Ungarische Räterepublik: Freiheit und sozialistische Versuche

Béla Kun, Mitglieder Kommunistischen Partei, redet vor einem Arbeiterrat © Wikimedia Commons

Heute wird in Ungarn gewählt und es gibt die Option zwischen einem rechtskonservativen Kandidaten und dem rechten Orban. In der Geschichte Ungarns sah es aber nicht immer so trostlos aus: Am Morgen des 21. März 1919 befanden sich die führenden Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei Ungarns im Gefängnis. Am Abend desselben Tages waren sie an der Macht eines neuen Staates. Gemeinsam mit der Sozialdemokratie hatten die Kommunisten eine Räterepublik gegründet. Von der alten Ordnung ins Gefängnis geworfen, waren sie zu zentralen Figuren der neuen Ordnung geworden.

Seit 1686 war Ungarn ein Teil der Habsburgermonarchie. Ungarn befand sich in einer kolonialen Abhängigkeit gegenüber Österreich. Es fungierte als Kornkammer für das Habsburgerreich – exportierte Lebensmittel und importierte Industrieprodukte. Ähnlich wie das russische Zarenreich war Ungarn auf der einen Seite ein landwirtschaftlicher Feudalstaat, einem kleinen Prozentsatz von Adeligen (5%) gehörten 85% des gesamten Landes.

Auf der anderen Seite entwickelte sich mit ausländischem Kapital in den großen Städten eine bedeutsame Industrieproduktion. Somit entstand auch eine immer mächtiger werdende Arbeiterinnenbewegung. Der Großteil dieser modernen kapitalistischen Unternehmen wurde von Adeligen geleitet, diese hatten keinerlei Interesse an einer Änderung der politischen und ökonomischen Situation.

Der Erste Weltkrieg, losgetreten von der herrschenden Klasse Österreichs, entwickelte sich zum Bumerang. Umso schlechter die militärische Situation für das Habsburgerreich wurde, umso rebellischer wurden die ungarischen Bauerntruppen. Im Zuge der russischen Februarrevolution kam es im Mai 1917 zu einer ersten revolutionären Welle in Ungarn. Massenstreiks und Demonstrationen zwangen die Regierung am 23. Mai zum Rücktritt. Eine neue geschwächte Regierung unter Esterhazy wurde eingesetzt.

Arbeiterräte

Im Jänner 1918 kam es im gesamten Habsburgerreich zu Massenstreiks. Zur Koordinierung dieser Massenstreiks wählten Arbeiterinnen und Arbeiter, inspiriert durch das russische Vorbild, Arbeiterräte. Räte entstehen im Zuge von spontanen Kämpfen der Arbeiterklasse. Für uns als revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten sind sie aber mehr als nur Organisationen von Gegenmacht der Arbeiterinnen und Arbeitern, wie bspw. Gewerkschaften, welche um Reformen innerhalb eines kapitalistischen Rahmens kämpfen. Räte sind die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft. Im Parlamentarismus haben die einfachen Menschen nur ein minimales Mitbestimmungsrecht.

Räte haben das Ziel, die gesamte Gesellschaft zu demokratisieren. Das bedeutet, die Unternehmen genauso wie den Staatsapparat. Lenin beschrieb die Räte folgendermaßen: „Dieser neue Apparat ist nicht von irgend jemand erdacht, er wächst hervor aus dem Klassenkampf des Proletariats, aus der Verbreiterung und Vertiefung dieses Kampfes“. Wenn sich die Mehrheit der Arbeiterinnenklasse in Räten organisiert, entsteht eine Art Doppelherrschaft: Auf der einen Seite das bürgerliche Regime, auf der anderen Seite eine Regierung der Arbeiterinnenklasse, welche sowohl Politik als auch Wirtschaft demokratisch organisieren will.

Im Zuge von Massendemonstrationen wurde am 29. Oktober 1918 die Ungarische Republik ausgerufen. Die Eliten mussten sich, zumindest in Worten, zu einer parlamentarischen Demokratie mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung bekennen. Doch die Regierung um den Grafen Károlyi war weder gewillt noch in der Lage, Reformen durchzusetzen. Es gab keine funktionierende Armee oder Polizei, die gesamte bewaffnete Macht befand sich in den Händen der Arbeiter_innen und Soldaten. Es entstand ein Dekret zur Verteilung des Landbesitzes der Adeligen an die Bauern, aber dieses wurde nie umgesetzt.

Räterepublik

Am 2. März 1919 fand der erste gesamtungarische Rätekongress statt, die Kommunistische Partei war auf diesem Kongress in der Minderheit. Der Kongress wurde ohne Abstimmung über die Frage des Aufstandes beendet. Bis Mitte März übernahmen die Räte zwar die Kontrolle über die Verwaltung in vielen Städten, aber trotzdem hielt sich die Regierung noch an der Macht.

Am 20. März begannen französische Truppen eine Offensive in Richtung Budapest. Die Liberalen, die hofften, dass die französischen Truppen das Machtvakuum füllen würden, zogen sich aus der Regierung zurück und übergaben der Sozialdemokratie die alleinige Regierungsgewalt. Eine sozialdemokratische Alleinregierung, die sich gegen einen äußeren Feind verteidigen musste und gleichzeitig innenpolitisch von links und rechts attackiert wird, wäre von kurzer Dauer gewesen.

Am 21. März fuhren die führenden Vertreter der sozialdemokratischen Partei ins Zentralgefängnis zu einer Diskussion mit dem Zentralkomitee der KP um Béla Kun. Noch im Gefängnis wurde die Vereinigung der beiden Parteien und die Bildung einer Räterepublik beschlossen. Am selben Tag erklärte das Exekutivkomitee der Arbeiter und Soldatenräte seine Unterstützung für die Ausrufung der Räterepublik. Die Räterepublik entstand also nicht aus einer Revolution von unten, genauso wenig war es ein von der Sowjetunion gesteuert Putsch, sondern aus der verzweifelten Situation der Sozialdemokratie und der Hoffnung der KP, ohne Revolution von unten an die Macht zu kommen.

An der Macht

Bis auf das Volkskommissariat für Äußeres wurden alle wichtigen Posten von Sozialdemokraten besetzt. Kaum an der Macht führte die Räteregierung gigantische Reformen durch: Am 3. April wurde allen Frauen und Männern ab dem 18. Lebensjahr das freie und geheime Wahlrecht zugestanden, Priester, Adelige und Kapitalisten wurden richtigerweise von diesem Wahlrecht ausgeschlossen.


Die Herren der alten Ordnung sollten in der neuen nichts mehr zu sagen haben. Zwischen 6. und 8. April wurden dann in ganz Ungarn Rätewahlen organisiert. Aus diesen Wahlen entstand ein 150-köpfiges zentrales Exekutivkomitee, welches das oberste Machtorgan des neuen Staates wurde. Ein erster Schritt war die Kollektivierung aller Geldinstitute, in einem zweiten Schritt wurden Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten kollektiviert.

Scheitern der Bodenreform

Die Bolschewiki hatten in Russland nach der Machtübernahme das Land der Adeligen enteignet und an die Bauern verteilt. Dieser Schritt wurde von vielen Marxistinnen und Marxisten, u.a. von Rosa Luxemburg, als opportunistisch kritisiert. Im Sozialismus sollte der Boden kollektiv bewirtschaftet werden und nicht von einzelnen Bauernfamilie ohne größeren Plan. Die Bolschewiki hatten erkannt, dass es unmöglich ist, eine Revolution in einem Agrarstaat zu machen, ohne die Unterstützung der Bauern zu gewinnen. In Ungarn wurde der Boden nicht an die Bauern verteilt sondern kollektiviert – die Produktion wurde von oft verhassten staatlich bestellten Beamten geleitet. Das war ein Fehler, der zum Niedergang der Räterepublik beitragen sollte.

Nicht zu rechtfertigen ist, dass die ungarische Räteregierung oft die ehemaligen Gutsherren oder ihre Verwalter als neue Leiter der Produktion einsetzte. Die Bauern mussten unter denselben Leuten schuften, so konnte man die Landarbeiter niemals für die Sache begeistern. Dieses Ausbleiben des Bündnisses zwischen Arbeiterinnen und Landbevölkerung musste unweigerlich in die Niederlage der Räterepublik führen.

Lenins Kritik

Lenin feierte die Gründung der Räterepublik als „welthistorischen Umsturz“, trotzdem formulierte er eine vorsichtige Kritik an der Vereinigung der Kommunisten mit der Sozialdemokratie. Lenin erkannte, die Sozialdemokratie hatte der Räterepublik nicht aus Überzeugung sondern aus Ermangelung von Perspektiven zugestimmt. Er schlug den Kommunisten vor, eine Koalition einzugehen, bei gleichzeitiger Unabhängigkeit der beiden Parteien. So wäre die Kommunistische Partei in der Lage gewesen, die Sozialdemokratie von außen unter Druck zu setzen.

So wichtig diese Kritikpunkte an der Räterepublik auch sind, die Räterepublik ging nicht an inneren Widersprüchen zu Grunde, sondern sie wurde niedergeschossen. Im Juli verlor die ungarische Rote Armee Schlachten gegen französische und rumänische Truppen. Verschlimmert wurde die Situation durch ein Wirtschaftsembargo der Alliierten. Am 1. August 1919 beschlossen die sozialdemokratischen Parteiführer die Umwandlung der Räterepublik in eine Gewerkschaftsregierung. Hätte sich die Kommunistische Partei nicht mit der Sozialdemokratie vereinigt, wäre Widerstand gegen die Kapitulation vielleicht möglich gewesen.

Doch die KP war in der Einheitspartei aufgegangen und nicht handlungsfähig und musste sich in die Illegalität retten. Doch auch die sozialdemokratische Regierung war von kurzer Dauer. Am 6. August setzten die Alliierten den Industriellen Istvan Friedrich als neuen Diktator ein. Die Bürokraten, Polizisten und Bosse nahmen schreckliche Rache dafür, dass sie ein paar Monate lang nicht die Herren der Welt waren.

Wie nach anderen gescheiterten Revolutionen behauptete die Propaganda, eine kleine Gruppe von Verschwörern hätte die unschuldigen Massen verführt. Darum ist Antisemitismus eine der stärksten Waffen der Konservativen und Liberalen. An die 5.000 Menschen wurden vom konterrevolutionären Terror ermordet, ein großer Teil waren Jüdinnen und Juden.

Der Beitrag von David Reisinger erschien in der Linkswende

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