Spätestens seit den Hamas-Angriffen vom 07.Oktober 2023 wird die öffentliche Debatte über Antisemitismus wieder offen und mit Vehemenz geführt. Gerade unsere Hochschulen sind, wie so häufig, die erste Arena dieses Diskurses. Doch während der öffentliche Fokus der Debatte auf israelkritische Stimmen und einen Generalverdacht auf migrantisches und muslimisches Leben in Deutschland legt, wird ein erheblicher Anteil von struktureller und staatlicher Gewalt gegen Jüdinnen und Juden an unseren Hochschulen ignoriert.
Eine durchgängige Definition für Antisemitismus zu finden ist eine Aufgabe, welche ganze Generationen von Sozialwissenschaftler*innen, Historiker*innen und Philosoph*innen beschäftigt. Wie sollte man nach dem Horror des Holocausts überhaupt Forschung dazu betreiben können? Wie den Jahrhunderten von Vertreibung und Unterdrückung gerecht werden? In wie weit sind Rassismus und Antisemitismus verwandt, wie die postkoloniale Forschung wissen will. So schwer diese Fragen zu beantworten sind, sie zeigen uns dass Antisemitismus viele Formen hat, von persönlicher Judenfeindlichkeit aus ideologischen, rassistischen oder religiösen Gründen über die Reduktion von Jüd*innen als bloße Statisten einer Gesellschaft, welche sie nicht als Vollwertig wahrnimmt bis hin zur Stilisierung des Judentums als Gegenstand einer fiktiven Weltverschwörung – einschließlich jener Vernichtungsideologie, welcher in der NS-Diktatur deutsche Staatsräson war.
Wer sich, wie die Bundesrepublik angeblich deutlich machen wollen, gegen Antisemitismus stellt, der muss sich gegen jede seiner Erscheinungsformen stellen und darf keine davon ignorieren, wie und wo sie auftaucht.
Seit der Terrorattacke der Hamas am 07.10.2023 rückt die Debatte über Judenfeindlichkeit in Deutschland wieder stärker in den Vordergrund der gesellschaftlichen Diskurse, besonders im Universitären rahmen. Überall in Deutschland finden an Hochschulen Kundgebungen und Universitätsbesetzungen in Solidarität mit der Volksgruppe der Palästinenser in Israel statt. Sofort war – von konservativen bis liberalen Lagern- eine generelle Verurteilung dieser Proteste als Antisemtisich zu finden, egal wie offensichtlich zu simpel und dem politischen Diskrus dieses seit Jahrzehnten andauernden Konfliktes nicht gerecht werdend dieser Vorwurf ist. Korrekt ist, dass bestimmte Vorfälle – auch in Rahmen von Pro-Palästina-Demonstrationen – schwerlich als etwas anderes als Antisemtisch zu bezeichnet werden können. Solidarität mit Palästina war leider zeitlebens dieses Konfliktes auch immer ein Feigenblatt für Rechtsextremisten, ihre Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Gerade Online werden derzeit häufiger offen judenfeindliche Äußerungen geäußert, aber auch tätliche Übergriffe wie in Berlin kommen vereinzelt vor. Auch wenn eine aktuelle, deutschlandweite Studie zum Thema Antisemitismus an Hochschulen zeigt, dass Universitäten kein „Hotspot“ von Judenfeindlichkeit in Deutschland sind, erleben doch mehr als ein Drittel aller befragten jüdischen Studierenden Diskriminierung am eigenen Leib, welche sie auf ihre Religionszugehörigkeit zurück führen.
Es würde zu weit führen, nun ebenfalls auf die Myriade an Dimensionen dieses Themas aufzufechern – wo liegt die Grenze zwischen Israelkritik und Antisemitismus? Wo finden sich offene oder versteckte antisemitische Inhalte in den Lehrplänen unserer Unis? Wurde nach dem Weltkrieg überhaupt eine echte Aufarbeitung geleistet? – aber es wird deutlich: es ist nicht nur wichtig dieses Thema anzusprechen, es ist auch längst überfällt.
Egal wie lächerlich die Diskussion rund um die Palästina-Solidarität hierzulande ist, über Hochschulen und Antisemitismus zu sprechen ist heute wichtiger als zu jedem anderem Zeitpunkt in der Bundesgeschichte. Denn gerade hier gibt es enorm starke, häufig rechtsextreme Studenten- und Frauenverbindungen im Burschenschaftlichen Umfeld, welche schon lange eine aktive Gefahr für das leibliche Wohl jüdischer Studierender darstellen.
Der siebte Oktober brachte den täglichen Antisemitismus zwar auf die politische Bühne, aber eine Rolle spielte er schon immer
Antisemitismus an Universitäten
Im September 2020 wurde in Heidelberg eine Person von einer Aktiven-Gruppe Burschenschaftlern an der Uni Heidelberg überfallen, mit Münzen beworfen und mit Gürteln niedergepeitscht[4]. Auch wenn dies zu einer Auflösung der Hochschulgruppe führte, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen zu welchem Eskalationsgrad diese Vereinigungen fähig sind. Ähnliche Verbindungen ermöglichen rechtsextremen Organisationen an Universitäten für Mitglieder zu werben (Wie die Verbindung Danubia aus München), Veranstalten für diese Vortragsabende (So in Erlangen geschehen) und stellen generell ein Einfallstor für rechtsextreme Ideologien an Universitäten dar.
Gerade seit der Corona-Pandemie haben sich an deutschen Universitäten von Burschenschaften weitgehend unabhängige Organisationen gegründet, welche in der Nähe von Verschwörungs- und Reichsbürgerszene anzusiedeln sind, wie beispielsweise die Organisation „Studenten stehen auf“, welche ihren Hauptsitz in München hat aber sich an praktisch überall im Freistaat mit lokalen Organisationen vertreten sieht. Wie bei den meisten Formen von verschwörungsbezogenen Antisemitismus findet sich dieser nicht in offenen judenfeindlichen Parolen, sondern findet sich versteckt in verweisen zu einer angeblichen Weltverschwörung. Dies hat in jeder seiner Erscheinungsformen einen Bezug zur alten judenfeindlichen Behauptung einer Unterwanderung von Institutionen durch Menschen jüdischen Glaubens. Ob nun der „Kulturbolschewismus“ der Nazis, die angeblichen „Protokolle von Zion“, welche im 19. Jahrhundert Judenhass rechtfertigen sollte oder die moderne Verschwörungserzählung einer „Globalen Elite von Bänkern“, welche auch von Organisationen wie SSA (Studenten stehen auf) verbreitet werden – alle beziehen sich auf die selbe Vorstellung und alle machen jüdisches Leben zunehmend unsicher, auch an unseren Universitäten.
Wessen Antisemitismus?
Solche Analysen und die generelle gesellschaftliche Debatte sind, wie gesagt, längst überfällig. Längst überfällig auf Grund der gesellschaftlichen Sprengkraft die es hat, aber auch längst überfällig, weil sie eine Dimension des Antisemitismus aufzeigt, welche all zu gern ignoriert wird, nämlich die Marginalisierung von Jüdinnen und Juden in Deutschland.
Denn was gerade im universitären Kontext sichtbar wird: der deutsche Staat und die hiesigen Universitäten haben kein Problem damit, jüdisches Leben zu kriminalisieren, wenn dieses sich auf der uneigenen Positionierung eines aktiven politischen Konfliktfeldes wiederfindet. Jüdischen Menschen wird in der Praxis ebenfalls systemische und physische Gewalt angedroht, wenn sie sich an pro-palästinensischen und pazifistischen Aktionen beteiligen, wie das in Berlin im Zuge der Räumung eines solidaritäts-Camps passiert ist. Dabei ist die Bedrohung für politisch aktive Menschen jüdischen Glaubens nicht einfach ein zufälliges Merkmal. Jüd*innen auf der ganzen Welt haben einen besonderen Bezug zu den Kriegen im Nahen Osten, nicht nur wegen der häufigen persönlichen Verschränkung zu den Opfern jener Kriege, sondern weil der Staat Israel von sich behauptet, ein Vertretungsrecht gegenüber allen jüdischen Personen inne zu haben. Deshalb ist es verständlich, dass auch und gerade hier Jüd*innen eine Positionierung zu diesem Thema möglich sein muss, gerade dort, wo sie ihren Lebensschwerpunkt finden, das heißt ebenfalls an unseren Universitäten und Hochschulen.
Die Verengung einer ethnischen Minderheit einer Bevölkerung auf einen Monolithen ist eine der Kernelemente der in der Sozialwissenschaft als „Subalternisierung“ einer Gruppe bezeichneten Praxis, genau diese Menschen im gängigen gesellschaftlichen Leben Unsichtbar zu machen. Dies kann nur aufgelöst werden, wenn eine Minderheit erlaubt wird, sich selbst zu Artikulieren und sich seine eigene Identität auszurücken. Unsere Universitäten stehen besonders in der Pflicht einen Raum zu geben, dieser Diversität eine Bühne zu geben. Dies heißt unbedingt ein Ende der Kriminalisierung von kritischen Stimmen im Nah-Ost-Konflikt.