. Zum anderen können viele Menschheitsprobleme wie der Klimawandel nur in einem weltweiten Kontext angegangen werden. Rätedemokratien müssten sich also in einem Prozess der Ausbreitung von Revolutionen von unten so schnell wie möglich weltweit ausdehnen.

Das unterscheidet diese Vision von einigen bekannteren Vorstellungen in der Bewegung über Alternativen zum globalen Kapitalismus – z.B. der Idee der Deglobalisierung , d.h. der Umorientierung unserer Ökonomien von der Produktion für den Export zu einer Produktion für den lokalen Markt (oftmals Lokalisierung der Produktion genannt), ohne damit einen kompletten Rückzug aus der Weltwirtschaft zu implizieren. Es gibt keinen Grund, warum eine emanzipierte Menschheit den weltweiten Zugang zu Ressourcen verschließen sollte, wenn dieser gerecht verteilt und demokratisch reguliert wäre. Mit anderen Worten: Es ist obszön, dass im heutigen Zimbabwe Blumen für den Export angebaut werden, während dort gleichzeitig Massen hungern – es wäre unklug, wenn in einer demokratischen Welt, in der Güter fair verteilt würden, darauf verzichtet wird, bestimmte erfolgreiche Methoden zum Anbau von Getreide aus anderen Teilen der Erde nicht zu nutzen – unter der Voraussetzung, sie lassen sich in das jeweilige Ökosystem integrieren.
Man muss grundlegender herangehen, um über das Dilemma der doppelseitig-reformistischen Vorstellungen von internationaler Regulation einerseits und Strategien der Lokalisierung andererseits hinausgelangen zu können.

3. Sozialismus von unten
Und um es noch einmal zu wiederholen: Sozialismus von unten widerspricht den verschiedenen Modellen staatskapitalistischer Bauart fundamental. Tony Cliff, der Begründer der fundiertesten Kritik am System des Ostblocks, schreibt, warum er niemals die Bezeichnungen Sowjetunion oder UdSSR benutzte: „Es gab keine Sowjets (Räte) im stalinistischen Rußland. Bei jeder Wahl trat in jedem Wahlkreis nur ein Kandidat an und nie gewann er weniger als 99% der Stimmen oder mehr als 100 %, außer in einem Fall: 1947 gewann Stalin bei den Wahlen zum Obersten Sowjet über 140 %. Am nächsten Tag erklärte die Prawda: Wähler aus den umliegenden Wahlkreisen waren gekommen, um durch ihre Wahl für Stalin ihrer enthusiastischen Unterstützung Ausdruck zu verleihen. Normalerweise wurden die Wahlergebnisse nach der Wahl bekanntgegeben – außer in einem Fall: beim Referendum in Lettland, Litauen und Estland im Jahre 1940, in dem über den Beitritt zur UdSSR abgestimmt wurde, machte TASS, die Moskauer Nachrichtenagentur, einen Fehler und veröffentlichte das Ergebnis einen Tag vor der Wahl. So druckte die London Times die Ergebnisse, bevor gewählt wurde. Auch von einer Union kann keine Rede sein. Eine Union ist ein freiwilliger Zusammenschluß. Es gab zwischen der Ukraine und Rußland keine andere Verbindung als zwischen Indien und Großbritannien. Die UdSSR war ein Imperium, keine Union. Der dritte Buchstabe in UdSSR steht für sozialistisch. Rußland war nicht sozialistisch, sondern staatskapitalistisch. Die letzten Buchstaben stehen für Sowjetrepubliken. Aber es war keine Republik, also Demokratie, sondern eine totalitäre Tyrannei.“ Jeder und jede hat in der Zeit des Bestehens solcher Regime die Aufgabe, an ihrem Sturz mitzuwirken.

Strategien

Eine andere Welt ist möglich – und um das zu beweisen brauchen wir Visionen und Argumente, sie zu begründen. Es kommt dabei darauf an, über das Denken und die Analyse von Bewegungen die engen Schranken bürgerlicher Vorstellungen zu überschreiten, und, wie der marxistische Philosoph Ernst Bloch schrieb, wieder das Hoffen zu lernen. Das Denken und die Vision allein schafft jedoch noch keine andere Welt. Was wir daher vor allem brauchen, ist die Diskussion über die Strategie zur Erreichung unserer Ziele, und eine daran anschließende Praxis. Wie versucht wurde aufzuzeigen, ist die reformistische Strategie keine angemessene Antwort auf die Widersprüche unserer Zeit. Es lohnt sich für Reformen zu kämpfen – aber wir brauchen ein anderes System. Wenn ein Damm zu brechen droht, reicht es nicht, ein paar Finger in die Löcher zu stopfen. Wir dürfen die Fehler der Grünen oder der SPD nicht wiederholen. Jeder Versuch eine sozialistische Gesellschaft oder eine andere grundlegende Alternative zu erreichen, muss die großen ökonomischen, militärischen und politischen Machtkonzentrationen konfrontieren, die den heutigen Kapitalismus kennzeichnen.

Diese Macht kennt eigentlich nur eine wirksame Gegenmacht – Massenbewegungen bis hin zu Revolutionen, insbesondere getragen von den lohnabhängig Beschäftigten. Wie wir dazu beitragen, solche Bewegungen aufzubauen und zu stärken, muss daher immer unsere Hauptfrage in der politischen Aktivität sein. Welche Hindernisse es dabei zu überwinden gilt – z.B. die Frage, wie die vielfältigen Energien in den Bewegungen mit einem gemeinsamen Fokus verbunden werden können, das ungleiche politische Bewusstsein in der Bevölkerung usw. – muss vor dieser Frage im Lichte gemachter Erfahrungen immer wieder diskutiert werden.

Wir müssen unser Schicksal in unsere Hände nehmen. Weil kein Automatismus hin zu einer besseren Welt besteht, müssen wir um sie kämpfen. Und das am besten organisiert, wie es die Klassiker der marxistischen Theorie immer wieder betonten. Vielleicht wird dann Realität, was die bekannte indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy in ihrer ergreifenden Rede auf dem 3. Weltsozialforum 2003 ausdrückte: „Vergessen Sie niemals: Wir sind viele, die nur wenige. Ihre Abhängigkeit von uns ist größer als umgekehrt. Die ‘andere Welt’ – sie ist nicht nur möglich, sondern schon unterwegs zu uns. An stillen Tagen höre ich sie bereits atmen.“

Ein Artikel von Tobias ten Brink, erschienen in Sozialismus von unten.

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5 Antworten

  1. Ein toller Text! Vielen Dank dafür. Besonders gefällt mir, dass er sich nicht bloß im Abstrakten bewegt, sondern konkrete Ideen für die Praxis liefert.
    Sicher ist dies auch kein allumfassendes Werk und beantwortet nicht alle Fragen oder liefert teilweise – meiner Meinung nach – falsche Antworten. Aber wie im Text schon steht: Es kann überhaupt keinen Masterplan geben, der alles erklären kann. Die Zukunft kann nur aus vielen Ideen und Bausteinen zusammengesetzt werden, die immer wieder neu hinterfragt und verändert werden müssen. Letztendlich sollte man nicht dem Glauben anhängen, es würde ein Leben frei von jeglichen Problemen und Konflikten geben – das ist utopisch. Aber ein besseres Leben ist auf alle Fälle möglich.

  2. Wenn auch etwas plakativ…
    „Der Umstand, daß durch die verbesserte Maschinerie so viele Arbeiter beschäftigungslos sind und kaum die halbe Zeit Arbeit haben, bringt sie zum Nachdenken. Sie haben Zeit dazu und sinnen darüber nach, wie diese Zustände geändert werden können. Es fallen ihnen die Schriften, die in ihrem Interesse geschrieben sind, in die Hand, und wenn ihre Schulkenntnisse auch nur mangelhaft sind, finden sie doch bald die Wahrheiten, die in diesen Schriften enthalten sind, heraus.

    Das ist allerdings nicht angenehm für die kapitalistische Klasse; aber sie kann es nicht verhindern. Und es ist meine feste Überzeugung, daß in nicht allzulanger Zeit die große Masse der Proletarier begriffen haben wird, daß nur der Sozialismus sie von ihren Ketten befreien kann. Worin besteht mein Verbrechen? Daß ich dafür gearbeitet habe, eine Gesellschaftsform herbeizuführen, in welcher es keinem einzelnen gestattet sein soll, aus den Fortschritten der Technik Millionen zu ziehen, während die große Masse verelendet. So gut wie Luft und Wasser Gemeineigentum sind, sollten auch die Erfindungen der Wissenschaftler zum Besten aller angewendet werden.

    Die Gesetze, die wir haben, widerstreben den Naturgesetzen, da sie einer großen Masse Menschen das Recht zum Leben absprechen. Ich bin zu sehr Gefühlsmensch, als daß ich solche Zustände, wie sie heute existieren, nicht bekämpfen sollte. jeder einsichtige Mensch muß ein System bekämpfen, welches es einem einzelnen Individuum möglich macht, in wenigen jahren Hunderte von Millionen Dollar zusammenzuraffen, während auf der anderen Seite Tausende zu Bettlern werden.

    Ist es da zu verwundern, wenn unter solchen Umständen Männer erstehen, die versuchen, Zustände zu schaffen, unter welchen die Menschlichkeit als erster Grundsatz gilt! Und das will der Sozialismus, zu dem ich mich freudig bekenne. […]

    Ich hasse und bekämpfe nicht den einzelnen Kapitalisten, sondern das System, welches diesen Kapitalisten so privilegiert. Mein größter Wunsch ist, daß die Arbeiter erkennen mögen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind.“

    Auszug aus Georg Engels Rede vor Gericht 1886

  3. Erst dachte ich: endlich mal wieder was in Sachen Marxismus… lese dann aber leider: uralter Wein in gar nicht neuen, nur jüngeren Schläuchen.
    Die real existierenden Menschen möchten nun mal nicht dauernd dran arbeiten, ein mündiger, kundig mitbestimmender Bürger zu sein. Das – umfassend gedacht – liesse ja kaum Zeit übrig, das Leben zu genießen.
    Z.B. der Graben, der hier – antik, wie Marxismus nun mal ist – zwischen „lohnabhängigen Arbeitern“, und den „Bürokraten“ aufgemacht wird. Das ist so unglaublich retro, unreflektiert, unsinnig abstrahierend, die Veränderungen der letzten 30 Jahre nicht einbeziehend… sorry, so sehr ich mich nach alternativen Weltmodellen sehne, so wenig kann ich auf das alte Zeugs abfahren, das vom realen Alltagsmenschen offenbar keine Notiz nimmt. Nicht damals und nicht heute.

    1. „“Planung muss nicht notwendigerweise ein System sein, dass von oben gesteuert wird“. Nein, muss nicht, aber die Arbeit und Mühe, die es macht, ein kundiger Entscheider zu werden, ist zuviel, wenn man die Entscheidungsbereiche „auf alles“ ausweitet. Mensch ist schon überfordert durch die Wahl allzuvieler unterschiedlicher Produkte auf dem Markt… empfindet das Konsumieren aber immerhin als Form der Selbstverwirklichung. Wogegen „alles selbst verwalten“ und „Produktion mitbestimmen“ eine Mühe und Verantwortung kreiert, die man nicht dauernd haben will.

      Deshalb funktioniert repräsentative Demokratie und alles, was unter „Macht der Konzerne“ verstanden wird.

      1. Nur weil ein Großteil der Menschen über ewige Zeiten „repräsentativer Demokratie“ und alles was es noch so an entmündigenden Formen gab und gibt in gewisser Weise ‚bequem‘ geworden ist, heißt das ja nicht, dass es nicht auch wieder (!) anders sein kann. Wenn die Menschen heute nicht in der Lage sind selbst Verantwortung zu übernehmen, dann können sie das aber eben wieder lernen (freilich MUSS das aber natürlich auch nicht jeder einzelne). Es ist schließlich kein Naturgesetz, sich alles von anderen vorsetzen zu lassen und selbst keinen Finger krum zu machen um es mal überspitzt zu formulieren.

        „Die real existierenden Menschen möchten nun mal nicht dauernd dran arbeiten, ein mündiger, kundig mitbestimmender Bürger zu sein. Das – umfassend gedacht – liesse ja kaum Zeit übrig, das Leben zu genießen.“

        Das ist eine Argumentation die man oft hört und auf die Gegenwart bezogen finde ich sie auch durchaus angebracht. Schließlich geht sie davon aus, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die sich alles Wissen in dieser Richtung erst von Grund auf aneignen müssen; freilich aber ganz andere Dinge zu tun haben, weil sie damit beschäftigt sind zu überleben. Ich denke allerdings, dass das zu kurz gedacht ist, wenn man über eine mögliche ‚andere Welt‘ nachdenkt – schließlich handelt es sich doch um eine Idealvorstellung, eine Utopie.
        Eine Veränderung kann nunmal nicht von jetzt auf gleich erfolgen, deswegen ist es auch ernüchternd nur in der Gegenwart zu denken. Ich denke, dass wir in dieser Richtung eine Schwäche besitzen. Zum Einen unsere Ungeduld und zum Anderen die Erwartung, das wofür man kämpft auch selbst erleben zu können.

        Dass Sie die heutige Gesellschaft („real existierenden Menschen“) als eine Art Gefängnis sehen, dass man so für alle Zeit hinnehmen muss (zumindest mein Eindruck) finde ich schwach. Natürlich sollte man sich bei einer voranschreitenden Entwicklung immer am ‚hier und jetzt‘ orientieren, da sonst all die schönen Ideen nichts wert sind. Die Gegenwart sollte aber eben auch nicht als Konstante wahrgenommen und in ‚das Mögliche‘ hineinprojeziert werden. Niemand hat behauptet, dass eine Entwicklung leicht, noch schnell geht.

        Ihre Ablehnung der „Retro“-Elemente wie -Rhetorik im Text teile ich vollkommen.
        In dieser Richtung wird der Autor seinem eigenen Anspruch des undogmatischen nicht ganz gerecht.

        Falls ich Sie in einem der Punkte missverstanden habe, so tut es mir Leid.

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